Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht. Группа авторов

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Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht - Группа авторов


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der (Selbst)Ab- und Ausgrenzung belastet sind, ihnen wird keine Geschichte zugeschrieben, sie beginnen vielmehr gleichsam „tabula rasa“. Die Flucht hat eine Zäsur in ihren Lebensweg gesetzt, aber das gibt ihnen gleichzeitig die Möglichkeit eines neuen Anfangs, macht sie zu Pionieren, die sich den Lebensweg nun selbst fortschreiben müssen. Selbstverständlich werden hier viele Projektionen deutlich, aber es sind zumeist positive, die sich um den schulischen Erfolg unter erschwerten Bedingungen anlagern.

      Gelingt es hingegen nicht, relativ rasch an das Leistungsniveau der Regelklassen anzuschließen, sind Kinder und Jugendliche traumatisiert, sind ihre Familien so belastet, dass sie sich nicht einlassen können auf den schulischen Alltag in der neuen Umgebung, tut sich das Schulsystem deutlich schwerer mit den Geflüchteten. Wenn die Kinder und Jugendliche vielleicht weniger Eigeninitiative und Motivation zeigen, wenn sie mehr Ressourcen fordern als die Schulen bereit oder fähig sind zu geben, hat die Schule wesentlicher seltener Konzepte zur Verfügung, um die Kinder und Jugendlichen anders als primär in kognitiver Hinsicht anzusprechen. Die Integrationsvorbehalte seitens der Aufnahmegesellschaft sind größer, die Skepsis, ob diese Kinder und Jugendliche einen produktiven Beitrag leisten werden, ist höher usw. In gewisser Hinsicht wiederholt sich hier, was aus dem Bildungsteilhabestudien nur zu bekannt ist: Nicht nur Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen und sozial benachteiligten Herkunftsfamilien tun sich schwer mit der Schule, die Schule tut sich auch schwer mit ihnen. Dies sind die Kinder, deren Potenziale oft erst gar nicht erkannt werden, weil man es ihnen doch nicht zutraut. Wenn diese grundsätzliche Wahrnehmung dann noch auf eine rigide Einstellung trifft, die Begabung als erblich betrachtet und folglich Misserfolg quasi genetisch zurechnet, wird das Scheitern schnell zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Hinzu kommt ein Drittes: so unterschiedlich beide Gruppen sind, sie verweisen durch die Tatsache der Flucht- und Vertreibungserfahrung auf das ungelöste Problem der Menschenrechte und der Menschenrechtserziehung. Denn das Gewolltsein der einen und das potentielle Nichtgewünschtsein der anderen bezieht sich auf die Dimension der antizipierten bürgerlichen Teilhabe, nicht auf das rein Menschliche. Dies zu denken, ist nach wie vor ein Problem. So holzschnittartig diese Darstellung auch ist, so kann sie illustrieren, dass es nicht die Frage der Flucht an sich ist, die über die schulische Integration entscheidet, sondern das Zusammenkommen oder Auseinanderdriften von Vorstellungen, Erwartungen, Bereitschaften sowohl seitens der geflüchteten Kinder und Jugendlichen und ihren Familien als auch des Schulsystems und seines Personals. In anderen Worten: Am Ende des Tages wird in diesen nervösen Zeiten viel daran entschieden werden, wie es den jungen Zugewanderten gelingt, zu ihrer Rolle als Schülerinnen und Schüler zu finden bzw. wie sie darin unterstützt werden. Gelingt ihnen dies nicht oder werden sie darin nicht unterstützt, dann liegt es nahe, dass Othering-Prozesse aus Kindern und Jugendlichen „other people’s children“ machen.

      Für eine verstärkte Verständigung von Wissenschaft und Praxis

      Dieser abschließende Teil möchte in einem kurzen Ausblick für die notwendigen Gespräche zwischen Praxis und Wissenschaft werben – in der Frage des schulischen Umgangs mit Flucht und Vertreibung, aber auch darüber hinaus. Zum einen kann die Wissenschaft darüber aufklären, wie Sprache Wahrnehmungen präformiert. So gibt es einen fest etablierten Diskurs, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund eher zur Gruppe der „Risikoschüler“ zählen, und ein Teil der geflüchteten Kinder und Jugendlichen wird schnell unter diese Gruppe subsumiert. Zum anderen kann die Praxis aber auch korrigierend einwenden, dass es nicht unwichtig ist zu bestimmen, mit welchen Phänomenen man es zu tun hat und in welcher Beziehung diese stehen. Dieser Frage sollte sich die Wissenschaft stellen, sie epistemologisch und ontologisch ernst nehmen und nicht nur auf die Bedeutung von Redeweisen und Semantiken verweisen. Jenseits dieses grundsätzlichen Dialogs zwischen Erziehungswissenschaft und schulischer Praxis offenbart gerade der Umgang mit Geflüchteten noch ein ganz elementares Problem und aktualisiert die alte Frage nach dem Verhältnis von Menschenbildung und Bürgerbildung. Eine globale Pädagogik müsste aber genau diese Frage stellen. Darum ist es unbedingt notwendig, die Zwänge, aber auch die Visionen von Schule zu bedenken und dabei die alte vernachlässigte Frage nach den Menschenrechten wieder einzubeziehen – und zwar nicht in Form von Menschenrechtserziehung, sondern als Erziehung zum Menschen. Hierfür ist es notwendig, die unterschiedlichen Traditionen, Zugänge, aber auch Sackgassen der Menschenrechtsdiskussion aufzuarbeiten und kritisch daran anzuschließen. Ein guterAusgangspunkt sind die Thesen von Hannah Arendt, gerade weil ihre Argumentation provokativ und zugespitzt ist und weil sie überzeugend gezeigt hat, dass historisch zu den tradierten Fundierungen im Naturrecht oder einem Glauben an das Göttliche für moderne Gesellschaften kein Weg zurückführt. Der schulische Umgang mit den Menschenrechten hat aber entscheidende Folgen, denn nach Arendt sind die Menschenrechte vor allem eine Frage der Praxis und nicht der Theorie. Wie wir zusammenleben, wie wir einander behandeln und einander begegnen, ist von elementarer Bedeutung und in Zeiten globaler Verstrickungen und globalen „Aufeinanderangewiesenseins“ entscheidet sich viel daran, wie wir mit geflüchteten jungen Menschen in der Schule umgehen.

      Literatur

      Arendt, Hannah (2001). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München: Pieper Verlag.

      Boli, John / F. O. Ramirez / J. W. Meyer (1985). ‚Explaining the Origins and Expansion of Mass Education‘. Comparative Education Review, 29(2), 1985, 145–170.

      Delpit, Lisa (2006 [1995]). Other People’s Children: Cultural Conflict in the Classroom. New York: W.W. Norton Co.

      Fend, Helmut (2006). Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: Springer VS.

      Gomolla, Mechtild / Frank-Olaf Radtke (2009). Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden: VS.

      INSM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) (2016) . Bildungsmonitor 2016: Ein Blick auf die Bildungsintegration von Flüchtlingen. Sonderkapitel: maßnahmen zur Bildungsintegration von Flüchtlingen. Köln: Institut der deutschen Wirtschaft Köln. URL: www.insm.de/fileadmin/insm-dms/text/publikationen/studien/Bildungsmonitor-2016-Sonderkapitel-Ein-Blick-auf-die-Bildungsintegration-von-Fluechtlingen.pdf (zuletzt aufgerufen am 30. Juni 2019).

      Krüger-Potratz, Marianne (2005). Interkulturelle Bildung. Eine Einführung (Lernen für Europa, Bd. 19). Münster: Waxmann.

      Mecheril, Paul (2002). ‚Natio-kulturelle Mitgliedschaft – ein Begriff und die Methode seiner Generierung‘. Tertium comparationis 8(2), 104-115.

      Meyer, John W. / John Boli / George Thomas /F. O. Ramirez (1997). ‚World Society and the Nation‐State‘. American Journal of Sociology, 103(1), 144–181.

      Ramirez, Francisco O. / John Boli (1987). ‚The Political Construction of Mass Schooling: European Origins and Worldwide Institutionalization‘. Sociology of Education, 60(1), 2–17.

      Rawls, John (2000). Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Sloterdijik, Peter (2004). Sphären. Drei Bände. Blasen. Globen. Schäume. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

      Unsere (Denk-)Gewohnheiten befragen: Politische Bildung neu buchstabieren1

      Markus Rieger-Ladich

      Immanuel Kant steht vor dem Giftschrank

      Auch wenn Immanuel Kant heute seinen Ruhm insbesondere den drei großen Kritiken verdankt, beruhte seine Popularität in Königsberg doch kaum weniger auf zwei Vorlesungen, die er alternierend anbot – er las regelmäßig Geographie und Anthropologie sowie Pädagogik. Seine Vorlesung zur Anthropologie, die er erstmals 1772/73 hielt, trug den heute etwas kryptisch klingenden Titel „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. Das erste Buch dieser Vorlesung behandelt das Erkenntnisvermögen und erschließt sich sehr viel leichter


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