Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.wieder mal Treffer gelandet, und praktisch gesehen bedeutet es für uns: Suppen selber zubereiten und kein Fertigzeugs auf den Tisch“, antwortete Emma.
Mitte Januar wurde erstmals seit Bestehen der BRD im Ruhrgebiet Smog-Alarm der Stufe III ausgerufen. Es bedeutete ein absolutes Fahrverbot für Kraftfahrzeuge mit Verbrennungsmotoren. Der Krupp-Husten, der seinen Namen dem Krupp-Stahl-Konzern aus dem smoggebeutelten Essen verdankte, ließ grüßen.
In London begrüßte die Welt das »Baby Cotton«. Zum ersten Mal wurde ein Kind auf Bestellung von einer Leihmutter, Kim Cotton, ausgetragen. Die Samen stammten im Rahmen einer künstlichen Befruchtung vom Auftraggeber. Nach der Geburt wurde das Baby gegen eine Zahlung von umgerechnet 24.760 D-Mark an die Auftraggeber übergeben. Das oberste Gericht Großbritanniens gestattete dies. Rund um die Welt wurde daraufhin diskutiert. Der Fall löste auch in der Bundesrepublik heftige Diskussionen aus. Vier Jahre später wurde das Embryonenschutzgesetz verabschiedet, das die Leihmutterschaft verbietet.
Ein anderes Leihgeschäft war inzwischen groß ins Rollen gekommen – in Videotheken florierte das Geschäft mit dem Verleih von Filmen auf Videokassetten. Nun standen 3.664 Kinos mit 125 Millionen Besuchern nicht weniger als 4.850 Videotheken mit 128 Millionen entliehenen Videos gegenüber. Es dominierte der Verleih mit einem Preis zwischen zwei und fünf Mark pro Film, während Kaufkassetten noch die Ausnahme blieben.
Und eine weitere schnuckelige Leihgabe kam ins Gerede. Die Bundesregierung bestätigte erstmals offiziell die Existenz nuklearer Kleinkampfmittel der US-Armee auf deutschem Boden, neben den Big Bombs, den Atom-Eiern, welche die US-amerikanische Luftwaffe dem rheinland-pfälzischen Örtchen Büchel ins Nest gelegt hatte. Auf diese Leihgabe konnte man wahrlich verzichten, dagegen war »Baby Cotton« ein echtes Gottesgeschenk.
Mein Freund Hörbi besuchte mich an meinem Uni-Arbeitsplatz. Als ich mit ihm beim Tee das leidige Atomwaffenthema erörterte, fragte er: „Seit wann so pessimistisch?“
„Seit ich Vater bin. Da wird man noch unduldsamer als vorher.“
„Lass dir den Optimismus nicht verderben. Dein Humor hat dich bisher doch gut durchs politische Leben gebracht.“
Da fiel mir ein Spruch meines verstorbenen Karnevalsonkels mit dem irgendwie sehr blöden und historisch verpönten Namen »Adolf« ein – ich glaube, Onkel Adolf hatte unter seinem Namen nach dem Krieg arg gelitten. Onkel Adolfs Spruch musste ich Hörbi gleich unter die Nase reiben.
Der Pessimist sagt: „Schlimmer geht’s nicht!“
Der Optimist antwortet: „Oh doch!“
„Es gibt aber auch echt Gutes zu berichten“, meinte Hörbi. „Und das lässt einen wirklich etwas optimistischer in die Welt gucken.“
„Nämlich?“
„Nämlich, dass das Saarland gerade als erstes Bundesland den Umwelt- und den Datenschutz in seine Landesverfassung aufgenommen hat. Und dass der Bundestag vorgestern alle Urteile des früheren NS-Volksgerichtshofs endlich für nichtig erklärt hat.“
AKW tut weh
Am nächsten Wochenende schien die Sonne. Eigentlich wollten wir Emmas Eltern und die 14-köpfige Verwandtschaft in Franken besuchen – wegen irgendeines Geburtstages. Aber es war an diesem Samstag viel zu kalt. In der Nacht war das Thermometer auf unter minus zehn Grad gefallen. Am Vormittag waren es immer noch minus fünf Grad. Wir verschoben unseren Ausflug zu Oma Greta und Opa Sepp daher um eine Woche. Schließlich wurden in Großelterns urigem Häuschen die Zimmer noch mit Holz- und Kohleöfen beheizt. Es war uns wegen der Kleinkinder zu riskant. Später rief Oma Greta an und sagte, sie hätte extra ordentlich eingeheizt. Aber aufgeschoben, war ja nicht aufgehoben. Und die eingeheizten Öfen würden den beiden lieben Alten gewiss nicht schaden.
Geburtstagsmäßig war die Verschiebung nicht schlimm, denn auch eine Woche später war wieder ein Jahrestag fällig. Noch immer herrschte eine Kälteperiode, aber diesmal waren es nur minus zwei Grad, und alles war gut vorbereitet und wieder ordentlich vorgeheizt.
„Onkel Armin wird sechzig. Da solltet ihr schon mal kommen. Außerdem haben Irmgard und Armin Luca noch nie gesehen. Kommt ihr also?“, meinte Oma Greta.
„Na gut“, hatte Emma geantwortet.
Geburtstags- und andere Feiern waren gewissermaßen fränkische Bürgerpflicht, und dies insbesondere im unterfränkischen Grafenrheinfeld, südlich von Schweinfurt, wo eines der neuesten Kernkraftwerke am linken Mainufer lag. Seit 1982 war es in Betrieb und fuhr jährlich allergrößte Summen an Gewerbesteuer in die Gemeindekasse ein. Von diesem Zeitpunkt an fielen städtische Feiern immer etwas größer als anderswo aus.
Ja, seitdem blühte das Städtchen auf. Straßen und Wege, Parks und Parkplätze, Häuser und Schulen, wie auch der Kindergarten, wurden förmlich vergoldet – ein regionaler Geldsegen durch atomar erzeugte Energie. Sogar eine Krabbelstube wurde eingerichtet. Den Rathausvorplatz krempelten die Ratsherren völlig um und gestalteten ihn nach modernsten Gesichtspunkten. Eine Bibliothek entstand, wie es in dieser Ausstattung und Güte keine einzige Stadtteilbibliothek in der Millionenstadt Berlin gab. Die Kraftwerksmanager wurden im Rathaus wie Könige empfangen.
Der Werksarzt hatte seine Praxis genau neben dem Häuschen meiner Schwiegereltern. Sein Berufsgeheimnis bewahrte ihn vor jenem schlechten Ruf, den das Atomkraftwerk schon bald nach Inbetriebnahme bei den wenigen kritischen Gegnern hatte. Ich sollte diesen speziellen Arzt und die vielen individuellen gesundheitlichen Katastrophen aus dem Landkreis später noch näher kennen lernen. Es war der Beginn meiner Anti-AKW-Einstellung.
Doch nun war erst einmal ein ganzes Städtchen mit einem Schlag korrumpiert. Alle Ängste, Sorgen und Bedenken waren weg gekauft worden. Man sah, verblendet, nur noch das glänzende Gold. Der bedrohlich wirkende Zwei-Türme-Bau trat in den Hintergrund. Tagsüber waren sie unnahbar für jeden Fremden. Nachts war das Werk bewacht und beleuchtet wie ein unheimliches, gefährliches Straflager, aus dem rabiate Gefangene ausbrechen und Mord und Totschlag verüben könnten.
Irgendwie war es auch so. Da waren gefährliche Uran- und Plutoniumatome konzentriert, waren gefangen in einer Reaktionskette, aus der sie, wenn sie ausbrechen könnten, Tod und Verderben über die Umwelt bringen würden.
„Natürlich muss man so etwas ordentlich bewachen!“, sagte Emmas Onkel Armin, ein gestandener SPD-Mann, als ich mich mit ihm an seinem Geburtstag kurz über Neuigkeiten aus dem AKW unterhielt. „Aber heute, mein lieber Stefan, trinkst du erst mal einen Jägermeister. Prost!“
Er hielt mir ein Schnapsgläschen hin, an dem ich vorsichtig nippte, nachdem ich auf seinen Sechzigsten angestoßen hatte.
Über sieben Brücken musst du gehn, sieben lange Jahre überstehn. Was den siebenjährigen Bau des Kernkraftwerks anging, lag der Song daneben – oder eben der Bau lag neben den Intentionen des Liedes. Die Technologie affinen Sozialdemokraten hatten den sieben lange Jahre dauernden Bau ebenso politisch unterstützend begleitet wie die sowieso am Tropf der Energiekonzerne hängenden Christsozialen. Spenden und Männerfreundschaften taten ihr Übriges. Ich kannte ja bereits Armins Einstellung, der, wie alle anderen aus der Verwandtschaft, froh war, dass sich im fränkischen Armenhaus eine so moderne und sichere Großindustrie hatte ansiedeln lassen.
„Wir können doch froh sein!“, hatte er damals in der Bauphase gesagt, als Emma und ich unsere Bedenken gegen diesen bedrohlichen Atombau äußerten. „Das schafft Arbeitsplätze und dann sprudeln Einkommens- und Gewerbesteuern. Die Bayerwerk AG zahlt zudem hohe Löhne. Die Kaufkraft wird steigen und damit der Konsum und der allgemeine Reichtum in diesem Ort!“
„Ich zweifle an der Sicherheit einer solchen Hochrisikotechnologie“, hatte ich gesagt.
„Stefan, das ist Hysterie, glaub mir. Es gibt kein Risiko!“
„Eine Studie des Bundesamts für Strahlenschutz hat etwas anderes aufgezeigt. Die Häufigkeit kindlicher Tumore im Umfeld von Atomkraftwerken in Bayern weist eine statistisch signifikante