Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig

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Rasante Zeiten - 1985 etc. - Stefan Koenig


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Eine Regelung der Postüberwachung war bereits im geltenden Strafprozessrecht vorhanden. Der dritte Teil, Artikel 3, enthielt den vom Grundgesetz geforderten Hinweis, dass dieses Gesetz das Grundrecht nach Artikel 10 Grundgesetz einschränkte.

      „Hallo!“, rief Josi über den Tisch, „bei euch wurde also erst sehr spät, ab Ende der Sechziger Jahre, abgehört!“

      „Erstens stimmt das nicht“, antwortete ihr Freund, „und zweitens wäre das keine Entschuldigung dafür, dass immerhin eines der wichtigsten Grundrechte außer Kraft gesetzt wurde.“

      Mir fiel jetzt wieder ein, wie man die Westdeutschen geschickter Weise schon lange vor der Verabschiedung des G 10-Gesetzes inoffiziell bespitzelt hatte.

      „Josi, es ist so“, sagte ich, „dass schon gleich nach der Gründung der Bundesrepublik die Siegermächte USA, Frankreich und Großbritannien den von ihnen aufgebauten westdeutschen Sicherheitsbehörden erlaubten, unter ihren alliierten Fittichen und unter ihrer technischen, logistischen und personellen Mithilfe zu schnüffeln.“

      „Gewiss nur in Ausnahmefällen!“, warf Josi ein. „Ausnahmen, wenn Gefahr im Verzug war! Du redest eure Demokratie schlecht!“

      „Unsere Demokratie!“, sagte ich und betonte das Pronomen. „Du gehörst ja jetzt dazu! Du gehörst zum Westen, oder?“

      Dann ging ich zum Bücherregal und kramte eine Zeitschrift hervor, die die Bundeszentrale für Politische Bildung herausgab, Das Parlament. Ich blätterte sie auf und suchte nach einer bestimmten Zahlenangabe, die ich vor kurzem wahrgenommen hatte.

      „Um Gefahren, die zwar nicht vorhanden, aber möglich waren, rechtzeitig zu erkennen oder auszuschließen, war nach Auffassung der westdeutschen Geheimdienste eine allgemeine Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs etwa mit Osteuropa, teilweise auch mit Westeuropa und natürlich gerade auch innerhalb der Bundesrepublik notwendig“, erklärte ich und strich nun meinerseits eine gehörige Portion Bautz’ner Senf auf die Rindswurst – und dachte dabei still und leise: Alles für die Devisen der DDR.

      „Hm, und was sagt uns das?“, fragte Josi.

      „Dass es sich hierbei nicht nur um Maßnahmen in einer spezifischen Gefahren- oder Ausnahmesituation handelt, sondern um das tagtägliche Routinegeschäft der Nachrichtendienste, das sagt uns das! Das machen allein schon die Zahlen deutlich, die der Präsident des Bundesnachrichtendienstes in einer Besprechung mit Vertretern der Bundestagsfraktionen im Bundeskanzleramt nannte.“

      Ich hatte die Stelle mit den Zahlen gefunden und las vor: „Allein bei den Amerikanern fielen aufgrund der täglich durchgeführten allgemeinen Überwachung ca. 26.000 Kontrollfälle und etwa 12.000 Auswertungsfälle pro Monat an.“

      „Na und?“, sagte Josi lapidar.

      „Nix na und ..! Das heißt schließlich auch, dass die Betroffenen überhaupt kein Recht auf richterliche Überprüfung haben, da Geheimdienste ihre Praxis nicht offen legen müssen“, sagte Ronny. „Da scheinen sich doch Ost wie West irgendwie zu gleichen. Keiner traut seinen Bürgern. Ich möchte nicht wissen, was der Verfassungsschutz alles über mich in seinen Akten widerrechtlich und obendrein wahrscheinlich noch grundfalsch festgehalten hat. Schließlich paktiere ich ja als Steuerberater mit bösen subversiven Kräften wie ehemaligen Hippiekommunen, grünen Dorfläden und rosa-roten Buchhandlungen.“

      *

      Das andere, zweite DDR-Ereignis schneite in Person von Tamara wie ein Wirbelsturm herein. Ich hatte sie erwartet und ihr gerade die Tür geöffnet. Ihre langen dunklen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug DDR-Jeans und einen hellblauen Rolli, der ihre blauen Augen betonte. Die Begrüßungszeremonie war herzlich und nahm die Form zwischen Freunden an, die das Wiedersehen wirklich tief zu schätzen wussten. Freunde, denen klar war, dass sie sich niemals oft sehen würden, wenn es dann aber so weit war, dann so intensiv, als wäre es das letzte Mal.

      „Wie lange kannst du bleiben?“, fragte ich.

      „Das DGB-Symposium geht über drei Tage.“

      „Wirst du auch Zeit haben, dir mal mit mir Frankfurt anzuschauen?“

      „Aber sicher. Meine FDGB-Delegation hat zwar eine Einladung vom Landesvorstand der IG Metall zu einer gemeinsamen Rundtour durch den Rhein-Main-Bezirk, aber ...“

      „Hier heißt es Rhein-Main-Region“, musste ich unnötigerweise richtigstellen, um mich sogleich für diese Richtigstellung zu entschuldigen. „Ach was“, fügte ich schnell hinzu, „es ist völlig egal, ob Bezirk oder Region. Der Begriff Bezirk kam mir eben nur etwas fremd vor. Aber es ist echt total blöd von mir …“

      „Alles gut“, beschwichtigte mich Tamara. „Bei uns heißt halt alles Bezirk.“

      Wir mussten über diese ausgesprochene Unwichtigkeit herzlich lachen. Dann erzählten wir uns über unsere Kinder, über unsere Arbeit, über die Zukunft, über unsere Erwartungen.

      „Wie geht es eurem Jungen?“, fragte Emma.

      „Mike ist jetzt zwanzig Monate, und er ist diesen Mai in die Kinderkrippe gekommen. Das erste Halbjahr war ich bei ihm zu Hause. Das zweite Halbjahr blieb Vitali bei unserem Kleinen.“

      „So etwas wie die Kinderkrippe kennen wir hier eigentlich nicht. Bist du mit dieser Art Kinderbetreuung zufrieden? Fühlt Mike sich wohl? Ich denke, vielleicht ist so eine Krippe zu früh für ein Kleinkind.“ Emma sah erwartungsvoll zu Tamara.

      „Für uns berufstätige Eltern und hauptsächlich für uns Frauen löst die Krippe ein dickes Problem. Wir wollen gleichberechtigt mit den Männern unser Geld verdienen und die Kleinen sollen zugleich geborgen und integriert in einer gleichaltrigen Gemeinschaft aufwachsen. Und das leistet die Betreuungseinrichtung sehr gut.“

      „Aber liegt der Ursprung nicht ganz woanders? Ist es nicht so, dass es einerseits für die Staatswirtschaft und andererseits für die finanzielle Situation der Familien wichtig ist, dass ihr Frauen in der DDR arbeitet?“

      „Na mal ehrlich: Wärt ihr Frauen hier nicht auch froh, wenn ihr unbeschwert arbeiten gehen könntet? Natürlich nur, sofern man will oder sofern es die Haushaltskasse nötig hat. Nur habt ihr ja hier im Westen gar keine Wahl, weil es keine Kinderkrippen gibt.“

      „Man muss es hier privat organisieren, was zugegebenermaßen sehr schwierig ist“, sagte Emma.

      Tammi wiegte zustimmend ihren Kopf. „Deshalb wurden bei uns die Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder früh und umfassend schon in den Anfangszeiten der DDR ausgebaut. Im letzten Jahr betrug die Versorgung von Krippenkindern im Durchschnitt 80 Prozent, in den Großstädten lag sie bei fast 100 Prozent. Kindergartenplätze waren für 94 Prozent und Hortplätze für 81 Prozent der Kinder vorhanden.“

      „Davon können wir nur träumen. Ich habe vor einiger Zeit einen Artikel im stern gelesen und mir die bundesdeutschen Zahlen für unsere Saunarunde rausgeschrieben. Eine Katastrophe“, sagte ich. „Demzufolge gibt es bei uns gerade mal für zwei Prozent der Kinder einen privaten Krippenplatz, für immerhin 78 Prozent einen Kindergartenplatz und für nur vier Prozent der Schulkinder einen Hortplatz.“

      Wir unterhielten uns dann über die Kosten und die Öffnungszeiten in beiden Staaten. In der DDR wurde die Finanzierung beispielsweise vom Staat übernommen. Die Betreuung war dadurch für die Eltern kostenfrei. Lediglich für die Verpflegung mussten sie zahlen. Tamara berichtete, dass ein Mittagessen für ein Krippenkind 1,40 DDR-Mark kostete, das für ein Kindergartenkind 35 Pfennige. In der BRD mussten die Eltern für beide Leistungen tiefer in die Tasche greifen. Zwischen 80 und 160 DM kostete im Monat die Betreuung des Nachwuchses und zwischen drei und vier DM ein Mittagessen für die Zöglinge.

      „Bei uns sind außerdem alle Einrichtungen für die Kinderbetreuung zwischen 6:00 Uhr und 19:00 Uhr geöffnet, also sehr lange!“, erzählte Tamara weiter von den Verhältnissen in der Deutschen demokratischen Republik.

      Emma war erstaunt und hielt westliche Bedingungen dagegen. „Hier schließen die Kindergärten meist mittags, einige wenige manchmal


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