Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig

Читать онлайн книгу.

Rasante Zeiten - 1985 etc. - Stefan Koenig


Скачать книгу
dem Konsumtrip, der hier seit Mitte der Siebziger auf dem Durchmarsch war. Konsumwünsche zu wecken, die sich vielleicht wie ein in Aussicht stehender Lottogewinn erfüllen könnten – das war die triumphierende Waffe des Kapitalismus. Selbst viele ehemalige Freunde aus der 68er-Umbruchzeit, die sich damals gegen die erdrückende Glitzerwelt des Konsums gewehrt hatten, waren ihr jetzt zum Opfer gefallen. Konnte ich es Josi verübeln, wenn sie – in der ärmeren Nachbarrepublik lebend – etwas von der großen weiten Welt der ungezügelten Waren-, Werbe- und Überflusswirtschaft abhaben wollte?

      „Bist du also rüber geschleust worden?“

      Josi schaute mich böse an. Ich sah sie fragend an, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was an der Frage falsch sein sollte.

      Josi sah hilfesuchend zu Ronny, und jetzt schaltete er sich ein: „Weißt du, Kara“ – als einer der Wenigen nannte er mich noch bei meinem alten Jugendspitznamen – „das mit der Flucht war für Josi nicht einfach. Es hat eine Menge Geld gekostet. Und man legt da ein Gelübde ab, um zukünftige Flüchtlinge nicht zu gefährden. Und das Gelübde heißt: »Kein Wort über den Fluchtweg und die Fluchthelfer, wenn du in Freiheit bist!« Nur den westdeutschen Verfassungsschützern im Aufnahmelager darf man dazu Erklärungen abgeben. Ansonsten keinem Menschen gegenüber. Wer nicht schweigen kann, muss mit Konsequenzen rechnen.“

      „Konsequenzen?“

      „Schleuser, die ihre Freiheit riskieren und in Bautzen landen können, kennen natürlich keinen Spaß, wenn du verstehst, was ich meine!“, sagte Ronny.

      „Du meinst, die haben hier ihre Helfershelfer und die …“

      „Und die wissen, wie man Plappermäulern den Mund stopft!“

      Emma kam aus dem Kinderzimmer und fragte, ob wir etwas essen wollten.

      „Unsere Gäste würden sich nach so viel Geheimwissenschaft gewiss über etwas Kulinarisches freuen“, sagte ich, und unser Besuch lächelte zufrieden.

      Emma stellte Geschirr vor mir ab. „Willst du vorher noch kurz den Kindern etwas vorlesen?“

      Ich ging rüber ins Spiel- und Schlafzimmer, wo mich unsere Karola schon mit erwartungsvollen großen Kinderaugen erwartete: „Papa lesen.“

      Obwohl der dreimonatige Luca den Inhalt eines selbst einfachen Kinderbilderbuches noch nicht erfassen konnte, nahm ich beide Kids links und rechts neben mich und las ihnen gemeinsam etwas vor und erklärte dazu die Bilder.

      „Das ist ein Bauernhof. Das ist der Bauer. Das ist eine Kuh. Sie macht Muh. Muh-Muh. Die Kuh geht auf die Weide und frisst Gras. Das Gras ist grün. Im Bauch der Kuh wird daraus Milch. Die Milch ist weiß. Der Bauer nimmt die Milch der Kuh und füllt sie in Flaschen. Papa und Mama können die Flaschen im Lebensmittelgeschäft kaufen. Zum Frühstück essen Mama, Papa, Karola und ihr Bruder Luca Müsli mit Milch von der Kuh.“

      Das alles entsprach zwar nur der halben Wahrheit, aber konnte man den beiden Kleinen auf Anhieb die ganze große allgemeingültige Wahrheit erklären? Alle weltweiten Zusammenhänge in Sachen Milchkühen, Landwirten und Ladenpreise mussten langsam aufgebaut werden. Vom Einfachen zum Komplizierten. Das war so ähnlich wie die Sache mit der Überwachung – ein Thema, das mich jetzt erreichte, als ich das Kinderzimmer verließ und die Kinder selig schlafend zurückgelassen hatte.

      Zum einen ging es um die einfache akustische Kleinkind-Überwachung mittels eines völlig neuen Gerätes, das sich Babyphon nannte. Es war gerade erst vor einem halben Jahr auf den Markt gekommen.

      Wir hatten also eines der ersten analog funkenden Babyphone, allerdings mit nur acht möglichen Kanälen, was bedeutete, dass die krächzenden Signale des Mixers, des Radios oder des Fernsehers der Nachbarn häufig mit empfangen wurden.

      Die Tonqualität unserer modernen hausinternen Abhör-Errungenschaft war also nicht besonders berauschend, dafür rauschte das Gerät umso mehr. Unser Babyphon war unidirektional, das heißt, das Gerät am Bett der Kinder sendete, und das Teil, das wir jetzt bei uns im Esszimmer aufstellten, empfing die Geräusche aus dem Kinderzimmer. Manchmal waren es nur Pupser.

      Zum andern – und dies war die bedrückendere Dimension – ging es an jenem Abend um die schon historischen Abhöraffären in unserer jungen bundesdeutschen Vergangenheit und um die altbekannten Überwachungsgesetze. Als ich an unserem Esstisch Platz nahm – Emma hatte uns ihren selbst gemachten Kartoffelsalat und von der mit Lollo befreundeten Rindswurst-Unternehmerin jeweils ein Paar Gref Völsings hingestellt – lag Ronny gerade mit seiner sächsischen Josi über Kreuz. Sie hatte behauptet, anders als in der DDR, sei es im freien Teil Deutschlands unmöglich, dass staatliche Stellen das grundgesetzlich garantierte Briefgeheimnis über Bord werfen könnten. Sie bestritt, dass auch hier Bürger abgehört oder ihre Post mitgelesen werden könnte. Das sei verboten. Das habe sie im Grundgesetz nachgelesen.

      „Man hat aber das Grundgesetz abgeändert“, wandte Ronny ein. „Es stimmt so nicht mehr, wie du es gelesen hast.“

      Josi spießte ein Paar Rindswürste auf und legte sie sich auf ihren Teller. Ich reichte ihr die Schüssel mit Kartoffelsalat und das Glas mit Senf.

      „Das ist ja der leckere Bautz’ner Senf!“, rief sie begeistert aus. Dann mit Entrüstung in der Stimme: „Wie kommt denn der hierher?“

      „Ich nehme an, dass die aufgeflogenen und in Bautzen einsitzenden Fluchthelfer einen unterirdischen Warenverkehr zum Florieren gebracht haben. Devisenbeschaffung für ihre Befreiung“, sagte ich lachend. Doch ich merkte gleich, dass Josi auf solche Scherze nicht gut zu sprechen war.

      Im Übrigen ahnte ich damals mit keinem Jota, dass in jenen Tagen ein Oberst der Staatssicherheit mit Namen Schalck-Golodkowski fast genau solch einen »unterirdischen Warenverkehr« zwecks Devisenbeschaffung betrieb.

      „Eigentlich sollte man Sachen aus dem Osten boykottieren“, sagte sie mit trotziger Entschiedenheit in der Stimme.

      „Das schadet doch nur denen, die es nicht wie du in den Westen geschafft haben“, meinte Emma. „Wenn der DDR die Devisen fehlen, fehlen drüben die Dinge, die man nur gegen Devisen auf dem freien Weltmarkt einkaufen kann, zum Beispiel Bananen und Orangen.“

      Josi ging nicht darauf ein. „Die meisten sind doch Systemläuse, die dort bleiben wollen. Die profitieren doch vom System als Bonzen und Bürokraten.“

      „Na, dann hat doch das dortige System offensichtlich für ein paar Wenige auch Vorzüge“, sagte ich und ahnte zugleich, dass meine süffisant gemeinte Anmerkung völlig ins Leere lief.

      „Aber noch einmal zurück zu deiner Bemerkung wegen des Brief- und Postgeheimnisses, das im Grundgesetz garantiert wird“, sagte Ronny. „Es wurde bereits am 30. Mai 1968 faktisch abgeschafft.“

      Und ich ergänzte: „Auch in der DDR-Verfassung steht übrigens bis heute, dass das Post- und Fernmeldegeheimnis strikt gewahrt und unverletzlich sei.“

      „Ein schöner Verfassungstext und eine ungeschönte Verfassungswirklichkeit stimmen nicht immer überein.“ Ronny sah zu seiner Liebsten und schenkte ihr einen Apfelwein ein.

      „Na siehste! Man weiß doch, wie dreist Mielkes »Horch- und Guck« die Bevölkerung ausspioniert.“ Dafür, dass sich Josi eigentlich vom Bautz’ner Senf aus Boykottgründen fernhalten wollte, strich sie ihn ziemlich dick auf ihre Rindswurst.

      „Genauso dreist gehen aber auch die Dienste in der BRD vor. Man hat mit einem einzigen Gesetz das Grundgesetz gründlich ausgehebelt“, beharrte Ronny auf seinem Wissen, dass er uns dann zu unserem politischen Abendmahl lang und breit auftischte.

      Wie also sah das Gesetz im Einzelnen aus? Das wollte ich mir gerne noch einmal von Ronny in Erinnerung rufen lassen. Damals, als wir gegen die Notstandsgesetze und das G 10-Gesetz demonstrierten, hatte ich mich zwar damit befasst – aber das war nun siebzehn Jahre her.

      Das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post und Fernmeldegeheimnisses, Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz, wie es offiziell hieß, bestand aus drei Teilen. Der erste Teil, Artikel 1, umfasste den politischen Kern des Gesetzes und regelte die Einschränkung des Post-


Скачать книгу