Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.war. Es war einfacher formuliert als Winston es je zu formulieren in der Lage gewesen wäre: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“ Somit war festgelegt, dass das gegenwärtig Wahre wahr blieb bis in alle Ewigkeit. So einfach war das. Es war nichts weiter nötig als eine nicht abreißende Kette von Siegen über das eigene Gedächtnis, eine Art sanfter Gehirnwäsche, indem frühere Erinnerungen von der kriegerischen Macht der Gegenwart verdrängt wurden. »Wirklichkeitskontrolle« nannten sie es; in der Neusprache hieß es »Zwiedenken«.
Ich konnte Winston natürlich nicht an seinem Arbeitsplatz zu diesen mir so interessant erscheinenden Themen »Neusprech« und »Zwiedenken« interviewen. Hinter seinem Schreibtisch hing ein Televisor, der alles beobachten konnte. Ich wäre den Aufpassern mit meiner Fragerei direkt ins Netz gegangen.
„Setzen Sie sich bitte“, sagte Winston und siezte mich, weil wir nun offiziell Kollegen waren und es den Mitarbeitern untereinander verboten war, sich zu duzen. Das Duzen konnte persönliches Vertrauen schaffen und war somit eine Gefahr für die Partei.
„Womit gedenken Sie Ihre Arbeit zu beginnen?“, fragte ich in einem möglichst glaubwürdigen und gestelzten Englisch.
„Ich führe Sie als Erstes in die Systematik unserer Arbeitsweise ein.“ Er deutete an die Seitenwände neben seinem Schreibtisch, wo ich drei mit Klappgittern geschützte Schlitze in unterschiedlicher Größe sah. „Hier sehen Sie unsere wichtigsten Papierkörbe. Wir nennen sie Gedächtnislöcher. Sie existieren überall im gesamten Ministeriumsgebäude, auch auf den Fluren und in den Aufzügen.“
„Was dürfte ich darin entsorgen?“
„Wenn man weiß, dass ein Dokument zur Vernichtung bestimmt ist oder man sieht inoffizielle Papiere, getarnt als Abfallpapiere, herumliegen, ist es unsere Pflicht, das Schutzgitter des nächstbesten Gedächtnisloches hochzuklappen und das Papier dem darin herrschenden Luftsog zu überlassen.“
„Ein Luftsog soll etwas vernichten?“, fragte ich ahnungslos.
„Der Luftstrom wirbelt das Stück Papier fort zu unseren hochmodernen Verbrennungsöfen, die im Tiefgeschoss acht Etagen unter der Erdoberfläche arbeiten und an die Energieversorgung des Gebäudes angebunden sind.“
Winston griff nun in eines der Rohrpostfächer, in denen die für ihn vorgesehenen Arbeitsaufträge landeten. Er zog eine Ausgabe der Times vom 17.3.1984 hervor, an der ein Zettel heftete. Darauf stand: BS Rede Fehlbericht Industrie China rechtstellt.
Winston sah zu mir und sagte: „Reine Routine.“ Der Arbeitsauftrag, den er erhalten hatte, bezog sich auf einen Artikel, in dem eine Rede von Big Sister (BS) Margaret Thatcher zur Auslagerung von britischer Industrie zwecks Zerschlagung der Gewerkschaften und wegen der Gewinnung finanzieller Vorteile für die Bank of England abgedruckt war. Der Artikel musste umgeschrieben oder, wie die offizielle Phraseologie lautete, richtig gestellt werden.
So ging aus dem Artikel vom 17. März hervor, dass Big Sister in ihrer Rede am Vortag prophezeit hatte, die Gewerkschaften würden bis zum Ende des Empires eine nationale Gefahr darstellen und auf der anderen Seite würden die lebensnotwendigen, systemrelevanten Finanzeliten durch die Auslagerung einiger Industriezweige nicht genügend Geld generieren können, um neue Finanzprodukte wie gebündelte Immobilienzertifikate und Wetten auf Kreditversicherungen auf den Weg zu bringen. Man müsste noch mehr Kernindustrie und auch die Zulieferindustrie nach Asien auslagern.
In Wirklichkeit jedoch lagen die Gewerkschaften bereits am Boden und die Arbeitnehmerschaft wie auch die Labour-Party hatten kapituliert, wobei Labours Führungselite inzwischen vollständig von amerikanischen Maulwürfen unterwandert war. Dem musste Winston Smith nun Rechnung tragen. Also schrieb er, dass Big Sister in den Gewerkschaften keine Gefahr sah, da diese sich zu Recht als überflüssig begriffen und freiwillig auflösten.
Natürlich sah die Große Schwester in dem neu geschriebenen Artikel voraus, dass die Finanzindustrie clever genug sei, um unendliche Liquiditätsmittel flüssig zu machen, und dass man keineswegs auf den letzten Ausverkauf der Zulieferindustrie angewiesen sei, aber dass dies durchaus überlegenswert wäre, wenn man global als größter Finanzplayer neben der Wallstreet agieren wolle. Winstons Neuschreibartikel endete mit „Wie klug von Margaret, der nationalen Führerin!“
Der Televisor stieß einen Trommelfell zerreißenden schrillen Pfeifton aus, der zirka zehn lange Sekunden anhielt.
Ich schreckte hoch, riss die Augen auf, griff nach meinem Wecker, stellte ihn mit zittriger Hand aus und rieb mir völlig verwundert die Augen. Es war Punkt sieben Uhr.
Puhh, einen solchen Albtraum hätte ich mir nicht – nicht freiwillig! – träumen lassen. George Orwell hatte mich in seiner Totalität in den Bann gezogen; ihm hatte ich diese traumatische Reise zu seiner Romanfigur Winston Smith zu verdanken.
Die Dusche erlöste mich aus meinem verschwitzten Zustand, verschaffte mir Erfrischung und positive Gedanken. Vor mich hin sinnierend schüttelte ich entschieden den Kopf, und meine halblangen Haare flogen mir nass um die Ohren. Niemals würden in unserem demokratischen Land solch exzentrische Zustände der Überwachung herrschen wie in Orwells Ozeanien und seiner Hauptstadt London. Unsere Demokratie, unsere Institutionen, unsere Zivilgesellschaft würde niemals die Durchdringung und Verletzung unserer Privatsphäre hinnehmen. Niemals würden wir gezwungener Maßen oder gar freiwillig die Daten unseres intimsten Lebens einer staatlichen oder privatkapitalistischen Überwachungsorgie preisgeben. Niemals!
Ich musste gerade jetzt an unseren fünfundzwanzigjährigen Nachbarn Stefan denken. Er hatte sich, wie er mir in der Saunarunde berichtet hatte, vor einigen Monaten arbeitslos melden müssen. Da er als Jungschauspieler keine der Arbeitsamtskriterien erfüllte, fing ihn das Netz des Sozialamtes auf. Er musste zwar ein umfangreiches Formular von vier Seiten ausfüllen, aber keine weiteren Belege anfügen. Er bekam den zum Leben notwendigen Unterhaltssatz ohne weiteres ausbezahlt.
„Und was, wenn du nun Vermögen hättest, vielleicht Hausbesitzer wärst?“
„Danach wurde ja gefragt; ich habe es wahrheitsgemäß ausgefüllt, nämlich, dass ich über kein weiteres Vermögen verfüge.“
„Keine Belege?“
„Was soll ich denn belegen, wenn ich nichts habe?“, hatte Stefan geantwortet. „Das Finanzamt und auch meine Bank wissen das doch.“
„Aber es gilt ja das Bank- und das Steuergeheimnis. Wie will denn das Sozialamt die Sache überprüfen?“
„Na hör mal! Unser Staat muss doch seinen Bürgern auch irgendwo glauben! Wer betrügt, kann auffliegen und dann gibt’s ‘ne saftige Strafe. Aber ansonsten leben wir doch nicht in einer Überwachungsrepublik! Noch immer und für immer gilt das Steuergeheimnis. Und auch das Bankgeheimnis ist ein essentielles bürgerliches Recht!“
Ja, dachte ich, da hatte Stefan absolut Recht: Niemals könnten solche fundamentalen Bürgerrechte ausgehebelt, ausgehöhlt und zu einem durchlöcherten Schweizer Käse gemacht werden! Niemals!
Und es gab noch eine Menge anderer Niemals.
Niemals – niemals nach 1945! – würde unser Land oder einer unserer engsten Verbündeten Krieg führen und Millionen Tote in Kauf nehmen. Niemals würde irgendjemand in unserem Land versuchen, die Vergangenheit umzuschreiben und die Greuel der Naziverbrecher beschönigen. Niemals würde irgendwer in diesen unseren Herrschaftsgefilden extra Chaos produzieren, um von den Versäumnissen oder den wahren bösen Absichten der neuen Herrschenden abzulenken.
Niemals würde man uns Angst mit mutwillig erzeugtem Terror einflößen, um uns gehorsam zu halten. Niemals würde unsere Demokratie zur Farce degradiert und niemals würden die Bürgerrechte ausgehöhlt werden. Niemals würden technische Produkte entwickelt, die uns in unserem Haushalt belauschen und mit Privatfirmen oder staatlichen Diensten gekoppelt wären.
Niemals würden wir freiwillig solche Überwachungsgeräte in unser Heim hereinlassen, selbst nicht unter dem Vorwand, dass sie unseren Alltag erleichtern. Eine totalitäre Überwachung durch Geheimdienste