Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht. Группа авторов

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Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht - Группа авторов


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in der ersten Person Singular zu sprechen. Der Text beginnt wie folgt:

      „Es ist aber merkwürdig: daß das Kind, was schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät (vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt, durch Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Person sprach (Karl will essen, gehen u.s.w.), und daß ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu sein scheint, wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen; von welchem Tage an es niemals mehr in jene Sprechart zurückkehrt. – Vorher fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst“ (Kant 1799/1983: 37).

      Kant konstatiert hier also eine „Merkwürdigkeit“: Als erklärungsbedürftig gilt ihm das Auseinanderklaffen von Sprachentwicklung und Selbstbewusstsein; er stellt eine gewisse Verzögerung fest: Obwohl das Kind viele seiner Bedürfnisse bereits sprachlich artikulieren könne, vollziehe sich die Entwicklung seines Selbstbewusstseins doch eigentümlich retardiert. Sie hält nicht ganz Schritt mit der sprachlichen Entwicklung. Karl oder Paula können zwar ihre Anliegen formulieren, ihre Wünsche zum Ausdruck bringen; sie können auch Dinge bewerten und kommentieren, aber zunächst eben nur, indem sie von sich in der dritten Person sprechen. Das klingt, als existiere hier ein gewisser Abstand zur eigenen Person. Wenn Paula sagt, dass Paula nun auch mit der Carrera-Bahn spielen wolle (und Karl endlich die Finger davon lassen solle), wissen zwar alle Beteiligten, wovon sie spricht, und verstehen ihr Anliegen, aber grammatikalisch ist es zweifellos falsch.

      Im Paragraph 2 hält Kant das besondere Ereignis fest, das im Prozess der Individuierung der Wechsel von der 3. zur 1. Person Singular darstellt: „Von dem Tage an, da der Mensch anfängt durch Ich zu sprechen, bringt er sein geliebtes Selbst, wo er nur darf, zum Vorschein […]“ (Kant 1799/1983: 38). Hier wird nun nicht nur der Grammatik Genüge getan, hier kommt auch – so Kant – noch etwas anderes zum Ausdruck. Wir erhalten auf diese Weise Einsicht in den Menschen und in das, was ihn von anderen Wesen unterscheidet: Greift der Mensch auf die 1. Person Singular zurück, zeigt sich darin eben auch ein besonderes Selbstverhältnis. Diese Rede vom Ich ist nicht nur grammatikalisch korrekt, sie wirft auch ein Licht darauf, welcher Art unser Selbstverhältnis ist: Das „geliebte Selbst“ wird nun zum „Vorschein“ gebracht, wann immer sich dazu die Gelegenheit bietet. Das Selbstverhältnis des Menschen ist also fraglos affektiv besetzt. Wir Menschen, so lässt sich Kant interpretieren, stehen unserem Selbst nicht indifferent gegenüber; wir lieben es. Und sind nicht wenig stolz darauf; daher zeigen wir es – bei jeder passenden (und auch bei vielen unpassenden) Gelegenheit(en).

      Bevor ich mich erneut Kant zuwende, möchte ich zunächst daran erinnern, dass die Ontogenese eine riskante Angelegenheit ist. Die Herausbildung eines belastbaren Selbstverhältnisses, das Operieren mit stabilen Identitäten und die sichere Unterscheidung von 1. und 3. Person Singular sind beileibe keine Trivialitäten. Sie müssen vielmehr als überaus störanfällige Prozesse gelten. So ist der Weg vom Neugeborenen zu einem Kleinkind gefährlich und kennt keinerlei Garantieren, denn am Anfang der Ich-Werdung steht das Du. Das Gegenüber, das sich uns zuwendet, wird auf diese Weise zum zweiten Geburtshelfer. So hat auch der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma (2008) in einer erhellenden Freud-Lektüre an das Ausgeliefertsein des Neugeborenen erinnert:

      „Die Welt ist nichts, was mich automatisch versorgt, noch bevor ich Schmerzen leide, sondern zuerst leide ich, schreie, und dann habe ich vielleicht Glück und werde wieder satt. Glück muss man auch haben, denn das langsam zum Ich werdende Menschenwesen kann für sich nichts tun. Es ist ausgeliefert. Dieses Gefühl begleitet die Ich-Werdung und bleibt als abrufbares Befindlichkeitspotential vorhanden“ (Reemtsma 2008: 105; Herv. durch Markus Rieger-Ladich).

      Dies ist präzise formuliert und ruft durchaus unangenehme Tatsachen in Erinnerung. Das Neugeborene ist auf elementare Weise verletzbar; es ist der Welt ausgeliefert. Es betritt als sog. „Mängelwesen“ (Gehlen) die Bühne der Welt und ist in kaum zu überbietender Weise darauf angewiesen, dass ein anderer – ein Du – sich seiner annimmt. Das Ich, auf das wir nach Kant doch gemeinhin so stolz sind, verdankt sich eben nicht unserer eigenen Anstrengung. Weder das Ich noch das Selbstverhältnis können daher als Trophäe gelten, als Ergebnis intensiver Bemühungen, vielmehr verdankt sich die Ich-Werdung der Zuwendung anderer – und eben nicht eigenen Anstrengungen (vgl. Arendt 1981; Meyer-Drawe 2000).

      Auf diese Facette der conditio humana hat auch die politische Philosophin Judith Butler hingewiesen. Sie erinnert in ihrem Buch Gefährdetes Leben (2005) an unsere elementare Verletzbarkeit und spricht davon, dass die „Ausbildung des Ichs“ stets auf die „Quelle dieser Verletzbarkeit“ verweise: „Dies ist eine Voraussetzung, eine Bedingung des Lebens, die von Anfang an auf der Hand liegt, über die wir nicht streiten können.“ (Butler 2005: 48) Wir verdanken uns also nicht uns selbst; das Ich verdankt sich dem Du. Es verdankt sich damit einer anderen Person, die sich uns zuwendet, die auf unsere elementare Ausgeliefertheit reagiert, die um unsere Verletzbarkeit weiß – und geeignete Maßnahmen ergreift: eine Decke bereithält und entsprechende Kleidung, den Wechsel von hell und dunkel arrangiert, die Temperatur reguliert u. a. m.

      Und damit zurück zu Kant und dessen Anthropologie. Ich zitiere den Anfang von Paragraph 2, von dem ich schon die erste Zeile genannt hatte, nun vollständig. Hier heißt es:

      „Von dem Tage an, da der Mensch anfängt durch Ich zu sprechen, bringt er sein geliebtes Selbst, wo er nur darf, zum Vorschein, und der Egoism schreitet unaufhaltsam fort; wenn nicht offenbar (denn da widersteht ihm der Egoism anderer), doch verdeckt […]“ (Kant 1799/1983: 38; Herv. durch Markus Rieger-Ladich).

      Wir sind also – so könnte man dies paraphrasieren – zunächst kleine Egoisten; und die einzige Grenze des Egoismus‘ besteht darin, dass kleine Egoisten fortwährend auf andere kleine Egoisten treffen. Etwa in einer Kindertagesstätte oder in der Schule. Karl wähnt sich zwar im Mittelpunkt des Geschehens, er hat gelernt Ich zu sagen und artikuliert fortwährend seine Anliegen und Bedürfnisse; in der Familie, in der er aufwächst, wird ihm dieser Status womöglich auch eingeräumt. Vielleicht steht er hier tatsächlich im Zentrum des Geschehens und absorbiert die Aufmerksamkeit aller Beteiligten. Freilich – sobald er eine Bildungseinrichtung betritt, trifft er auf andere vernunftbegabte Zweibeiner, auf andere kleine Egoisten, die es ihrerseits gelernt haben, Ich zu sagen und die ebenfalls lauthals ihre Interessen artikulieren.

      Kant unterscheidet nun drei Formen des Egoismus: Es gibt ihn demnach in logischer, ästhetischer und in praktischer Hinsicht. Von besonderem Interesse ist hier der moralische Egoist. Kant charakterisiert ihn wie folgt: „Endlich ist der moralische Egoist der, welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt, der keinen Nutzen worin sieht, als in dem, was ihm nützt […].“ Das ist für Kant, den Vertreter einer rigorosen Pflichtethik, höchst unbefriedigend. Wie lässt sich nun dieser Neigung, diesem tief verwurzelten Egoismus begegnen? Wie lässt sich – psychoanalytisch gesprochen (vgl. Freud 1924) – auf den Narzissmus reagieren? Kant macht hier einen sehr bedenkenswerten Vorschlag: „Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltenbürger zu betrachten und zu verhalten“ (Kant 1799/1983: 38; Herv. durch Markus Rieger-Ladich).

      Kant, so wird hier deutlich, hatte bereits ein feines Gespür für die Versuchung des Narzissmus, die derzeit wieder intensiv diskutiert wird (vgl. Dombek 2016). Unter der Überschrift des Egoism verzeichnet er zunächst den stillen Jubel, mit dem wir den Wechsel von der Rede der 3. Person Singular zur 1. Person Singular vollziehen. Dieser Wechsel gilt auch Kant als eine große Errungenschaft. Aber er weiß schon um die Abgründe des Egoismus; er sucht bereits nach einem Gegengift – und sieht dies im Pluralismus, den wir in uns ausbilden sollten. Der Aufklärer aus Königsberg setzt an dieser Stelle nicht zu tiefgreifenden systematischen Ausführungen an; so verlangt es auch keinen größeren interpretatorischen Aufwand, das Verhältnis von Egoismus und Pluralismus etwas näher zu bestimmen. Vorgängig ist der Egoism; er scheint für Kant zur natürlichen Ausstattung des Menschen zu zählen. Und obwohl wir das Ich als Instanz am wenigstens uns selbst verdanken, pflegen wir doch ein affektiv besetztes Verhältnis zu unserem Selbst. Weil dieser Egoismus in der Gefahr steht, fortwährend zu wachsen, ist er auf eine gegenläufige Kraft


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