Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.Gewerkschaften würden sich niemals entmachten und die SPD würde sich nicht wie die Labour-Party von überseeischen Einflüsterern unterwandern lassen, niemals! Nein, nein, nein – 1984 war in der Bundesrepublik undenkbar. Völlig undenkbar.
Umweltchaos, Spionage & Fluchthelfer
Am 3. Dezember starben in der indischen Stadt Bhopal über 2.000 Menschen an den Folgen einer Giftkatastrophe. Das Ausströmen von hochgiftigen Gasen aus einem undichten Ventil einer Pflanzenschutzmittel-Fabrik war die Ursache. Die Wirkung war verheerend, mehrere tausend Menschen kostete die Katastrophe das Augenlicht. Fast eine ganze Region wurde blind. Eine menschliche Katastrophe und ein Umweltdesaster ohne gleichen.
Emma und ich – und auch viele unserer Nachbarn, gleich welcher Partei sie gewogen waren – wollten und konnten nicht länger blind gegenüber der neuen Qualität von Umweltbelastungen bleiben. Wir Jungeltern wurden superkritisch.
„Ich glaube, dass man in dem Moment, wo man Kinder hat, wesentlich aufmerksamer in Sachen Gesundheit und Umweltbelastung ist“, sagte Emma, als Doris sie eines Tages darauf ansprach, weshalb alle jungen Mütter plötzlich so viel Wert auf gesunde Umweltbedingungen legten. Das habe früher doch nicht so stark im Focus gestanden.
„Die Umweltbelastungen nehmen rapide zu“, sagte Emma.
„Die Sünden der Vergangenheit werden und wurden von der natürlichen Umwelt lange resorbiert und geschluckt“, ergänzte ich. „Wenn aber gewisse Grenzwerte überschritten sind, ist Sense!“ Meine Einstellung der Wachstumseuphorie gegenüber war deutlich kritischer geworden. Beide Gesellschaftssysteme, Kapitalismus wie Sozialismus, litten aus meiner Sicht unter den gleichen falschen Wachstumsprämissen.
Meine neue wissenschaftliche Ausrichtung auf Aspekte des Umweltschutzes war nur logisch. Ich sichtete und orderte Umweltliteratur am Institut für Sozialforschung, errichtete eine institutsinterne Katalogisierung und forschte bundesweit nach ökologischen Untersuchungen, die in politologischer wie soziologischer Hinsicht von Relevanz waren. Die Zeit jedoch war wohl noch zu früh, und Forschungen, gar Forschungsergebnisse, waren dünn gesät. Aber es gärte. Auch in mir.
Mitte Dezember trafen mich zwei DDR-Ereignisse kurz hintereinander. Als erstes besuchten uns Ronny, der Frankfurter Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, und seine 1981 aus der DDR geflüchtete Freundin Josi.
Das zweite Ereignis trat etwas später ein, denn Tamara, meine gute Freundin aus Ostberlin, Maschinenbauingenieurin und inzwischen Funktionärin des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, FDGB, in der DDR, kündigte ihren Besuch im Frankfurter DGB-Haus an und fragte um Übernachtung bei uns nach.
Ronny – das erste Ereignis – war ein alter Klassenkamerad, noch aus Zeiten der Realschule; er war eine Klasse unter mir gewesen. Trotz seines konservativ-angehauchten Berufsstandes liebäugelte er mit den Frankfurter Hausbesetzern und verstand sich als bürgerlicher Rebell. Er konzentrierte sich mandantenmäßig auf linke Betriebe wie kleine und mittelgroße Verlage, Cafés und Kneipen, Buchhandlungen, Kinderläden, selbstverwaltete Betriebe, alternative Taxiunternehmen, ehemalige Kommunen, die nun Landwirtschaft und Viehzucht betrieben und solche Dinge.
Darüber hatte er, wie ich im September anlässlich einer Datenschutz-Konferenz im Hessischen Landtag erfahren hatte, Kontakt zu einem der linksradikalen Hausbesetzer gefunden, der Joschka hieß. Nun erzählte mir Ronny von dieser Bekanntschaft, da er ihn inzwischen als Taxifahrer und Grünen-Abgeordneter steuerlich berate. Wir kamen auf Fischers Putztruppe, auf Frankfurts radikale Spontis, zu sprechen, die ich politisch nicht ausstehen konnte.
Sie waren totale Antikommunisten. Und diese – auch noch „links“ verkleidete – Propaganda-Ideologie empfand ich gemäß der Einsicht von Thomas Mann als eine »Grundtorheit unserer Epoche«. Denn die ursprüngliche kommunistische Idee von Karl Marx war absolut in Ordnung. Es war die Idee einer entfremdungsfreien Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Sie war nicht nur verlockend – sie war eine alte historische, ja paradiesische Idee der Menschheitsgeschichte. Alle Religionen, alle fortschrittlichen Philosophien orientierten sich mehr oder minder an solchen Vorstellungen von einer freien, selbstbestimmten Gesellschaft, in der nicht Wenige über Viele bestimmen, sondern alle gemeinsam in demokratischem Konsens das Sagen haben.
Aus meiner politischen Sicht beschädigten die Westend-Schlägertrupps rund um Fischer und Cohn-Bendit diese Idee und beförderten zugleich den Überwachungs- und Polizeistaat, kitzelten mit ihrer linksradikalen Kinderkrankheit die reaktionäre Gegengewalt geradezu heraus.
Überdies waren sie – ähnlich wie die RAF – rabiaten Gewalttätigkeiten gegenüber Sachen, wie gegenüber Personen nicht abgeneigt. Auch waren sie über den Terroristen Hans-Joachim Klein dicht verwoben mit den Terrorbanden der Roten Zellen, die ich im Verdacht hatte, eine Funktion ähnlich der von US- und italienischen Geheimdiensten gegründeten Roten Brigaden einzunehmen. Das verheerende Terrorwirken beider Organisationen nutzte nur den reaktionären Obrigkeiten.
„Weißt du, was ich so toll finde?“, fragte Ronnys Freundin Josi und sah mich an, wie jemand, der gerade das Licht am Ende des Tunnels entdeckt hatte.
„Was?“
„Dass man hier frei demonstrieren kann, ohne Angst haben zu müssen, dass man eingesperrt wird. Guck mal, was der Joschka Fischer alles angestellt hat und jetzt ist er angesehener Landtagsabgeordneter.“ Josi sah bedeutungsschwer in die Luft. „So etwas ist in der DDR nicht möglich. Ich bin froh, dass ich da rausgekommen bin.“
„Wie bist du eigentlich da rausgekommen?“, fragte ich, ohne auf ihre merkwürdigen Erkenntnisse einzugehen.
„Na ja, darüber redet man nicht.“
„Bist du gegen Ost-Agenten ausgetauscht worden?“, fragte ich lachend, „oder warum machst du da so ein Geheimnis draus?“
Sie sah mich entgeistert an. Offensichtlich hielt sie mich für bekloppt.
„Oder hat dich die Bundesregierung einfach nur freigekauft?“
„So wichtig bin ich wohl nicht!“, sagte Josi.
„Dann sag doch mal: Bist du irgendwie offiziell rüber gekommen? Oder eher inoffiziell und ganz abenteuerlich durch einen Tunnel? Ich verrate nichts weiter, Hand aufs Herz!“, beteuerte ich, musste aber doch breit grinsen.
„Du nimmst mich nicht ernst“, sagte Josi. „Du kannst das alles gar nicht nachvollziehen.“
„Was denn nachvollziehen?“
„Na ja, wie einem zumute ist, wenn man es da drüben nicht mehr aushält und in den Westen will, aber einfach nicht kann.“
„Verrate mir wenigstens, ob du einen Ausreiseantrag gestellt hast.“
„So etwas ist doch bei den Kommunisten völlig aussichtslos. Die lassen dich doch nicht einfach ausreisen.“
„Du hast es nicht versucht?“
„Wenn ich es versucht hätte, wäre ich auf einer schwarzen Liste gelandet; man hätte mich unter besondere Beobachtung gestellt und alle Fluchtmöglichkeiten wären mir auf immer verstellt gewesen.“
„Weißt du das hundertprozentig? Hast du das mit der schwarzen Liste von anderen gehört?“
„Nein, aber es ist doch logisch.“
„Warst du in einem besonderen Berufsbereich beschäftigt, vielleicht in einem Sicherheitsbereich?“
„Nein, ich war nur Verkäuferin in einem HO-Laden in Dresden. Trotzdem hätten die mich nicht ausreisen lassen. Sonst hätte ja jeder kommen können.“
„Ging es dir denn schlecht?“
„Was heißt schlecht! Es geht um die ganz persönliche Freiheit! Hier geht es mir doch viel besser! Hier kann ich kaufen, was ich will. Nichts ist limitiert; nichts gibt’s nur saisonal. Orangen und Bananen das ganze Jahr über! Hier kann ich mich über alles offen informieren, so viele Zeitschriften und Bücher. Ich kann reisen, wohin ich will. Ich kann alle möglichen Berufe