Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.werden können.[451] In Deutschland sind die Paulskirchen-Revolution (1848/1849),[452] die Novemberrevolution (1918/1919) sowie die „friedliche Revolution“ in der DDR (1989) zu nennen. Ob es sich beim Abfall der britischen Kolonien und der anschließenden Gründung der USA ebenfalls um eine Revolution gehandelt hat, ist umstritten und hängt vom gewählten Begriffsverständnis ab, entspricht allerdings der gemeinen Bezeichnung dieser Vorgänge, deren zeitlicher Beginn meist mit dem Siebenjährigen Krieg[453] verknüpft wird[454] („Amerikanische Revolution“).[455] Nicht |79|zuletzt einige Marxisten bestritten den Revolutionscharakter, da es sich lediglich um den Austausch einer imperialen durch eine konservativ-koloniale Elite gehandelt habe[456] – ein Elitenaustausch also ohne gesellschaftlichen Wandel, was sich schon am Fortbestand der Sklaverei gezeigt habe. Andere hingegen mieden den Begriff gerade deshalb, um soziale Spannungen innerhalb der späteren USA zu vertuschen, die bereits im Vorfeld der Unabhängigkeit bestanden. Der Unabhängigkeitskrieg war danach keine inneramerikanische Revolution, sondern Ausdruck eines nachgerade übermenschlichen Kraftakts einer vollständig geeinten Nation.[457] Tatsächlich ging es aber, wie Carl. L. Becker später feststellte, keineswegs nur um die „home rule“, sondern selbstverständlich auch darum „who should rule at home“.[458] Und auch wenn die neue Ordnung konservativer war als sich das mancher Marxist gewünscht hätte, fanden sich mit der Idee der repräsentativen Demokratie und Gewaltenteilung sowie der Konstruktion des modernen Bundesstaates selbstverständlich „revolutionäre“ und die Gesellschaft verändernde Elemente, die die Staatenwelt fortan maßgeblich prägen sollten.[459] An diesem Beispiel zeigt sich daher vor allem die Abhängigkeit des Revolutionsbegriffs und der Einordnung bestimmter Ereignisse von den vorherrschenden Zeitauffassungen und Interessen, mithin vom politischen Kontext.[460] Gerade im Augenblick einer solchen Transformation ist die Verwendung des Begriffs „Revolution“ nur selten Ergebnis einer sachlich-objektiven Einordnung als vielmehr politische Kampfansage bestimmter gesellschaftlicher Schichten, die von anderen bewusst gemieden wird – nicht alles, was als Revolution bezeichnet wird, ist eine Revolution.
Versucht man sich unter Berücksichtigung dieser Schwierigkeiten an einer ersten allgemeingültigen Definition des Begriffs wird man formulieren können: Eine Revolution ist der von einem Veränderungswillen getragene Umsturz herrschender Eliten durch eine neue Elite, durch den nach der Machtübernahme die bestehende Herrschafts- und Sozialstruktur fundamental (zur Erlangung der Freiheit) verändert wird; es geht mithin um die Ablösung des alten politischen Systems und die anschließende Begründung eines vollständigen politischen Neuanfangs. Im Hinblick auf den Revolutionsbegriff hält denn auch Hannah Arendt fest, dass dieser unlösbar in der Vorstellung behaftet sei, „dass sich innerhalb der weltlichen Geschichte etwas ganz und gar Neues ereignet, dass eine neue Geschichte anhebt.“[461] Und etwas später |80|schreibt sie: „Dass die Idee der Freiheit und die Erfahrung eines Neuanfangs miteinander verkoppelt sind in dem Ereignis selbst, ist für ein Verständnis der modernen Revolution entscheidend.“[462]
Ein solcher Umsturz impliziert gewalttätige Vorgänge, die man auch regelmäßig vorfinden wird. Allerdings ist Gewaltgebrauch kein notwendiger Bestandteil einer Revolution. Es gibt Beispiele friedlicher Revolutionen (Umsturz in der ehemaligen DDR 1989/1990). Allerdings werden sich auch dort meist punktuelle Gewalttätigkeiten finden – nicht zuletzt der Zusammenbruch des Ostblocks verlief nicht umfassend friedlich. Entscheidend ist dennoch weniger der Gewaltgebrauch als die Illegalität der Vorgänge nach der bestehenden Verfassungsordnung, die die Revolution zugleich von umfassenden Reformen abgrenzt.
Mit der fundamentalen und eruptiven Veränderung der Herrschafts- und Sozialstruktur unterscheidet sich die Revolution in ihrer zweiten Stufe von einem Staatsstreich, der sich in der bloßen Auswechslung der Machtinhaber erschöpft.[463] Auch die Erstürmung des Winterpalais am 24.10.1917 war daher zunächst einmal keine Revolution, sondern ein „gewöhnlicher“ Putsch. Selbst wenn es im Anschluss an einen solchen Staatsstreich zu formalen Veränderungen des Verfassungssystems kommt, haben diese auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse meist keine besonderen Auswirkungen. Für die „einfache Bevölkerung“ ändern solche Machtwechsel dann im Alltagsleben vergleichsweise wenig. Sie werden denn auch nicht selten eher achselzuckend hingenommen. Zu größerem Widerstand kommt es möglicherweise erst dann, wenn und soweit die neuen Machthaber fundamentale gesellschaftliche Veränderungen „von oben“ durchdrücken wollen. Das zeigte sich auf dem afrikanischen Kontinent, wo die Aufstände der einheimischen Bevölkerungen erst extrem wurden, als diesen bewusst wurde, dass es bei der Kolonisation keineswegs nur um den Austausch der Herrschaftspersonen, sondern um einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel ging.[464]
Während ein solcher Austausch der herrschenden Eliten damit ohne größere Unterstützung in der Bevölkerung gelingen kann, wird eine Revolution nur bei einer ausreichenden Massenmobilisierung einschließlich des möglicherweise bestehenden Militärs erfolgreich sein; die Macht muss, wie Hannah Arendt formuliert „auf der Straße liegen.“[465] Che Guevara ist das in Bolivien ab 1966 nicht gelungen, weshalb seine Umsturzversuche erfolglos blieben. Auch in Venezuela dürfte der im Jahr 2019 versuchte politische Umsturz des Maduro-Regimes aus diesem Grund und bis heute nicht geglückt sein – das Militär sah sich zumindest wegen der unklaren Mehrheitsverhältnisse in der |81|Bevölkerung nicht gezwungen, die Seite des Regimes zu verlassen. Die Macht blieb dadurch beim Regime. In Bolivien war das Ende 2019 anders – Präsident Evo Morales musste nach dem Vorwurf der Wahlmanipulation das Land verlassen, weil das Militär ihn nicht mehr stützen wollte (allerdings handelte es sich auch hier vorerst nicht um eine Revolution, sondern um eine Auswechslung der Machthaber). Im Zusammenhang mit der Arabellion (ab Ende 2010) glückte die notwendige Massenmobilisierung hingegen (zunächst) durch die Nutzung sozialer Medien, die allerdings vor allem im klassischen Medium „Fernsehen“ (Sender: Al-Dschasira) weltweit gespiegelt wurde.[466] Ob eine neue Verfassung in Chile zur Beruhigung führen wird, bleibt abzuwarten.
Revolutionen laufen nicht nach einem bestimmten Schema ab, sind sowohl in ihren Voraussetzungen als auch ihrem Verlauf individuelle Ereignisse, an denen unterschiedliche Persönlichkeiten und Zufälligkeiten ihren Anteil haben. Aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre stellt sich die Frage, inwieweit es gleichwohl möglich ist, gewisse Regelmäßigkeiten zu erkennen, die die gesellschaftliche Situation im Vorfeld der Revolution und den „typischen“ Ablauf einer Revolution markieren.[467] Betrachtet man die historischen und auch aktuellen Revolutionen (man denke an die „Arabellion“, den „Arabischen Frühling“ ab Ende 2010)[468] aus dieser Perspektive, so wird man im Hinblick auf die revolutionäre Situation Folgendes festhalten können:
Ausgangspunkt revolutionärer Umstürze bildet meist ein beachtliches Elitenversagen, das sich entweder in einer erheblichen Uneinigkeit, Unfähigkeit oder schlicht Korruption widerspiegelt.
Es zeigen sich meist bedeutende politische, soziale und/oder wirtschaftliche Diskriminierungen, die im Ergebnis zu nachgerade unlösbaren Gegensätzen zwischen sozialen Schichten führen.[469] Die Verfügung über die Ressourcen ist sehr ungleich verteilt, bisweilen kommt es zu Hungersnöten oder sonstigen humanitären Krisen.[470] Die alte Herrschaft fällt in eine fundamentale Legitimitätskrise, bei der gerade der Unterschied zwischen Arm und Reich, mithin die soziale Frage, eine zentrale Rolle spielt.[471] Anders gewendet: Die Revolution knüpft an einen existierenden Autoritätsverlust des bestehenden Systems an, ist aber nicht dessen Ursache.
|82|In der gesellschaftlichen Stimmung offenbart sich ein allgemeines Krisengefühl und ein Gefühl des Niedergeschlagenseins.
Es existiert eine passende neue Ideologie, die sich in der Gesellschaft verbreitet und hinter der sich die Revolutionäre versammeln können.
Frei nach Lenin handelt es sich also um eine Situation, in der „die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen.“[472] Konkreter Auslöser für die ersten (gewalttätigen) Unruhen können dann ausländische Interventionen oder aber – wie etwa in Russland und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg oder in China ab 1911 – kriegerische Niederlagen sein. Der vollständige Niedergang der nationalen Armee bildet dann den Ausgangspunkt für eine grundlegende Umgestaltung der bisherigen Gesellschaftsordnung. Bisweilen können aber auch auf den ersten Blick