Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht. Группа авторов
Читать онлайн книгу.sich auf eine Weise in die Gesellschaft einzugliedern, die sie nicht mehr als Andersartige erkennbar sein lässt. Insbesondere sollen sie das reibungslose Funktionieren der diversen Funktionssysteme der Gesellschaft nicht stören. Dafür werden Bedingungen benannt, welche, ganz im Sinne einer vermeintlich kulturell homogenen Gesellschaft, von den neuen Bevölkerungsgruppen erfüllt werden und bei den nachfolgenden Generationen dazu führen sollen, dass diese Gruppen voll und ganz unauffällig werden. Gefordert wird hier also nicht Integration, sondern Assimilation: in Erscheinung und Verhalten der Aufnahmegesellschaft angepasst oder vielmehr untergeordnet. Dass dies nicht geschieht, wird oft als Renitenz interpretiert, gefolgt von der Forderung nach restriktiven Maßnahmen mit der Vorstellung, damit Assimilation erzwingen zu können. In Wahlkampfzeiten blühen bei diversen Parteien die abstrusesten Vorschläge zum Thema Integration von Migranten bzw. Flüchtlingen. Der Begriff Integration wird also aus verschiedenen Perspektiven oder politischen Haltungen heraus missinterpretiert und missbraucht. Angesichts dieser Tatsache wird von Seiten mancher Sozialforscher*innen und politischer Gruppen immer wieder die Forderung laut, den Begriff Integration aufzugeben (vgl. Treibel 2016: 42). Das ist verständlich, allerdings erfüllt bisher keiner der vorgeschlagenen alternativen Begriffe die Erwartungen, und zwar weder semantisch noch soziologisch (ebd.). Dazu gesellt sich ist die Frage, ob die Wissenschaft immer dann neue Begriffe entwickeln muss, wenn vorhandene politisch oder ideologisch missbraucht werden. Ich halte es hier mit Judith Butler, die sich dazu wie folgt äußert: „das veränderliche Leben des Begriffs bedeutet nicht, dass er nicht zu gebrauchen ist. Wenn ein Begriff fraglich ist, soll das etwa heißen, dass wir also nur diejenigen Begriffe verwenden können, die wir bereits beherrschen? Wenn man einen Begriff befragt, warum sieht es dann so aus, also wollte man seine Verwendung verbieten lassen?“ (zit. nach Scherr 2006: 169). Das gilt im Übrigen nicht nur für den Begriff Integration, sondern genauso für den Begriff Kultur.
Im soziologischen Sinne hat der Begriff Integration eine lange und wichtige Tradition, auch wenn er als Idee unter sehr unterschiedlichen Konzepten und Begriffen in der Literatur erscheint und verwendet wird, und als Arbeitsinstrument in der Wissenschaft weiterentwickelt werden sollte (Treibel 2016: 43). Als Gegenbegriffe kennen wir z. B. die Desintegration, aber auch Segmentation, Anomie, Exklusion oder Ausgrenzung, abweichendes Verhalten, Devianz, Dissoziation, Segregation, Fragmentierung usw. Diese Begriffe haben alle ihre Berechtigung, weil sie jeweils besondere Aspekte der Nicht-Integration beschreiben. Sie sind sehr nützlich für eine differenzierte Diskussion, aber besonders interessant ist, dass alle uns mitteilen, was mit einer nicht integrierten Gesellschaft geschieht, dass diese nämlich zerfällt. Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist die Voraussetzung für ihr Funktionieren. Und natürlich brauchen die einzelnen Teile der Gesellschaft, also die Gruppen und ihre Individuen, etwas Gemeinsames, damit die gesellschaftliche Integration gewährleistet wird. Um den Integrationsgrad einer sozialen Gruppe festzustellen, nennt Durkheim (1997) drei Dimensionen: die Zahl und die Intensität der Interaktionen zwischen den Individuen innerhalb der Gruppe, also eine eher zivile Dimension; das Teilen gemeinsamer Werte, in diesem Fall handelt es sich um eine moralische Dimension; und gemeinsame Ziele, was in etwa einer politischen Dimension entspricht. Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Theorie Durkheims muss noch erwähnt werden: Durch die Integration wird das Individuum nicht den gesellschaftlichen Zwängen unterworfen, sondern an sie gebunden.
Integration ist in der Tat zunächst nichts anderes als der Zusammenhalt von Teilen in einem systemischen Ganzen oder der Prozess der Eingliederung der einzelnen Individuen in eine Gruppe oder von einzelnen Gruppen in eine Gesellschaft oder von unterschiedlichen Individuen oder Gruppen in ein Ganzes. Integration ist nie starr und kann ganz unterschiedliche Ausprägungen zeigen. Dadurch, dass es sich immer um einen dynamischen Prozess handelt, ist es nicht möglich, von einem Integrationsprozess zu sagen, dass er definitiv ist, weder definitiv gescheitert noch definitiv gelungen. Man kann bestenfalls durch bestimmte Zustandsindikatoren Tendenzen feststellen, die mit bestimmten Erscheinungen verbunden sind. Indikatoren können uns anzeigen, ob gerade eine Integration stattfindet oder sich umgekehrt abschwächt. „Ausgrenzung und Integration sind Verlaufsmuster, die sich durch die Richtung ihrer Bewegung unterscheiden: an den Rand der Gesellschaft oder in ihre Mitte“ (Häußermann / Siebel 2004: 17). Diese Feststellung verleiht der Diskussion eine optimistische Note, die für die Praxis wichtig ist, denn wenn Integration ein nicht endender gesellschaftlicher Prozess ist, besteht die Hoffnung, steuernd einwirken und die notwendigen Schritte in die richtige Richtung machen zu können. Solche Schritte können auf unterschiedlichen Ebenen, mit unterschiedlichen Schwerpunkten und mit unterschiedlicher Gewichtung gegangen werden. Es kann sich ebenso um politische Entscheidungen mit erheblicher Tragweite handeln wie auch um beiläufige Begebenheiten, denn „Integration gelingt oder misslingt in jeder kleinen alltäglichen Handlung“ (ebd.).
Integrationsprozesse selbst können in mehrere Dimensionen differenziert werden, wie etwa von der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages vorgeschlagen (Heckmann / Tomei 1999). Dabei wird zwischen struktureller, kultureller, sozialer und identifikatorischer Integration unterschieden. Die strukturelle Dimension beschreibt die rechtliche und berufliche Lage eines Individuums, die kulturelle Integration betrifft kognitive Aspekte wie die Sprache, die soziale Integration widerspiegelt Qualität und Quantität der Kontakte und Beziehungen und schließlich ist bei einer gefühlsmäßigen Bindung an das Einwanderungsland von der identifikatorisch Integration die Rede (vgl. Treibel 2016: 39 ff.). Die letzte Dimension der Integration entwickelt sich häufig erst bei späteren Generationen der Einwanderer. Alle vier Dimensionen der Integration können sich bei derselben Person sehr unterschiedlich und vor allem unabhängig voneinander entwickeln, zum Beispiel waren Arbeitsmigranten in Deutschland Jahrzehnte lang systemisch perfekt integriert, ohne Deutsch zu beherrschen und ohne private Kontakte zur einheimischen Bevölkerung zu haben.
Der öffentliche Raum
Auf den ersten Blick ist der öffentliche Raum eine simple Sache: es gehören alle Verkehrs- und Grünflächen dazu, in der Regel auch die Gewässer im Besitz einer Gemeinde oder Körperschaft des öffentlichen Rechts, die von dieser bewirtschaftet werden und für alle Menschen frei zugänglich sind. An dieser Stelle hört die simple Sache auf, denn ein „öffentlicher Raum, als jederzeit für jedermann, ohne jede Einschränkung zugänglicher Raum, hat niemals in irgendeiner Stadt existiert“ (Siebel 2016: 77). In der Tat ist die Liste der Orte lang, die auf dem ersten Blick als frei zugänglich erscheinen, es letztlich aber nicht sind. Genannt seien beispielsweise Bahnhöfe oder Einkaufszentren, die vollständig in privater Hand sind, auch wenn sie sich als öffentlicher Raum inszenieren (Kuhn 2016: 220). Dazu kommen diverse Gated Communities, abgeschirmte Hofquartiere (ebd.: 221) und nicht zuletzt die „Angsträume“; z. B. sind „Parkanlagen, in denen Frauen fürchten müssen, vergewaltigt zu werden … keine öffentlichen Räume“ (Siebel 2016: 79). Schließlich und endlich existiert der öffentliche Raum in allen Kulturen der Welt und unterliegt gleichzeitig Regeln, wobei diese je nach Epoche, Kulturraum oder Regime unterschiedlich ausfallen können. Der amerikanische Kulturanthropologe Edward T. Hall (1966) beschreibt sie anekdoten- und detailreich in umfangreichen vergleichenden Studien zu diversen Kulturen. Unterschiedliche Elemente wie die Gestaltung des öffentlichen Raums, die Kommunikations- und Bewegungsformen in ihm, die Grenzen der Intimität, die sinnliche Wahrnehmung der Umwelt durch die Akteure, das Verhältnis der Geschlechter, der Generationen und Klassen zueinander u. v. m. spielen dabei wichtige Rollen. Die genannten Studien mögen in Zeiten der Globalisierung zum Teil obsolet erscheinen, nichtsdestotrotz kann jeder Tourist noch heute ohne große Anstrengungen und ohne wissenschaftlichen Blick die bedeutenden Differenzen zwischen einem Markt in Nordafrika und einem in Deutschland wahrnehmen und damit die Ergebnisse der vergleichenden Studien von Hall aus der subjektiven Erfahrung heraus bestätigen. Das ist eine wichtige Feststellung angesichts der zunehmenden kulturellen Vielfalt im öffentlichen Raum im Zuge von größeren Migrationsbewegungen und daraus entstehenden Unsicherheiten. Jeder Mensch bewegt und benimmt sich im öffentlichen Raum zunächst entsprechend seiner Sozialisation. Hierbei existieren zwischen unterschiedlichen Kulturen reale Differenzen. Wenn nun unterschiedliche Kulturen im öffentlichen Raum aufeinandertreffen, treffen zwangsläufig auch diese Differenzen aufeinander. Viele dieser Differenzen mögen Konstruktionen sein, sie werden trotzdem gelebt, „zweifellos spielt Ethnizität heutzutage eine Rolle – Menschen identifizieren sich als Russen, Polen oder Türken und werden