Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht. Группа авторов
Читать онлайн книгу.das Beispiel des Schicksals der Katholischen Arbeitertochter vom Lande. Dies war eine soziologische Kunstfigur der sechziger Jahre und galt als Inbegriff der Bildungsbenachteiligung. Sie war weiblich, weil Mädchen aufgrund der noch vorherrschenden Vorstellung des männlichen Ernährers als weniger in ihren Bildungsaspirationen zu unterstützen galten als Jungs. Dies wurde verstärkt durch den eher mit konservativen Wertvorstellungen assoziierten Katholizismus. Hinzu kam die soziale Herkunft in den unteren sozialen Schichten (Arbeiterkind). Diese galten und gelten noch immer, das ist konstant geblieben, als bildungsfern und wenig geeignet, Kinder, gleich welchen Geschlechts, auf höheren Bildungswegen zu unterstützen. Ländliche Regionen, im Unterschied zur Stadt, waren in den sechziger Jahren noch deutlich schlechter versorgt mit weiterführenden Schulen, eine Bildungsungerechtigkeit ergab sich also allein schon durch den Wohnort. Nun wäre die heutige Kunstfigur eher der muslimische Arbeiterjunge aus dem sozial benachteiligten Viertel der Großstadt. Daran sieht man, dass sich fast alle „Markierungen“ oder „Differenzlinien“ geändert haben, außer der sozialen Herkunft. Für Frank-Olaf Radtke und Mechtild Gomolla sind dies klare Indizien dafür, dass die Diskriminierungen nicht erfolgen, weil die Lehrerinnen und Lehrer xenophob oder rassistisch sind, sondern nur aufgrund der Handlungsroutinen der Organisation Schule – schließlich sind die Mädchen nicht auf einmal klüger geworden, sie haben keine großräumigen Fördermaßnahmen erfahren; vielmehr hat nur die Schule ihre Routine verändert und andere Entscheidungen getroffen. Mit der Bildungsexpansion einher ging die Suche nach bisher unausgeschöpften „Bildungsreserven“ – und die fand man unter anderem in den Mädchen. Im letzten Teil des Beitrags werden diese unterschiedlichen Zugänge nochmals kommentiert. Allerdings sollen zunächst Beispiele aus ethnographischer Perspektive angeführt werden, welche den Gedanken des Titels des Beitrags aufnehmen: Othering „Other People’s Children“.
Othering „Other People’s Children“
„Other People’s Children“ lautete der Titel einer ethnographischen Studie von Lisa Delpit aus dem Jahre 1995. Im Untertitel: „Cultural Conflict in the Classroom“. In einer Rezension ihres Buches in der Harvard Educational Review wird vor allem hervorgehoben, dass sich Lisa Delpit einer wichtigen, aber oft vermiedenen Frage stelle, nämlich wie die gesellschaftlichen Machtungleichgewichte Resonanz im schulischen Unterricht fänden. Durch aussagestarke Gespräche, heißt es dort weiter, die Delpit mit Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern sowie mit Eltern unterschiedlichen sozialer und kultureller Hintergründe geführt habe, sei es ihr gelungen zu zeigen, wie ‚aufgeladen‘ die alltäglichen Interaktionen sind mit negativen Zuschreibungen und spekulativen Annahmen hinsichtlich der Fähigkeiten, der Motivationen und Interessen, aber auch der persönlichen Integrität von sozial benachteiligten und farbigen Kindern.
In der Tat zeugen viele der von Delpit beschrieben Szenen von den Alltagstheorien, die in der Kreuzung von medialer Darstellung, Politik und Pädagogik entstehen und sich oft unreflektiert verbreiten. Die Vignetten, die in verdichteter Form die Missverständnisse und unbegründeten Attributionen schildern, die täglich in den Klassenzimmern zu beobachten sind, sehen etwa so aus: Kann ein Kind mit dunkler Hautfarbe, dessen Familie offensichtlich Empfängerin wohlfahrtsstaatlicher Zuwendungen ist, die Schere bei einer Bastelarbeit nicht so halten, wie es die Entwicklung der Feinmotorik nach dem Lehrbuch vorsieht, führt das schnell zu Spekulationen, die aber nicht als solche zu erkennen gegeben, sondern als sicheres Faktenwissen präsentiert werden. So wird behauptet, die nicht entwickelte Fähigkeit sei auf schlechte Familienverhältnisse zurückzuführen, auf unübersichtliche Verwandtschaftsbeziehungen und auf mangelnde Förderung der kindlichen Entwicklung. Ganz ähnlich eine andere Szene: ein kleiner ‚schwarzer‘ Junge (ca. fünf Jahre alt) gibt einem kleinen ‚weißen‘ Mädchen einen enthusiastischen Bear Hug, eine große mit Verve ausgeführte Umarmung. Diese Szene bietet ebenfalls Anlass zu Spekulationen hinsichtlich des unterstellten promiskuösen Lebens der Mutter, welches, so vermuten die Lehrerinnen / Erzieherinnen, dazu führt, dass der Junge schon sehr früh und für sein Alter bei weitem zu früh unangemessene Sexphantasien ausleben wolle. Solche Zurechnungen und Stereotype sind auch im deutschen pädagogischen Diskurs anzutreffen. Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert habe man von sittlicher Verwahrlosung gesprochen, wobei sich die Zuschreibungen um andere Differenzmerkmale angelagert hätten. Nicht Hautfarbe, sondern Armut sei das Distinktionsmerkmal gewesen, aber die Logik der ‚Rettungsanstalten‘ war diesen bürgerlich-protestantischen Askriptionen nicht unähnlich. Wobei sich die „Rettung“ eher auf Jugendliche bezog und nicht auf die unterstellte sittliche Verwahrlosung Fünfjähriger.
Es ist von diesen wenigen Beispielen her betrachtet klar, dass es sich um Othering-Prozesse handelt, also um solche Zuschreibungen, die Kinder, die nicht den gesellschaftlichen Normal- und Normalitätserwartungen entsprechen, zu ‚anderen‘ machen. Dieses Othering kann sich an sehr viele Differenzmerkmale anlagern: an Hautfarbe, soziale Herkunft, Geschlecht. Diese Zuschreibungen lassen sich mit schulisch relevanten Kontexten in Beziehung setzen: mit erwarteter familialer Unterstützungskultur zur Bewältigung der schulischen Anforderungen, mit Bildungsorientierung, mit allen Praktiken, die schulischerseits herangezogen werden können, um Bildungserfolg und Bildungsteilhabe zu plausibilisieren. Folglich ist eines der wesentlichen Themen, das zum Lackmustest für Unterstützungswilligkeit avanciert, die Frage nach der Integration. Die Migrierten und Geflüchteten sollen möglichst schnell und umfassend mit unserer Kultur, oft als christlich abendländisch bezeichnet, vertraut gemacht werden und sich, das ist der meist unausgesprochene, aber doch deutlich unterlegte Wunsch, mit unseren Werten und Normen identifizieren, um damit, so ließe sich der Gedanke weiterführen, Othering-Prozesse zu vermeiden oder zumindest zu mildern. Dass die Wertedebatte selbst eine problematische Geschichte hat, dass die Frage, auf welche „Werte“ wer antwortet, letztlich der Kontingenz geschuldet ist, mit der sich Gesellschaften, die auf transzendentale Verankerung, auf ihre Begründung in einer wie auch immer gearteten jenseitigen Verortung verzichten, herumschlagen müssen, bleibt dabei oft ausgeblendet. Werte sind mitnichten unverhandelbar und dauerhaft festgeschrieben: Es handelt sich vielmehr um Konventionen, die permanent hinterfragt und neu verhandelt werden müssen.
Geflüchtete Kinder und Jugendliche und ihre Rolle als Schülerinnen und Schüler
„Flucht“ und „Vertreibung“ lassen sich als Sonderfälle von Migration beschreiben, man kann aber auch umgekehrt sagen, dass Flucht und Vertreibung nochmals auf die Problematik verweisen, in vereinheitlichendem Gestus über Migration zu reden. Kinder und Jugendliche mit so genanntem Fluchthintergrund fordern Schule, aber auch die Pädagogik als Wissenschaft sichtbarer als andere Gruppen an zwei Fronten heraus: Die eine ist ihre oft unglaubliche Leistungsbereitschaft und ihr Wille und ihre Einsatzbereitschaft, es zu schaffen. Und tatsächlich schaffen es viele auch, erstaunlich schnell, allen Belastungen zum Trotz. Es überrascht nicht, dass dies in den meisten Fällen die Kinder sind, die aus bildungsnahen Familien kommen. Auch wenn die Familie nicht direkt unterstützen kann, so vermittelt sie doch die Haltung und verfügt über kulturelles Kapital. Auch wenn die Bildungsabschlüsse der Erziehungsberechtigten vielleicht nicht immer anerkannt werden, ist die Bedeutung des inkorporierten kulturellen Kapitals nicht zu unterschätzen. Im Lichte der oben genannten Theorien zur kulturellen Reproduktion und institutionellen Diskriminierung lässt sich erklären, warum dies so ist. Diese Kinder und Jugendliche „passen“, sie sind bereit und fähig Leistungen zu erbringen, verfügen über eine hohe Motivation und Bildungsaspirationen, sie sind Hoffnungsträger für die Beseitigung des Fachkräftemangels, einige von ihnen werden Teil der wissenschaftlichen Elite von morgen sein. Diese Kinder bestätigen das kollektive soziale Image, das in der Schule transportiert wird, und sind weniger von Othering-Prozessen betroffen. Diese Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung irritieren das System nicht; in sie zu investieren, verspricht hohe „rates of return“. Auch für die Lehrkräfte sind diese Kinder und Jugendliche nur sehr bedingt „other people’s children“; es ist nicht schwer, aus ihnen gleichberechtigte „Landeskinder“ zu machen, wie es unser föderales System vorsieht. Mit Hannah Arendt gesprochen, sind diese Kinder gesellschaftlich gewollt. Gleichzeitig stehen sie nicht für das Menschsein an sich, sondern für das differenzierte Menschsein: nicht Vulnerabilität, sondern Selbstvertrauen und der Glaube an die Selbstwirksamkeit zeichnen sie aus. Hinzu kommt, dass sie, im Unterschied zu den