Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht. Группа авторов
Читать онлайн книгу.sind, nimmt die Ich-Entwicklung jene Form an, die auch den Ethiker Kant überzeugt.
Slavoj Žižek sucht radikale Erfahrungen
Ich versuche im Folgenden zu zeigen, dass sich diese eigentümliche Doppelbewegung begrifflich auch als Bildung fassen lässt. Ich lese mithin Kant so, dass er zwei gegenläufige Bewegungen identifiziert und diese aufeinander bezieht: Er kennt eine Bewegung der Zentrierung, die zu einem stabilen, identifizierbaren Ich führt, das über klare Grenzen verfügt. Dieses Ich prägt ein positives Selbstverhältnis aus und wähnt sich als Mittelpunkt der Welt. Weil es sich dabei um eine radikale Täuschung handelt, um ein veritables Missverständnis, um eine Selbstverkennung, darf die Ichwerdung in diesem Stadium nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Das Ich muss daher den Egoism wenn nicht überschreiten, so doch in sich eine gegenläufige Instanz aufbauen. Eben dieses Gegengewicht zum Egoism ist der Pluralism. Der Bewegung der Zentrierung korrespondiert daher bei Kant eine Bewegung der Dezentrierung, über die das Ich lernt, sein irriges Selbstverhältnis zu überwinden.
Die These, die ich nun zu plausibilisieren suche, lautet: Genau jenes komplizierte Zusammenspiel zweier gegenläufiger Bewegungen ist geeignet, der Diskussion um den Bildungsbegriff wichtige Impulse zu verleihen (vgl. Tenorth 1997; Dörpinghaus 2016; Rieger-Ladich 2019). Und nicht nur dies: Sie kann nicht nur die Debatte um den Bildungsbegriff beleben, sondern auch neue Perspektiven für die politische Bildung eröffnen. Kants Rede von Egoism und Pluralism kann als eine Möglichkeit interpretiert werden, die Politische Bildung neu zu buchstabieren.1
In der Vergangenheit hat die erste Bewegung – jene der Ich-Ausbildung, der Zentrierung – ungleich mehr Aufmerksamkeit erfahren. Wir haben zunächst, das hatte der Psychoanalytiker Jacques Lacan (1991) in seinem berühmten Vortrag über das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion ausgeführt, kein ganzes, vollständiges Bild von uns. Dies wird von uns als Mangel erlebt – und so imaginieren wir jene Ganzheit, die wir schmerzlich vermissen. Wir prägen also ein halbwegs stabiles Selbstverhältnis aus und blenden dabei aus, dass wir unsere Autonomie und Ich-Stärke nur imaginieren, dass wir uns selbst fortwährend betrügen. Aber es ist ein Selbstbetrug, der uns immerhin (einigermaßen) handlungsfähig werden lässt (vgl. Schäfer 1996; Meyer-Drawe 2000).
Allerdings führt dies zu einer Limitierung der Bildungstheorie. Nicht weniger wichtig als die Bewegung der Zentrierung ist daher jene der Dezentrierung. Diese ist freilich bislang kaum zum Gegenstand der Bildungstheorie geworden. Wir müssen es eben auch lernen, von uns zu abstrahieren; wir müssen uns von der verführerischen Vorstellung lösen, im Zentrum des Geschehens zu stehen, den Mittelpunkt der Welt zu bilden.2 Diese Vorstellung schmeichelt zwar unserem Narzissmus und bedient unsere Neigung zum Selbstbetrug – und doch sollten wir nicht stehenbleiben, wenn wir von der Ich-Werdung in einem anspruchsvollen Sinne sprechen und die politische Dimension von Bildungsprozessen nicht aus den Augen verlieren wollen (vgl. Bünger / Trautmann 2012).
Damit rückt die Erfahrung von Differenz ins Zentrum der Reflexion. Wenn wir den Narzissmus überwinden wollen, den kantschen Egoism, die Liebe zum eigenen Selbst, dann müssen wir uns für jene Kontexte interessieren, in denen das möglich wird. Dabei spricht vieles dafür, sich von einem Denken zu verabschieden, das auf die Logik der Akkumulation vertraut. Wir sollten also nicht länger damit rechnen, dass wir einfach nur unsere Erfahrungen sukzessive erweitern, dass wir uns mit der Pluralität der Welten mehr und mehr vertraut machen (vgl. Koller 2012). Nicht zuletzt Theoretiker*innen, die sich intensiv mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt haben, sprechen davon, dass die Erfahrung von Differenz keine ist, die wir uns suchen und gezielt herbeiführen können. Die Erfahrung von Differenz wird stattdessen als ein Widerfahrnis beschrieben. Die Erfahrung von Alterität stößt uns zu; sie erschüttert und verstört uns. Sie konfrontiert uns mit Erfahrungen, die wir nicht kontrollieren können, die uns – metaphorisch gesprochen – den Boden unter den Füßen wegziehen (vgl. Buck 1984).
Es ist dies nun genau jener Typ von Erfahrung, der im Zentrum eines Essays von Slavoj Žižek (2016) steht, der vor einigen Jahren unter dem Titel Wir sind alle sonderbare Irre in der ZEIT erschien. Žižek kommt hier auf einen Typ von Erfahrung zu sprechen, den man als ein Gegenmittel zu unserem tief verwurzelten Narzissmus interpretieren kann. Er schreibt:
„Wir ‚sind‘ unsere Lebensform, sie ist unsere zweite Natur, die deshalb auch nicht direkt durch ‚Bildung‘ zu verändern ist. Dafür ist etwas viel Radikaleres vonnöten, eine Art Brechtscher ‚Verfremdung‘, eine tiefe existentielle Erfahrung, durch die uns schlagartig aufgeht, wie albern sinnlos und willkürlich unsere Sitten und Rituale sind – dass nichts natürlich ist daran, wie wir uns umarmen und küssen, wie wir uns waschen, wie wir unsere Mahlzeiten einnehmen“ (Žižek 2016: 35).
Wir müssen also zu diesem Zweck Kontingenzerfahrungen machen. Symbolische Ordnungen müssen von uns als symbolische Ordnung erlebt werden – erst dann büßen sie ihre Macht ein, unsere Lebensform zu stabilisieren und uns gegen unbequeme Anfragen zu immunisieren (vgl. Rieger-Ladich 2017a).
Bei Žižek heißt es weiter:
„Das Paradox liegt aber darin, dass wir erst diesen Nullpunkt der ‚Entnaturalisierung‘ durchschreiten müssen, wenn wir uns auf den langen und schwierigen Prozess der allgemeinen Solidarität einlassen wollen […]. Wenn wir eine allgemeine Solidarität wollen, müssen wir erst in uns selbst allgemein werden und uns in ein allgemeines Verhältnis zu uns selbst setzen, indem wir Abstand zu unserer eigenen Lebenswelt gewinnen. Dazu bedarf es harter und schmerzlicher Arbeit, nicht nur des sentimentalen Nachsinnens über Migranten als einer neuen Form von Wanderarbeitern, von ‚nomadischem Proletariat‘“ (Žižek 2016: 35; Herv. durch Markus Rieger-Ladich).
Žižek macht hier deutlich, dass es keine Kleinigkeit ist, sich von der eigenen Lebensform zu lösen. Unsere Lebensform bleibt uns nicht äußerlich; sie wird von uns verkörpert, sie ist identitätsstiftend (vgl. Spranger 1966). Daher sollten wir Erfahrungen von Differenz eben nicht als bloße Erweiterung unserer Erfahrungen begreifen. Die Voraussetzung dafür, den eigenen Narzissmus tatsächlich hinter sich zu lassen und eine universalistische, „allgemeine Solidarität“ zu entwickeln, besteht also darin, das Vertraute möglichst weit hinter sich zu lassen und sich gleichsam von sich selbst loszureißen. Diesen Abstand zu sich zu gewinnen, ist nach Žižek weder eine Spielerei noch ein Vergnügen; es ist vielmehr „harte und schmerzliche Arbeit“. Wir müssen das, was uns bekannt (und wichtig) ist, gleichsam „einklammern“; wir müssen uns von ihm zu lösen suchen.
Dies ist nun durchaus nicht so außerordentlich, wie es zunächst vielleicht klingen mag. Jede und jeder von uns kennt diese Erfahrung, von der Žižek spricht. So ist die Erfahrung der Dezentrierung auch nicht das ganz Andere, das sich ereignishaft vollzieht. Es sind nicht zuletzt ästhetische Erfahrungen, die uns dazu verführen (können), uns von dem liebgewonnen Selbstverhältnis zu lösen. Ästhetische Erfahrungen konfrontieren uns mit Alterität, sie lassen uns Differenz schmecken; sie vermögen es, eine Drift auszulösen, die uns aus dem Zentrum rückt – und dies, indem sie uns mit anderen sozialen Milieus, mit anderen Grammatiken, mit anderen Erfahrungsräumen vertraut machen (vgl. Rieger-Ladich 2014). Ästhetische Zeugnisse verführen uns dazu, von unserem Ich abzusehen, das Vertraute hinter uns zu lassen – und uns mit anderen Biographien und Lebensläufen, mit anderen Liebesbeziehungen und Formen des Begehrens, mit anderen Schicksalen und Tragödien vertraut zu machen. Wir sind daher dringend auf ästhetische Zeugnisse – auf Romane und Comics, auf das Theater und die Oper, auf Kinofilme und TV-Serien – angewiesen, wenn wir das Eigene als das Eigene begreifen wollen, wenn wir das ernsthaft befragen wollen, was uns vertraut ist (und richtig erscheint).
Wenn wir also jenen Pluralism in uns ausbilden wollen, von dem Kant spricht, wenn wir jene allgemeine Solidarität entwickeln wollen, von der Žižek spricht, dann besteht eine Möglichkeit darin, sich ganz gezielt ästhetischen Zeugnissen zuzuwenden. Sie betreiben jene Befremdung des Eigenen, auf die wir dringend angewiesen sind. Romane, Filme und TV-Serien sind Agenten der Alterität – und als solche trainieren sie unsere Vorstellungskraft (vgl. Gabriel 2013; Rieger-Ladich 2017b). Mit der Inanspruchnahme unserer Vorstellungskraft üben sie zugleich unsere Fähigkeit des