Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.Terrain frei von Fixerinnen halten, weil sie die Preise für den Profi-Strich verdarben. Die Profi-Nutten waren genauso rabiat wie ihre Zuhälter und zerkratzten einer Fixerin schon mal so das Gesicht, dass es wochenlang wie Hackfleisch aussah. Nina stieg am U-Bahnhof Kurfürstenstraße aus und dachte an die Ratschläge ihrer Leidensgefährtinnen Claire und Tina: Keine jungen Sportwagentypen, keine Ami-Schlitten und Typen, die schon auf hundert Metern wie Zuhälter aussahen.
„Ich achtete also auf Kindersitze hinten im Auto und auf ältere Männer mit Bauch und konservativer Kleidung. Denn die wollten gewiss nur mal eine Abwechslung von ihrer kinderüberforderten und asexuellen Mutti und hatten mehr Angst als wir Mädchen. Schon nach kurzer Zeit hielt ein beiger Ford, allerdings ohne Kindersitz, dafür ein netter, etwas fülliger Typ, der mir ehrlich erschien. Ich wollte es schnell hinter mich bringen, und er war auch sehr unkompliziert. Er wollte mich unbedingt wiedersehen, aber nun fahre er erst mal mit seiner Frau und den drei Kindern nach Österreich in den Urlaub.“
„Hast du dir dann gleich Stoff besorgt?“, hatte Doro in ihrem Interview-Protokoll gefragt.
„Ich ließ mir Zeit. Ich stand ja körperlich nicht mehr unter Druck. Ich fuhr in aller Ruhe mit der nächsten U-Bahn zur Technischen Uni, wo ich sicher war, einen der Stammdealer anzutreffen. Ich bin ein bisschen rumgeflippt, habe mit ein paar Szene-Typen gequatscht und bin mit einem Hund von einem aus der Szene eine halbe Stunde Gassi gegangen. Tiere sind immer noch die besseren Menschen, dachte ich; sie sind in ihren Gefühlen ehrlich und verstellen sich nicht; sie geben die Liebe, die man ihnen gibt, hundert pro zurück.“
„Und dann hast du Dope gekauft oder hast du es dir noch einmal überlegt?“
„Natürlich wäre es besser gewesen, ich hätte mein Hirn eingeschaltet. Aber ich war so total happy und wollte echt noch einen schönen H-Bummel über den Kudamm machen. Also kaufte ich beim nächstbesten Bekannten ein halbes Dope für 40 Mark, ging zur Damentoilette und setzte mir feierlich den letzten Schuss vorm endgültigen Abschied aus der Szene.“
„War dein anschließender Abschiedsbummel über den Kurfürstendamm wirklich ein so tolles Ereignis?“
„Er fand nicht statt, weil ich drei Stunden danach auf der Toilette aufwachte. Ich hatte nicht bedacht, dass man nach einem mehrtägigen Entzug nicht gleich wieder mit der vollen Dosis einsteigen darf. Und so hat mich das Dope voll weg gehauen. Als ich später nach Hause kam, hat meine Mutter natürlich gemerkt, was mit mir los war. Sie hat mich angeschrien, warum ich noch nicht bei Narconon sei. Ich hätte es ihr doch versprochen. Ich rastete sofort aus, weil ich mich durchschaut und ertappt fühlte und weil nur mein Schreien meine gegen mich selbst gerichtete Aggression überdecken konnte.
»Pack sofort deine Sachen«, hat meine Mutter gebrüllt. »Du gehst noch heute Abend zu Narconon. Ich habe dich dort bereits angekündigt.«
Aber jetzt wollte ich auch wirklich selbst gehen. So verließen wir also zerstritten die Wohnung und fuhren mit einem Taxi nach Zehlendorf, wo die Einrichtung ihren Sitz hatte.
Die Narconon-Leute stellten mir keine Fragen. Das Wichtigste für sie war, dass meine Mutter ihnen versprach, die 1.900 D-Mark Vorauszahlung für den ersten Monat am nächsten Tag in bar vorbeizubringen. Ihre Bank würde ihr einen Kleinkredit geben, und sie bettelte darum, dass man mich dabehalten solle. Die Aufnahme-Jüngelchen waren einverstanden.“
„Und wie war die Therapie?“
„Ich teilte das Zimmer mit einer zehn Jahre älteren Frau, die schon ein bisschen kirre war. Sie lachte über die Therapien und die sogenannten Therapeuten und bekam als Strafe dafür keine einzige Sitzung. Das fand ich natürlich paradox. Normal hätte sie Extra-Sitzungen benötigt, dachte ich mir. Aber ich kannte das ja alles noch nicht und schwieg.
Zwei Typen holten mich am nächsten Tag zu meiner ersten Session ab. Dazu wurde ich mit einem dieser jungschen Typen, einem Ex-Fixer, in einen Raum eingeschlossen, wo der mir nun völlig blödsinnige Befehle erteilte. Das einzige Wort, das ich benutzen durfte, war »Ja«. Ansonsten musste ich schweigen und den Befehlen bedingungslos gehorchen, auch wenn ich sie absolut unsinnig fand.
Der Typ befahl mir zehn Kniebeugen zu machen, danach sollte ich von einer Wand zur anderen gehen, sie jeweils mit einer Hand berühren, kehrt machen und dann das ganze Programm bis zum Umfallen von vorne. Als es mir irgendwann zu blöd wurde, sagte ich: »Was soll der ganze Quatsch. Lass mich einfach in Ruhe, ich will auf mein Zimmer. Ihr seid ja alle völlig verrückt.«
Aber der Typ lächelte nur und brachte mich nach einer Weile tatsächlich dazu, weiterzumachen. Ich sollte dann auch Inventar berühren und statt Kniebeugen einen Expander zehn Mal ziehen, bis ich wirklich nicht mehr konnte und mich vor Erschöpfung auf den Boden warf und einen Heulkrampf bekam.
Jetzt sollte ich rufen »Ich bin frei! Ich bin frei!«
Der Typ lächelte weiter, und als ich mich beruhigt hatte, befahl er mir weiterzumachen, was ich wie in Trance auch tat und dabei schon sein aufdringliches irres Lächeln übernommen hatte. Irgendwann spürte ich nichts mehr, rein gar nichts mehr. Nach mehr als fünf Stunden war Schluss, und ich glaube, dass ich es auch keine Sekunde länger ausgehalten hätte.
»Ich habe eine erholsame Überraschung für dich«, sagte der therapeutische Komiker und führte mich in ein Nebenzimmer. Dort stand auf einem Tisch ein merkwürdiges Gerät mit einer Nadel, die zwischen zwei Blechbüchsen hin und her pendeln konnte. Ich musste die Büchsen anfassen, und der Typ fragte, ob ich mich wohl fühle.
Ich bejahte und betonte, wie entspannt ich jetzt sei und wie ich alles sehr viel intensiver erleben würde.
Mein komischer Therapeut starrte gebannt auf die Nadel. »Es hat sich nicht bewegt, das spricht für dich. Du sagst also die Wahrheit. Das heißt, dass die Session ein Erfolg war.“
Das merkwürdige Gerät war so etwas wie ein Lügendetektor, ein Kultgerät der Scientologen, das sie immer wieder zum Einsatz brachten, um angebliche Lügen aufzudecken. Ein wahres Einschüchterungsinstrument. Jedenfalls war ich beruhigt, dass ich die Session erfolgreich hinter mir hatte und sie nicht wiederholen musste. Das Pendel, das mich in der kommenden Nacht im Traum verfolgte, hatte nicht ausgeschlagen! Danach fragte mich dann auch meine Zimmergenossin, und als ich ihr von meinem Erfolg und dem Pendel berichtete, bekam sie einen genauso irren Lachanfall, wie mein Therapeut jedes Mal ein völlig irres Lächeln im Gesicht hatte.“
Als ich die Sichtung von Doros Unterlagen an dieser Stelle unterbrach, weil Lutz zum Frühstück herunterkam, musste ich unwillkürlich wieder einmal an George Orwells »1984« denken, an die dort beschriebenen sinnlosen und quälenden Gymnastikübungen zur angeblichen Aufmunterung des Geistes der Ministeriumsmitarbeiter, was tatsächlich weniger der Aufmunterung als der Abstumpfung und Verblödung diente. Dazu diese unerträglichen ideologischen Tageslosungen, durchmischt mit Slogans von Freiheit und Glück. Irre, einfach nur irre!
*
Am 1. Januar des neuen Jahres startete das erste private Satelliten-Fernsehprogramm »SAT 1«. Es finanzierte sich, anders als die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ARD und ZDF, ausschließlich aus Werbeeinnahmen. So wurden die Filme nun ständig von eingeblendeten Werbespots unterbrochen. Emma und ich sahen irgendeinen mistigen Hollywoodfilm. Es war ein Grauen. So oft konnte kein Mensch pinkeln, wie für Oetkers Suppen und Puddingpulver oder für eine Hustenpille aus dem Haus des Pharmakonzerns Bayer geworben wurde.
„Mit SAT 1 hat das Großkapital wieder ein Sprachrohr mehr“, sagte ich beim Abendessen.
„Howgh, Treffer theoretisch gelandet, aber praktisch gesehen: U-Boot taucht ab und fährt weiter“, antwortete Emma.
Großes Kapital zieht großes Kapital an, dachte ich. „Großkapital ist wie ein Magnet“, hatte einer unserer jungen Professoren im volkswirtschaftlichen Teil meines Studiums erläutert und auf Marxens Theorie von der Akkumulation des Kapitals und der Monopolbildung verwiesen. Jetzt vereinigten sich zwei Giganten zu Supermonopolen; die zwei größten Stahlunternehmen der Bundesrepublik, Krupp Stahl und Klöckner, schlossen sich zu einem Unternehmen mit 43.000 Mitarbeitern zusammen.
„Hätten sich