Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil. Gustav Schwab
Читать онлайн книгу.wenn zehn Griechenscharen vor euch in die Schlacht eindrängen!« Odysseus
aber sah ihn finster an und sprach: »Was denkst du, Atride? Uns schiltst du saumselig? Warte nur,
wenn wir einmal losbrechen, ob wir die Wut der Schlacht nicht gehörig gegen die Troer aufregen und
du mich nicht im vordersten Getümmel erblicken wirst. Drum schwatze mir nicht voreilig nichtige
Worte!« Als er den Helden so zürnen sah, erwiderte Agamemnon lächelnd: »Ich weiß es wohl, edler
Sohn des Laërtes, daß du weder Tadel noch Ermahnung bedarfst; auch bist du im Herzensgrund
milde wie ich; laß uns keine harten Worte wechseln.« So verließ er ihn und eilte weiter. Da fand er
den Sohn des Tydeus, den stolzen Diomedes, neben Sthenelos, des Kapaneus Sohn, seinem Freund
und Wagenlenker, auf dem herrlichen Streitwagen harrend. Auch diesen versuchte er mit
verdrießlichen Worten: »Weh mir«, sprach er, »Sohn des Tydeus, du scheinst dich bange nach dem
Treffen umzusehen; so blickte dein Vater nicht, als er gegen Theben zog: den sah man immer mitten
in der Arbeit!« Diomedes schwieg auf den Verweis des Herrschers; sein Freund Sthenelos antwortete
für ihn: »Du weißt es besser, Atride«, sprach er, »wir rühmen uns größerer Tapferkeit denn unsere
Väter, haben wir doch Theben erobert, vor dem sie einst erlegen sind!« Diomedes aber unterbrach
seinen Genossen und sagte finster: »Schweige, Trauter, ich verarge es dem Völkerhirten nicht, daß er
die Griechen zum Kampf anreizt; ihm wird der Ruhm zuteil, wenn wir siegen, ihm unendlicher Gram,
wenn wir überwunden werden. Darum auf, laß uns der Abwehr gedenken!« So sprach Diomedes und
sprang vom Wagen, daß ihm das Erz um die Brust klirrte.
Kapitel 4
Indessen zogen die Danaer Haufen an Haufen rastlos in die Schlacht, wie sich Meereswogen ans
Gestade wälzen. Die Völkerfürsten befehligten, die andern gingen lautlos einher. Die Trojaner
dagegen lärmten, wie eine Herde Lämmer blökt, und gemischte Sprache der mancherlei Völker tönte
aus ihren Reihen. Auch der Schlachtruf der Götter hallte darein: die Trojaner ermunterte Ares, der
Gott des Krieges; die Reihen der Griechen feuerte Pallas Athene an.
Die Schlacht. Diomedes
Bald begegneten sich die Heere in einem Raum; Schild traf auf Schild, Speer kreuzte sich mit Speer,
und lautes Getöse, hier Wehklagen, dort Frohlocken, erhob sich ringsum. Wie sich im Spätling zwei
geschwollene Bergströme im Hinabsturz vermischen, so vermählte sich das Geschrei der kämpfenden
Heere. Der erste Held, welcher fiel, war der Trojaner Echepolos, der sich zu weit in den Vorkampf
gewagt hatte. Diesem durchbohrte Nestors Sohn Antilochos mit der Lanzenspitze die Stirne, daß er
umsank wie ein Turm. Schnell ergriff Elephenor, der griechische Fürst, den Fuß des Gefallenen, um
ihn den Geschossen zu entziehen und der Rüstung zu berauben. Aber wie er sich bückte, ihn zu
schleifen, entblößte er sich die Seite unter dem Schild; dies sah Agenor, der Trojaner, und
durchbohrte ihm die Seite mit dem zuckenden Speer, daß der Grieche tot in den Staub sank. Über
ihm tobte der Kampf beider Heere fort, und wie Wölfe erwürgten sie einander.
Ajax traf den blühenden Simoeisios im Vorwärtsdringen rechts über der Brust, daß ihm der Speer zur
Schulter herausfuhr und er in den Staub hintaumelte; dann stürzte er sich auf ihn und beraubte ihn
der Rüstung; gegen ihn warf der Trojaner Antiphos die Lanze; diese verfehlte ihn zwar, traf aber
Leukos, den tapfern Freund des Odysseus, wie er eben den Toten hinwegschleifte. Das schmerzte
den Odysseus, und vorsichtig umschauend, schleuderte er seinen Wurfspieß ab, vor dem die Trojaner
zurückprallten; und er traf einen Sohn des Königes Priamos, den Bastard Demokoon, so daß die
Spitze von einer Schläfe zur andern durchdrang. Als dieser in dumpfem Falle hinstürzte, wichen die
vordersten Kämpfer der Trojaner rückwärts und selbst Hektor mit ihnen. Die Griechen aber jauchzten
laut auf, schoben die Leichname beiseite und drangen tiefer in die Schlachtreihen der Trojaner ein.
Darüber erzürnte Apollo und ermunterte die Trojaner von der Stadt aus, indem er ihnen zurief.
»Räumet doch den Argivern das Feld nicht! Ist doch ihr Leib weder von Stein noch von Eisen, und ihr
bester Held Achill kämpft nicht einmal, sondern grollt bei den Schiffen.« Auf der andern Seite trieb
Athene die Danaer in den Kampf, und so fielen von beiden Teilen noch viele Helden.
Da rüstete Pallas den Sohn des Tydeus, Diomedes, mit besonderer Kraft und Kühnheit aus, daß er vor
allem Danaervolk hervorstrahlte und sich unsterblichen Ruhm gewann. Helm und Schild machte sie
ihm glänzend wie ein Gestirn der Herbstnacht und trieb ihn hinein ins wildeste Getümmel der Feinde.
Nun befand sich unter den Trojanern ein Priester des Hephaistos, mit Namen Dares, ein mächtiger,
reicher Mann, der zwei Söhne, Phegeus und Idaios, mutige Männer, in die Schlacht gesendet hatte.
Diese sprengten aus den Reihen der Ihrigen auf Diomedes hervor mit ihren Streitwagen, während der
griechische Held zu Fuße kämpfte. Zuerst sandte Phegeus seine Lanze ab; sie fuhr aber links an der
Schulter des Tydiden vorbei, ohne ihn zu verwunden. Des Diomedes Wurfspieß dagegen traf den
Phegeus in die Brust und stürzte ihn vom Wagen. Als sein Bruder Idaios dieses sah, wagte er es nicht,
den Leichnam seines Bruders zu schirmen, sondern sprang vom Wagen und entfloh, indem der
Beschirmer seines Vaters, Hephaistos, Finsternis um ihn her verbreitete; denn dieser wollte nicht,
daß sein Priester beide Söhne verlöre.
Jetzt nahm Athene ihren Bruder, den Kriegsgott Ares, bei der Hand und sprach zu ihm: »Bruder,
wollen wir nicht Troer und Griechen jetzt sich selbst überlassen und eine Weile zusehen, welchem
Volke die Fürsehung unsers Vaters den Sieg zuwende?« Ares ließ sich von der Schwester aus der
Schlacht hinausführen, und so waren die Sterblichen sich selbst überlassen; doch wußte Athene
wohl, daß ihr Liebling Diomedes mit ihrer Kraft ausgerüstet streite. Nun fingen die Argiver an, den
Feind erst recht hart zu bedrängen, und vor jedem griechischen Führer sank ein Trojaner dahin.
Agamemnon jagte dem Hodios den Speer ins Schulterblatt; Idomeneus durchstach den Phaistos aus
Tarne, daß er dem Wagen entstürzte; der kundige Jäger Skamandrios wurde von der spitzen Lanze
des Menelaos durchbohrt; den kunstvollen Phereklos, der dem Paris die räuberischen Schiffe
gezimmert hatte, traf Meriones; und andere fielen von anderer Hand. Der Tydide aber durchtobte
das Feld wie ein angeschwollener Herbststrom, und man wußte nicht, gehörte er den Griechen oder
den Trojanern an, denn bald war er da, bald dort. Wie nun der Kampf ihn so hin und her trieb, faßte