Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.audire“-Chores und schwärmte davon, wie der Chor anlässlich des irischen Musikfestivals 1976 in Dublin den dritten Preis ersang. Dr. Witthuhn hätte ebenso Musiker sein können. Auch kannte er sich glänzend in der zeitgenössischen Malerei aus. Das zeigten die ausgesuchten, meist schief hängenden Bildreproduktionen an den Wänden seines ihm von der Owambo-Administration zur Verfügung gestellten Flachbauhauses mit Asbestwänden und Wellblechdach, das sich aus vier Zimmern, Küche, Duschraum und einer separaten Toilette zusammensetzte. Ein nicht weniger wichtiges Augenmerk in seinem Leben galt dem Gaumen und seinen Genüssen. Es schien zu seinen Abenden zu gehören, dass er mit Beginn des Sonnenuntergangs ungleich zerhacktes Ast- und Wurzelholz in die durchlöcherte Blechwanne in genialischer Unordnung übereinander legte, das Feuer entfachte und dabei den Papageno imitierte. „Ist das nicht herrlich?“, entzückte sich Dr. Witthuhn mit Blick gegen den sich rot färbenden Himmel mit der untergehenden Sonne, während unter leichtem Quietschen der Grammophonnadel in den ausgefahrenen Rillen der zu viel gespielten Platte Mozarts Zauberflöte aus der offenen Tür und dem gekippten Oberfenster des Wohnraums in der Wiedergabe der Wiener Philharmoniker unter Karl Böhm drang. „Das ist meine Medizin nach einem Tag Oshakati Hospital“, lachte er. Dann ging er zu seinem blauen BMW der Mittelklasse, den er als Superintendent eines Hospitals von der Gesundheitsadministration gratis bekam, öffnete den Kofferraum, holte Fleisch verschiedener Sorten, „Boerewors“ (Burenwurst), ein Zweikilonetz mit Kartoffeln, eine Plastiktüte mit vegetarischem Zubehör und eine Zwölferlage Bierdumpies der Marke „Guinness“ heran. Das Feuer in der durchlöcherten Wanne brannte lichterloh, als er die ersten zwei Dumpies öffnete, den Willkommensgruß für Dr. Ferdinand in Oshakati aufsagte, mit seiner Flasche leicht gekreuzt gegen dessen stieß und nach dem „Prost!“ sein Bier fast austrank.
Als die Flammen mit dem Züngeln aufhörten, verteilte Dr. Witthuhn die Glutstücke in der Wanne, wobei kleinere Stücke durch die Wannenlöcher glühend auf den Boden fielen, so dass man mit den Füßen aufpassen musste. Er legte den alten Rost mit den weit auseinander liegenden Quer- und Längsstäben auf die Wanne und die Schweinekoteletts, die Filetstücke vom Rind und die „Boerewors“-Kringel auf den Rost. Ein köstlicher Bratenduft begann aufzusteigen, dass einem das Wasser im Munde zusammenlief. Steaks und „Boerewors“ schmorten auf dem Grill, Dr. Witthuhn öffnete die nächsten Dumpies, man prostete sich zu, als plötzlich schwere Kanonenschüsse losdonnerten, Geschosse über Haus und Grill zischten, in der Ferne einschlugen und fürchterlich detonierten. Dr. Ferdinand erschrak dermaßen, dass ihm die Flasche aus der Hand rutschte und das auslaufende Bier seine Hose bekleckerte. Er erinnerte sich an die Fliegernächte seiner Kindheit in Köln, als die Bomben vom Nachthimmel runterzischten und in die Häuser krachten und sein Vater ihn, als er acht Jahre alt war, aufforderte, ihm mit einem Eimer Sand zu folgen, um die Brandbombe mit dem roten Streifen um den Zylinder gemeinsam zu löschen, die in die Bodenetage der Nippeser Zweigstelle der Kölner Stadtsparkasse eingeschlagen war. „So etwas kommt hier häufiger vor“, sagte Dr. Witthuhn, als er ihm eine neue Flasche öffnete, „besonders dann, wenn die Brigade ausgewechselt wird.“ Dickbereifte Militärfahrzeuge, die gefürchteten „Casspirs“ mit MGs über dem Fahrerhaus und aufsitzenden Mannschaften rasten über die Straße und wirbelten riesige Sandwolken auf, die über Haus und Grillplatz zogen und erst dahinter niedergingen. „Jetzt trinken wir erst einmal, das ist alles nicht so schlimm. Prosit der Geselligkeit!“ Nach diesen aufmunternden Worten leerte er seine Flasche, legte Kartoffeln auf den Rost zwischen die dampfenden Steaks und die „Boerewors“ und drehte und verschob mit der verrußten, fettverschmierten Zange die Dinge auf dem Rost wie ein Küchenmeister. Beide tranken auf eine gute Zusammenarbeit und eine bessere Zukunft und bestätigten einander, dass es nichts Besseres gegen den Durst gibt als ein gut gekühltes Bier. Für Dr. Ferdinand war der Satz, dass es sich hier im Norden auch unter den Granaten leben lässt, mit Zweckoptimismus gekoppelt, wobei die Kopplung für jene Menschen zutraf, denen es schon dreckig genug erging. Aus dem „guten Leben im Norden“ konnte er seine ersten Vermutungen ziehen, in welcher Lebenssituation Dr. Witthuhn steckte.
Der Dorfname „Oshakati“, ein Bantuwort aus der Sprache der Ovambos, bedeutete so viel wie Stadt der Mitte. Vieles, was mit diesem Namen verbunden war, sollte erst noch erlebt werden. Doch zeigte sich mit dem Lauf der Jahre, dass mit diesem Namen eine Schlüsselfunktion verbunden war. Der Bart dieses Schlüssels wurde zunächst von weißen Händen gedreht, erst langsam und dann schneller, bis die Türen fest verschlossen waren, dass für die Menschen der schwarzen Haut, die ums nackte Leben kämpften, nichts mehr ging. Jahre später drehten schwarze Hände den Bart des Schlüssels andersrum, um die Tür aufzumachen, die zum Leben nötig ist. Doch das mit dem völligen Rumdrehen des Schlüssels mit dem „Upsidedown-Syndrom“, dem Oben-unten-Prinzip, stand noch vor der Drehung der Münze. Das Ringen um die Schlüsseldrehung, um die offene Tür, war in den Gesichtern der Menschen zu lesen. So sollte Oshakati, das in der Kriegszone lag, eine zentrale Bedeutung zukommen, wenn es um das Oben-unten-Prinzip und seine Umkehrung ging, die direkt mit dem Freiheitskampf und der UN-Resolution 435 in Beziehung stand. Noch war es das Phänomen der verschlossenen Tür, die nur für die Weißen offen, für die schwarze Bevölkerung dagegen nicht passierbar war. Die Weißen hatten die Macht, sie hielten den Machtschlüssel fest in ihren Händen und bestimmten das Leben der Menschen, auch wenn sie es nicht mehr ertragen konnten. Es war eine politische Realität, die mit der Vernunft nichts am Hut hatte. Wer den Schlüssel hat, der hat die Macht. Mit guter Erziehung oder herausragender Bildung hatten diese Realitäten nichts zu tun, im Gegenteil, sie schlugen der Bildung mit dem menschlichen Antlitz mitten ins Gesicht.
„Sehen Sie, da gibt es noch einige Formalitäten zu erledigen, ehe Sie mit der Arbeit beginnen können“, setzte Dr. Witthuhn beim genüsslichen Verzehren seines Steaks an, „wir brauchen die Arbeitsgenehmigung vom ,Medical & Dental Council’ in Pretoria. Ich werde gleich Montag früh dort anrufen. Doch brauche ich dafür noch ein Schreiben des ärztlichen Direktors, aus dem hervorgeht, dass Sie hier dringend gebraucht werden.“ Was Dr. Witthuhn nicht sagte, war, dass der deutsche Facharzt in Pretoria im Gegensatz zum britischen nicht anerkannt wurde, und dass die Arbeitserlaubnis, als „Practitioner“ zu arbeiten, sich ausschließlich auf das Oshakati Hospital beschränkte. Dr. Ferdinand sah die ersten beruflichen Wolken aufziehen und spürte Bitternis über die ungleiche Behandlung von Ärzten, die hier so dringend gebraucht wurden. Dr. Witthuhn wusste, dass der neue Kollege ein hoch qualifizierter Chirurg mit den Teilgebieten Traumatologie und Plastische Chirurgie war. Zudem hatte Dr. Ferdinand eine stattliche Anzahl von Publikationen in deutschen und internationalen Journalen aufzuweisen. Doch die deutsche Expertise war hier wie in Pretoria, wenn es um Formalitäten ging, nicht erwünscht. Dr. Eisenstein, „Colonel, Direkt or of Health and Welfare“, ließ sein kurz gefasstes Schreiben über die Dringlichkeit eines Chirurgen am Oshakati Hospital erst am Dienstagmorgen Dr. Witthuhn überreichen, der es zusammen mit den deutschen Zertifikaten und einem persönlichen Anschreiben noch am selben Tag per Fax an das Council absandte. Den Empfang dieser Papiere ließ er sich telefonisch durch eine Frau van Vuuren bestätigen. Jeden Morgen war um 7.30 Uhr eine Besprechung im Arbeitszimmer des Superintendenten angesetzt, an der die im Hospital arbeitenden Ärzte, die Matronen und je ein Vertreter der Pharmazie und der sozialen Dienste teilnahmen. Von den elf Ärzten waren sieben in der Uniform der südafrikanischen Streitmacht; die restlichen vier waren drei Ovambos, zwei Kolleginnen und ein Kollege, von denen zwei in Durban und eine an der UCT (University of Cape Town) studiert und den „Bachelor of Science“ erreicht hatten, und Dr. Ferdinand. Bis auf die drei Ovambos hatten alle die weiße Hautfarbe. Das war die Situation in der ersten Januarwoche des Jahres 1985. Das Ovamboland war Kriegs- und Sperrgebiet, und ein Ende des Krieges zwischen den Partisanenkämpfern der SWAPO (Southwest African People’s Organisation) und den Streitkräften der südafrikanischen Besatzungsmacht war nicht abzusehen. Die Lage war gespannt und das Oshakati Hospital in einer kritischen Situation. Es war hoffnungslos überfüllt, und die Ärzte waren bei Weitem überfordert. Die Arbeit wurde erschwert durch den Mangel an wichtigsten Medikamenten, die notwendig waren zur Bekämpfung von Wundinfektionen, Malaria, Lepra, Tuberkulose, Eiweiß- und Vitaminmangelerkrankungen; auch an Instrumenten und dem nötigsten Material zur Durchführung von Operationen und der Versorgung von Knochenbrüchen fehlte es.
So war die Morgenbesprechung von Montag bis Freitag meist eine Wiederholung der schier unlösbaren Probleme bei der Beschaffung des Allernötigsten. In dieser Situation offensichtlicher