Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.Ein Erfahrungsaustausch ist immer gut, um Brücken zu schlagen.“
„Genau“, sagte Emma, „da wären wir wieder beim Karat-Song: »Über sieben Brücken musst du gehn, sieben dunkle Jahre überstehn, siebenmal wirst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein«. Hoffen wir mal, dass unsere westdeutschen Gewerkschaften ihre dunklen resignativen Zeiten hinter sich haben und eurer Delegation einen etwas helleren Schein mit auf den Weg geben können.“
„Oder umgekehrt“, sagte Tamara lachend.
Emma ging mit ihr hoch in die Mansarde, um ihr die Schlafstube und das klitzekleine Bad zu zeigen. Oben flüsterte sie ihr zu: „Hier drunter wohnt unsere neugierige Tante Ria. Sie ist schon achtundsiebzig, sieht und riecht und hört aber noch alles. Manchmal hört sie sogar die Flöhe husten. Wenn du ihr morgen Früh zufällig begegnen solltest und sie dich verwundert fragt, wer du bist, dann sag einfach, dass du unsere gute Freundin aus Berlin bist. Mehr muss sie nicht wissen.“
Tammi lächelte wissend. „So Leute gibt’s in jeder Gesellschaft“, flüsterte sie zurück.
Als ich neben Emma einschlief, gingen mir der sichere Arbeitsplatz von Tammi und mein unsicherer Uni-Job durch den Kopf. Meine leisen Existenzängste waren in der Stille der Nacht ernsthaft spürbar. Es gab keinerlei Chance, meinen Zeitvertrag an der Uni zu verlängern.
Nichts, absolut gar nichts stand perspektivisch in Aussicht. Ich hatte auch keine Idee – außer wieder ins Journalistengeschäft einzusteigen, diesmal vielleicht in den »großen Journalismus« der Massenpresse. Wollte ich aber wirklich dort landen? In einer Branche voller Ungewissheiten, voller geheuchelter Liebedienerei, einem Handwerk mit beschränkter Haftung, dafür mit beschränkter Berichtsfreiheit und mit äußerst beschränktem Einkommen? Freier Journalist in der freien Wildbahn der Konzernpresse?
Ich schlief ein, aber schon nach drei Stunden wurde ich wieder wach, und die bedrückende Frage rotierte in meinem Schädel: Wie konnte es bei mir nur weitergehen? Sollte ich es demnächst mit Emma besprechen?
Ich drehte mich von einer Seite auf die andere, bis ich endlich wieder eingeschlafen war. Am Morgen war ich mir ganz sicher: Ich wollte es nicht mit Emma besprechen, wollte meine Sorgen nicht auf ihr abladen, obwohl es ja hieß, geteiltes Leid sei halbes Leid. Aber noch war das Leid ja nicht so groß, noch lagen achtzehn einkommenssichere Monate vor mir. Ich musste kreativ sein und musste bald schon handeln. Könnte ich nur in die Glaskugel gucken!
Weihnachten holten wir die Christkugeln raus. Wir schmückten die Wohnung festlich und stellten die von Opa Otto ausgesägten und bemalten zwanzig bis dreißig Zentimeter hohen Holzfiguren auf die Fensterbänke – Märchenfiguren wie die Sieben Zwerge und Schneewittchen, Rotkäppchen und der Wolf, dazu drei Tannenbäume. Zwei typische Weihnachtsmänner mit Rauschebart und Rute und den Geschenksäcken auf dem Buckel durften nicht fehlen. Diese von Otto bunt bemalten Holzfiguren hatten mich schon in meiner Kindheit und Jugend zum Weihnachtsfest erfreut.
Es war das erste Weihnachten zu Viert – im weiteren Verlauf natürlich mit Oma und Opa, mit meinem Bruder Günter samt seiner Kleinfamilie, die am zweiten Feiertag zu Besuch kamen. Meine Schwester Ursula und ihre Familie blieben aus fadenscheinigen Gründen fern. Sie kamen irgendwann nach Weihnachten, als Emma und ich nicht zu Hause waren. Schwager Claus war immer noch ein Stänkerer, aber immerhin hatte er nun seine Bestätigung als Ortsbeirat in der CDU gefunden. So verblasste seine NPD-Vergangenheit immer mehr, und er wurde trotz seiner persönlichen Macken offensichtlich immer besser in das integriert, was sich normale Gesellschaft nannte.
Zum Jahreswechsel fanden die USA allerlei Vorwände, um aus der UNESCO, der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur auszutreten. Schon ein Jahr zuvor hatten sie ihre Zahlungen eingestellt, weil ihnen einfach die humanitäre Ausrichtung der UNESCO-Politik nicht in den Kram passte. Dass diese erpresserische machtpolitische Einstellung zur Gewohnheit werden würde, dachte man damals noch nicht.
Im Radio lief ein Rückblick, und die Toten des öffentlichen Lebens wurden aufgezählt. Der britische Blues-Musiker Alexis Korner war schon Anfang des Jahres gestorben. Er war sechsundfünfzig Jahre alt geworden. In seiner Band »Blues Incorporated« hatten britische musikalische Stars wie Mick Jagger, Ginger Baker, Dick Heckstall-Smith, Charlie Watts, Cyril Davis, Jack Bruce, Brian Jones und Duffy Power gespielt.
Ich erinnerte mich an den »Summer of Love«, an unser deutsches Woodstock auf Fehmarn im Jahr 1970. Da hatte uns Alexis Korner als Moderator in Deutsch und Englisch durch das verregnete Konzert-Programm geführt. Wie sich herausstellte, sollte Alexis während des Festivals weit mehr als nur ein Ansager sein. Immer wieder musste er, um lange Pausen zu überbrücken, einige Lieder auf seiner Gitarre zum Besten geben, musste die Zuschauer vertrösten. Doch trotz aller Pannen war es ihm irgendwie gelungen, »good vibrations« zu verbreiten.
Lange war es her. Eineinhalb Jahrzehnte waren vergangen. Jugend ade.
Jetzt war Alexis Korner tot. Es führte einem die Vergänglichkeit vor Augen. Ein Kommen und Gehen auf dieser Welt.
Karola und Luca schliefen in der Silvesternacht tief und fest. Emma, Lollo, Otto und ich tranken vorab schon einen Mumm und schalteten langsam aber sicher in den Jahres-Abschiedsmodus. Mein Vater zündete ein kleines Tischfeuerwerk.
Im Radio hörten wir zufällig auf einem nebulösen Sender nebulöse astrologische Voraussagen für 1985. Der amerikanische Präsident würde ermordet; Erich Honecker würde gestürzt; Helmut Kohl würde sich scheiden lassen; ein Sonnensturm würde die Stratosphäre durcheinanderwirbeln und zu nervösen Störungen führen.
„Noch mehr nervöse Störungen?“, fragte meine Mutter, und wir lachten und schworen uns, diesmal alle Voraussagen zu notieren, um sie Ende des kommenden Jahres auf ihre Trefferquote zu überprüfen. Dann schalteten wir auf den allerletzten Drücker den Fernseher an.
Der ARD-Moderator zählte gerade die Sekunden, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei zwei, eins, und der Zeiger sprang auf null Uhr. Das Orwell-Jahr war zu Ende. Die Mittachtziger begannen.
1985 & die Generation Golf
Lutz kam aus Berlin zu Besuch. Aus dem pubertären Jungen war ein sechsundzwanzigjähriger Mann geworden. Früher hatten die siebeneinhalb Jahre, die zwischen uns lagen, eine enorme Distanz bedeutet. Jetzt waren die paar lächerlichen Jährchen bedeutungslos. Wir hatten uns seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte sich stark verändert, war schlank, hochgewachsen, trug Dreitagebart, schicke Klamotten und fuhr einen Golf.
„Ah, Generation G.!“, sagte ich, und in meiner Stimme schwang wohl etwas Mehrdeutiges, vielleicht sogar Skepsis mit.
„Nein, ich gehöre nicht zur Generation Golf“, erwiderte Lutz so bestimmt, dass ich beruhigt war.
Wir standen an seinem silbergrauen fahrbaren Untersatz, und ich seufzte ein erleichtertes, hörbares „Uff, gut so!“
„Zu ihr gehören die zwischen 1965 und 1975 Geborenen. Nina zum Beispiel gehört eher dazu.“
„Eine ziemlich verwöhnte Generation“, antwortete ich beiläufig, wobei mir die Erwähnung von Nina im Hinterkopf blieb. Lutz war einmal Ninas, fast acht Jahre älterer, beschützender Freund gewesen. Beinahe hätte er sich damals in seine kleine Nachbarin verliebt, doch dazu war sie zu jung. Immerhin hatte er ihre Not bemerkt. Schließlich hatte Lutz in seiner Pubertät ebenso mit seiner Mutter über Kreuz gelegen, hatte den geschiedenen Vater vermisst und verflucht und war ausgebüxt.
Ich lotste ihn jetzt samt seines altbewährten Seesacks, den ich noch aus San Francisco kannte, ins Haus, wo er Emma und die Kinder herzlich begrüßte.
Später saß ich alleine mit ihm am Kamin, während an diesem Abend Emma den Kindern aus einem unserer vielen Kinderbücher vorlas und die Bilder erklärte. Diesmal waren es weder Bauernhof- noch Tierbilder. Es war auch nicht das erst vor vier Wochen noch höchstbeliebte Weihnachtsbilderbuch. Ich hatte auf dem Heimweg von meinem Arbeitsplatz an der Frankfurter Uni bei der Kollektiv-Buchhandlung