Aus meinem Leben - 3. Teil. August Bebel
Читать онлайн книгу.sind ihm die Mitglieder des Obertribunals v. Grävenitz, Clauswitz, Hahn und Delius als praktisch vollkommen zuverlässig bezeichnet worden. Der Justizminister schlug noch den Obertribunalrat v. Holleben vor und benützte den Anlaß, um – wie mir schien wenig taktvoll und geschickt – die preußischen Richter überhaupt als praktisch zuverlässig herauszustreichen. Fürst Bismarck meinte, wenn die preußischen Juristen alle so wären wie der Staatsanwalt Tessendorf, dann wären sie in der Rekursinstanz zu brauchen; aber die preußischen Staatsanwälte fühlten sich meist nicht als Regierungsbeamte, sondern als souveräne Richter. Den badischen Oberstaatsanwalt Kiefer bezeichnete er als abschreckendes Beispiel. An badische Richter könne man also für die Kommission nicht denken.«
Ein zweiter Brief, den ich fünf Monate später unter dem 28. März 1879 an Vollmar über unsere Lage schrieb, lautet:
»Ihr Brief vom 23. dieses ist in meinen Besitz gelangt. Ich hätte Ihnen schon längst geschrieben, wenn ich nicht fortgesetzt mit den widersprechendsten und häufig auch unangenehmsten Arbeiten überlastet wäre und infolgedessen allmählich in eine Aufregung gekommen bin, die mein Befinden zu keinem erfreulichen gemacht hat. Wenn man von allen Seiten um Rat und Hilfe angegangen wird, die volle Notwendigkeit dazu anerkennt und doch so wenig zu leisten vermag, so ist dies eine höchst unangenehme Situation. Was ich Ihnen, ich glaube schon einmal vor Monaten schrieb, die Krisis ruiniert uns materiell weit mehr als das Sozialistengesetz, gilt auch heute noch und mehr als früher in vollem Umfang. Die einzelnen Unternehmungen haben überall stetig an Halt verloren, und wenn das so fortgeht, so läßt sich mathematisch genau berechnen, wann sie aufhören existenzfähig zu sein. Daß unter solchen Umständen namentlich bei den überall beschränkten Fonds weit mehr an eine Reduzierung als an eine Vermehrung der Arbeitskräfte gedacht werden muß, brauche ich nicht erst zu sagen.
Von unseren älteren und bekannteren Leuten sind Motteler und Kayser noch vollständig stellungslos, Wiemer hat die Fabrikation von Federhaltern aus Schilf ergriffen, Vahlteich will, da man ganz neuerdings ihn zwangsweise von hier fortgebracht – er wohnte unangemeldet hier –, in Chemnitz zur Schusterei greifen, der einarmige Seifert will es mit der Kolportage versuchen, Kayser, Hasenclever und Liebknecht werden zur Not noch hier gehalten, auf wie lange, wage ich bei dem Stand der Dinge nicht zu sagen, da die ›Neue Welt‹ bedeutend an Abonnenten verloren hat und hart am Rande des Defizits steht und die anderen Unternehmungen sich auch nur soso durchschlagen. Wie in dieser Lage für Sie passende Stellung gefunden werden soll, weiß ich bei dem besten Willen nicht. Vielleicht ließe sich mit Übersetzungsarbeiten, welche in Broschürenform gedruckt und, verbreitet werden können, aber selbstverständlich nicht der Gefahr der Unterdrückung ausgesetzt sein dürfen, etwas machen. Die hiesige Genossenschaft könnte sie in Verlag nehmen; doch wird dies immerhin nur eine mäßige Hilfe abwerfen. Ich will einmal mit Liebknecht reden, ob sich für auswärts eine Korrespondenz findet. Daß Sie bei S. nicht ankommen konnten, habe ich gefürchtet, S. ist furchtbar vorsichtig, bis zur Feigheit vorsichtig.
Da fällt mir eben ein, daß Sie vielleicht eine Korrespondenz an der von Curti und Rüegg in Zürich am 1. April gegründeten »Züricher Post« bekommen könnten. Als ich kurz nach Ostern dort war, waren sie mit dem Stand des Blattes zufrieden. Viel werden sie freilich nicht leisten können. Curti war früher einer der Redakteure der ›Frankfurter Zeitung‹, schreiben Sie direkt an ihn, Brief wird jedenfalls unter der Adresse der Zeitung ankommen, und berufen Sie sich auf mich, wenn Sie ihn persönlich nicht kennen.«
Unsere Verlegenheiten waren also nicht gering, aber sie mußten überwunden werden und sie wurden überwunden. Daß die Partei scheinbar alles geduldig über sich ergehen ließ, führte irre. Dem Reichskanzler paßte diese scheinbare Fügsamkeit gar nicht, er hätte am liebsten gesehen, wir ließen uns zu Putschen hinreißen. Von der geleisteten Minierarbeit hatte er keine Vorstellung. In jenen Tagen wurde ihm die Äußerung zugeschrieben: »Man muß die Sozialdemokratie so lange schikanieren und drangsalieren, bis sie losschlägt, um sie dann gründlich ausrotten zu können.« Dieselbe Auffassung vertrat er noch gegen Ende des Gesetzes, als Wilhelm II. durch, die Einberufung der internationalen Arbeiterschutzkonferenz und den bekannten Februarerlaß von 1890 andere Wege einschlug. Auch in anderen maßgebenden Kreisen, namentlich den militärischen, war der Glaube verbreitet, die Sozialdemokratie werde auf die Verkündung des Ausnahmegesetzes durch offenen Aufruhr antworten, und war überrascht, daß dies nicht geschah. Man sah darin nur einen Beweis unserer Feigheit. So erzählte mir im Frühjahr 1880 die Schwester des Philosophen Mainländer, deren persönliche Bekanntschaft ich gemacht hatte, sie sei vor kurzem einige Wochen zu Besuch in Berlin gewesen – die Dame wohnte in Offenbach – und sei bei dieser Gelegenheit in eine größere Gesellschaft gekommen, in der sich auch mehrere Gardeoffiziere befanden. Im Laufe des Abends sei die Unterhaltung auch auf die Sozialdemokratie gekommen, und da sei sie erschrocken über den Haß, den die Offiziere gegen uns bekundeten. So habe der eine geäußert: Hätten die Kerls den Mut loszuschlagen, wir wateten bis an die Knöchel in ihrem Blut.
Um aber auch die entsprechende Stimmung bei dem alten Kaiser gegen uns immer mehr zu schüren, unterhielt man ihn mit den schlimmsten Märchen über unsere angeblichen Pläne. So nur war es möglich, daß, als der alte Herr nach monatelanger Abwesenheit am 7. Dezember 1878 – neun Tage nach Verhängung des kleinen Belagerungszustandes über Berlin – dorthin zurückkehrte, er zu den ihn begrüßenden Stadtverordneten äußerte: »Es ist bewiesen, daß weitverzweigte Verbindungen bestehen, mit dem ausgesprochenen Prinzip, die Häupter der Staaten zu beseitigen.« Mit solchen Geschichten schüchterte man Wilhelm I. ebenso ein, wie man durch die gleichen Geschichten nachher unter dem Ministerium Feilitzsch Ludwig II. von Bayern vor der Sozialdemokratie ängstigte. Und man versuchte die gleichen Mittel bei Wilhelm II. anzuwenden. Mir haben Bekannte, die das kaiserliche Schloß besuchten, wiederholt berichtet, daß im Arbeitszimmer Wilhelms I. auf dessen Schreibtisch die bösesten Hetz- und Schandschriften über unsere Partei gelegen hätten. Zu welchem Zweck ist klar.
Den Herren da oben geht es wie anderen Sterblichen, sie glauben zu schieben und werden geschoben, sie glauben zu regieren und werden regiert.
Die ersten öffentlichen Lebenszeichen der Partei
In den bürgerlichen Kreisen glaubte man vielfach, wir seien mausetot. Was der Mensch gern hofft, das glaubt er. Weil wir so wenig äußere Lebenszeichen von uns gaben, was war wahrscheinlicher, als daß wir kaum noch lebten. Aber wir lebten. Als es im Februar 1879 in Breslau-West zu einer Nachwahl kam, trat auch die Partei in die Schranken, und wenn sie auch keinen Sieg erfocht und weniger Stimmen auf ihren Kandidaten vereinigte als bei der Hauptwahl im Jahre 1878, im Vergleich zu den bürgerlichen Parteien hatten wir am wenigsten eingebüßt. Ein zweiter Vorgang in Breslau zeigte in noch deutlicherem Maße, daß die Partei noch am Leben sei. Am 22. Mai war der Abgeordnete für Breslau-Ost, der Genosse Klaus Peter Reinders an der Proletarierkrankheit gestorben. Reinders, der selbst bis zum letzten Atemzuge mit Leib und Seele für die Partei tätig gewesen, dem die Partei das Höchste war, bekam eine Leichenfeier, wie sie Breslau noch nie gesehen hatte. Und der Erfolg bei der Nachwahl für ihn übertraf unsere kühnsten Erwartungen. Zwar griff mit einer bisher nie gekannten Brutalität die Polizei in den Wahlkampf ein, sie verbot zum Beispiel alle Wahlversammlungen, so daß Hasenclever, der als Kandidat aufgestellt war, und Max Kayser, der ihn im Wahlkampf unterstützen wollte, nur in einer Versammlung in der freien Gemeinde sprechen konnten. Das Resultat der Wahl am 8. Juli war engere Wahl zwischen Hasenclever und dem fortschrittlichen Kandidaten, und in dieser siegte Hasenclever mit 1200 Stimmen Mehrheit. Die Gegner waren betroffen, um so mehr begrüßte die Partei mit großer Genugtuung diesen Sieg. Der Beweis war erbracht, daß auch unter dem Sozialistengesetz allen Schikanen und Gewalttaten zum Trotz die Partei zu siegen verstand.
Dem Breslauer Sieg folgte ein schwerer Verlust für die Partei. Am 1. August starb nach kurzem Krankenlager August Geib am Herzschlag. Man darf es aussprechen, der scheinbar so robuste Mann mit dem prächtigen langbärtigen Männerkopf starb im 38. Lebensjahr als ein Opfer des Sozialistengesetzes. Ohne dessen Aufregungen, Ärgernisse und Sorgen hätte er noch viele Jahre gelebt. Die ganze Liebe und Verehrung für den Mann, der im Rate der Partei stets einer der Ersten und Besten gewesen, kam bei seinem Begräbnis zum Ausdruck. Über dreißigtausend Arbeiter folgten seinem Sarge. Hamburg, die stolzeste Feste der Partei bewies nachher, daß der Same aufgegangen,