Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht. Группа авторов
Читать онлайн книгу.– dienen. Der Bewegung der Dezentrierung korrespondiert somit die Entwicklung unseres Einfühlungsvermögens (vgl. Stein 1917). Wir müssen, so scheint es, regelmäßig einüben, von uns abzusehen; wir müssen unser Vorstellungsvermögen beharrlich trainieren – wie einen Muskel, den wir im Fitnessstudio immer wieder mit neuen Reizen versorgen, um ihn sukzessive auf ein neues Niveau zu führen.
Indem ästhetische Zeugnisse – etwa: Romane, Kinofilme, Platten und Fernsehserien – unser Einfühlungsvermögen schulen, rücken sie uns aus dem Zentrum; sie können dergestalt als Gegengift zu unserem Narzissmus wirken und unsere Empathiefähigkeit trainieren. Und auf diese Weise können sie dazu beitragen, dass wir empfänglicher werden und dünnhäutiger für das Leid und das Unglück anderer. Dass die Ausbildung dieser Fähigkeit auch politisch dringend geboten ist, scheint mir außer Zweifel zu stehen. Nachdem Hunderttausende auf der Flucht vor Krieg und Gewalt, vor Armut und Hunger den Weg nach Deutschland gefunden haben, ist es dringender denn je, die politischen Ereignisse nicht nur aus der hegemonialen Perspektive zu betrachten (vgl. Messerschmidt 2016; Rieger-Ladich 2018).
José Palazón schießt ein Foto
Dass der Mensch mit der Fähigkeit zur Empathie ausgestattet ist, dass er von sich selbst abzusehen vermag, verweist auf eine Besonderheit der conditio humana. Wir besitzen keine Mitte; wir leben unser Leben nicht aus dem Mittelpunkt der Existenz heraus und sollten dies nicht als Makel betrachten. Helmuth Plessner hat, als einer der wichtigsten Vertreter der Philosophischen Anthropologie, daran immer wieder erinnert – und darauf verweisen, dass der Fähigkeit zur Empathie eine weitere Fähigkeit korrespondiert. In seinem Vortrag zum „Problem der Unmenschlichkeit“ (Plessner 1967/2015: 330) hält er hierzu fest: „Von alters her hat sich der Mensch als ein Zwischenwesen verstanden, halb Tier, halb Geist, eine Halbheit und Gebrochenheit, welche in eins die Quelle seiner Stärke und Schwäche ist.“ Der Mensch sei auf eigentümliche Weise exzentrisch positioniert; er kenne keine Mitte und könne sich auch aus diesem Grund die Position anderer zu eigen machen. Aber der Mensch ist nicht nur der Nähe und der Anteilnahme fähig, sondern auch der Distanznahme. Er ist zur Empathie fähig, aber eben auch zur Indifferenz.
Es ist die Abständigkeit des Menschen zu sich selbst, seine eigentümliche Gebrochenheit, die seine Ambiguität ausmacht. Allein der Mensch kann Empathie entwickeln; aber auch nur er kann die Welt objektivieren – und dabei von allen Gefühlen absehen. Und so steht diese Gebrochenheit, diese konstitutionelle Unbehaustheit, für Glanz und Elend des Menschen. Die Ausbildung von Kultur und Zivilisation ist eben auch daran geknüpft, dass er in seiner „natürlichen Umgebung“ nicht aufgeht; aber es ist eben auch diese Distanz, die ihn in die Lage versetzt, zu seinem Gegenüber ein instrumentelles und manipulierendes Verhältnis einzugehen. Der viel beschworenen Fähigkeit zur Empathie korrespondiert daher, so die Mahnung Plessners, die Fähigkeit zur Distanznahme.1 Die Rückseite der Anteilnahme ist mithin eine Haltung, die den Belangen anderer gegenüber indifferent ist (vgl. Breithaupt 2017).
Ich will dies an einem berühmt gewordenen Foto näher erläutern. Es wurde 2014 von dem Journalisten José Palazon aufgenommen (vgl. Kassam 2014). Zu sehen ist darauf der Golfclub der Stadt Melilla, der durch einen ca. 5 Meter hohen Zaun geschützt ist. Der Golfplatz wird von einigen Spielern genutzt. Es ist allerdings noch eine andere Personengruppe zu sehen: Auf dem Kamm des Zaunes sitzen Geflüchtete, die den Zaun zu überwinden suchen. Die Gemeinde Melilla ist eine spanische Exklave und liegt auf dem afrikanischen Kontinent. Sie grenzt an Marokko und befindet sich auf einer stark frequentierten Flüchtlingsroute. In den vergangenen Jahren versuchten Hunderte Geflüchteter, diesen Drahtverhau zu überwinden. Nur wenigen gelang es; und die meisten derer, die es schafften, den Zaun zu erklettern, wurden von der Guardia Civil dazu genötigt, ihn umgehend wieder zu verlassen. Diese berühmte Aufnahme illustriert daher wie ganz wenige sonst, was Plessner in seinem eindrücklichen Text zur Unmenschlichkeit zum Gegenstand gemacht. Das Foto zeigt in aller Schonungslosigkeit, wozu wir Menschen fähig sind.
Die Golfer, die hier zu sehen sind, gehen ihrem Hobby nach. Sie treiben Sport, gönnen sich etwas Bewegung; sie arbeiten womöglich auch an ihrem Handicap – und dies, während in unmittelbarer Nähe Menschen auf der Flucht sind. Menschen, die womöglich ihre Familienmitglieder zurückgelassen haben, die vor Krieg und Elend geflohen sind, die Schreckliches erlebt haben, die versuchen, einen Fuß auf den Boden des Golfplatzes zu setzen, weil dieser zu Spanien zählt. Es gibt also Menschen, das zeigt diese Aufnahme, die im Angesicht größter Not ihrem kostspieligen Hobby nachgehen, die im Anschluss vielleicht ein schattiges Plätzchen aufsuchen und einen kleinen Imbiss zu sich nehmen. Und dies: vis-à-vis zu jenen, die womöglich alles, was sie noch besitzen, am Leib tragen, die fürchten müssen, von der Guardia Civil festgenommen zu werden, die einen verzweifelten Blick auf das werfen, was sie (auf legalem Wege) vielleicht nie erreichen werden.
Wenn wir diese Aufnahme nun mit den Augen Plessners betrachten, so lautet eine schmerzhafte Lektion: Wir sollten die weißen Golfer nicht als „unmenschliche“, „grausame“ Vertreter ihrer Art betrachten; sie führen uns nur vor, wozu wir aufgrund unserer Konstitution in der Lage sind. Wir können Anteilnahme entwickeln, aber – wir müssen es nicht. Es gibt hier keine Automatismen. Wir sind mit dem Vermögen zum Perspektivenwechsel ausgestattet; wir können von unseren Interessen absehen; wir können der Versuchung des Egoism (Kant) widerstehen; aber wir können eben auch genau das Gegenteil tun. Wir können die Augen verschließen vor dem Leid anderer; wir können abstrahieren von den Nöten anderer (vgl. Sontag 2003). Wir können uns über eine Platzunebenheit ärgern – und dem Drama der Geflüchteten, das sich vor unseren Augen vollzieht, gegenüber unempfänglich bleiben. Wir Menschen können das. Und wir tun es, immer wieder. Wir sind geübt im Wechselspiel von Anteilnahme und Distanznahme. So leben wir unser Leben, unseren Alltag – und dies im Angesicht einer Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die im weltweiten Maßstab längst „monströse“ Ausmaße (Habermas 2011) angenommen hat.
Das Foto von Palazón lässt sich auch noch in einer anderen Weise interpretieren. Und dies im Rückgriff auf Arbeiten Judith Butlers (2005). Die Vulnerabilität kennzeichnet uns als Wesen, die körperlich-leiblich verfasst sind. Allerdings lässt sich zeigen, dass diese Verletzbarkeit auch eine politische Dimension besitzt. Sie ist nicht nur innerhalb der symbolischen Geschlechterordnung – zwischen Männern und Frauen, Schwulen und Lesben, zwischen Trans- und Intersexuellen – ungleich verteilt; sie ist auch im globalen Maßstab betrachtet höchst ungleich verteilt, was etwa an den Statistiken zur Kindersterblichkeit deutlich wird (vgl. Janssen 2018). Die Verletzbarkeit ist im globalen Süden ungleich stärker ausgeprägt als etwa in den wohlhabenden Staaten Westeuropas. Wir, die wir im globalen Norden ein überaus privilegiertes Leben leben, haben diese Verletzbarkeit lange Zeit (und einigermaßen diskret) in den globalen Süden exportiert (vgl. Lessenich 2016).
Damit hängt nun zusammen, dass auch die Trauer um die Opfer höchst ungleich ausfällt. Allen Reden von Solidarität und Verantwortung in Zeiten der Globalisierung zum Trotz, scheint es, dass wir mit unserer Anteilnahme zumeist sehr wählerisch sind. Es scheint, dass die Opfer, die es zu beklagen gilt – bei kriegerischen Auseinandersetzungen etwa –, unterschiedlich gewichtet werden. Insbesondere in den Zeiten des Krieges sollten wir uns daher nach Butler „die Frage stellen, wessen Leben als wertvoll gilt und welches betrauert werden kann und um wessen Leben nicht getrauert wird. Kriege“, so Butler weiter, „teilen Bevölkerungen in Betrauerbare und Nichtbetrauerbare.“ (Butler 2010: 43) Es gibt in der Folge jene, die als Opfer gelten, die einen Namen tragen und über die berichtet wird, und es gibt die ungezählten Namenlosen, über die wir fast nichts wissen.
Carolin Emcke macht Exklusion zum Gegenstand
Eine politische Bildung müsste genau dies zum Gegenstand machen: Sie müsste fragen, wer welche Geschichten zirkulieren lässt – etwa über Geflüchtete, die aus Syrien geflohen sind und den Weg nach Deutschland gefunden haben. Sie müsste die Frage nach den Narrativen, Semantiken und Rhetoriken aufwerfen: Welche Narrative werden hier bemüht? Welche Semantiken kommen zum Einsatz und welche rhetorischen Figuren? Welche Metaphern werden verwandt? Wessen Perspektiven werden eingenommen? (Und wessen nicht?) Welche Stimmen werden gehört? (Und welche nicht?) Welche Verallgemeinerungen werden gewählt? Welche