Mehnerts Fall. Peter Schmidt

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Mehnerts Fall - Peter Schmidt


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weiter wurde eine Schiebetür geöffnet. Das neugierige Gesicht einer alten Frau erschien.

      Die Polizistin mit der Stange begann den Raum unter den Sitzen abzusuchen. Als sie dort nichts fand, suchte sie im Spiegel das Gepäckfach über der Tür ab; sie leuchtete jeden Winkel aus. Die andere stand mit verschränkten Armen neben ihr. “Falls Sie Westzeitungen suchen …“, bemerkte Iven bissig, “– ich könnte Ihnen bei meiner nächsten Fahrt welche mitbringen?“

      „Werden Sie nicht unverschämt, Herr Karwel. Sie befinden sich immer noch auf dem Gebiet der DDR.“

      Die andere nahm die Stange mit dem Spiegel herunter und sah Iven an. “Für einen Westdeutschen sprechen Sie recht merkwürdig“, sagte sie. “Haben Sie früher in der Deutschen Demokratischen Republik gelebt?“

      Iven schüttelte den Kopf. Karwel war in der Nähe von Augsburg aufgewachsen.

      Als sie endlich gegangen waren, lehnte er sich in die Polster zurück und zündete sich nervös eine Zigarette an.

      Der Zug erreichte die Grenze gegen drei Uhr morgens. Irgendwann nach zwei Dritteln der Strecke hatten sie die Elbe überquert. In der beginnenden Morgendämmerung sah das Land mit seinen grünen Weiden und den ziehenden Bodennebeln gar nicht viel anders aus als zu Hause.

      Bei der Einreise hatte es keine Probleme gegeben. Iven trank einen Kaffee im Speisewagen.

      Es mochte an der frühen Stunde oder an dem Wasser liegen – das Zeug schmeckte genauso schlecht wie der Kaffee, den sie im Büro tranken!

      Danach ging er ins Waschabteil, um sich zu rasieren. Der fremde Rasierschaum aus seiner Reisetasche roch nach Zitrone.

      Auf westdeutschem Gebiet war eine ältere Dame zugestiegen. Sie trug einen Fuchs, und ihre Finger waren mit Ringen bestückt. Es brauchte nur ein freundliches Kopfnicken, um zu erfahren, dass sie ihre Rückfahrt von einer Besuchsreise in den Osten unterbrochen hatte.

      Iven hielt wenig von den Reisen der Westler. Sie setzten den eigenen Leuten nur Flöhe in den Kopf. Es war ähnlich wie bei den Intershop-Läden: Wenn sie westdeutschen Kaffee mit ostdeutschem verglichen, westliche Automarken mit östlichen … dann wurden sie immer nachdenklich.

      Aber er sah die Verwestlichung des Ostens nicht als so gefähr1ich an wie Vera. Das war immer ein strittiger Punkt zwischen ihnen gewesen. Nicht, dass es ihrer Beziehung wirklich geschadet hätte.

      Nur manchmal – wobei der wahre Grund wie in jeder Ehe meist in etwas anderem lag – gerieten sie deswegen aneinander.

      Zum Glück hatten sie keine Kinder, die man da mit hineinziehen konnte. Morgens gingen sie gemeinsam aus dem Haus. Ihre Wohnung lag außerhalb des Zentrums in der Neubausiedlung Leninistischer Friede.

      Während der Busfahrt hatten sie Gelegenheit, sich zu streiten. Vera verstand es immer, ihn durch das, was sie verschwieg oder durch ihr Mienenspiel, zu provozieren – darin war sie grundverschieden von ihrem Vater.

      Nach allem was er wusste, lagen die Schwierigkeiten hauptsächlich bei der Arbeit im Naturkundlichen Museum: Sie hätte liebend gern einen verantwortlichen Posten in der Partei übernommen.

      Aber aus für sie unerklärlichen Gründen war Kuznow dagegen. Er war eine ehrliche Haut und sagte, was er dachte. Hinterhältigkeiten nach der Art Störtes lagen ihm nicht.

      Andererseits war durch seine in der Abteilung vielbeschworene sogenannte “Protektion“ nie mehr herausgekommen als diese Neubauwohnung …

      3

      Iven erinnerte sich, dass er sich vom Kölner Hauptbahnhof nach rechts zu wenden hatte.

      Links lag der Dom, oberhalb der Plattform, auf der sich jetzt am Morgen schon Passanten drängten. Eine überraschend hohe, graue Masse, die ihre Spitzen in den Himmel reckte.

      Die Stadt begrüßte ihn mit Sonnenschein. Tauben flogen über den Domplatz. Gleich würden die Geschäfte öffnen. Gutgelaunt, wenn auch ein wenig müde, verließ er die Bahnhofshalle.

      Die Reisetasche in der Rechten, den Mantel über dem linken Arm, unterschied er sich in nichts von einem beliebigen Reisenden, der eben angekommen war.

      Karwels Wohnung lag nördlich des Doms im Viertel am Eigelstein, einem mächtigen, erhalten gebliebenen Stadttor aus dem Mittelalter. Die Straße führte unter der Bahnlinie hindurch an kleinen Geschäften vorüber. Um ein Taxi zu nehmen, war der Weg zu kurz. Iven wollte sich auch lieber einen ersten Eindruck verschaffen.

      Er blieb öfter stehen und sah sich die Auslagen an.

      Erst einige Tage später wurde ihm bewusst, dass er den überwältigenden Eindruck des Warenangebots völlig überschätzt hatte. Die große Überraschung kam erst noch! Der Eigelstein war keine Hauptgeschäftsstraße, seine Läden reichten kaum an jene heran, die er später auf der Hohe Straße antreffen würde.

      Er ging in ein Kaffeegeschäft mit Ausschank. Dieser zweite Morgenkaffee hätte ihn eigentlich zu einem begeisterten Lob hingerissen, wäre ihm das nicht angesichts der leeren, morgendlich-gequälten Gesichter eher unpassend erschienen. Bei der Bestellung hatte er sich bemüht, hochdeutsch zu reden. Doch hier kannte ihn offenbar niemand. Möglich, dass Karwel seinen Kaffee ganz woanders trank.

      Bevor er hinausging, blieb er stehen und musterte die Passanten.

      Dann überquerte er, wie man es ihm beigebracht hatte, die Fahrbahn, um einen eventuellen Verfolger zum gleichen Manöver zu veranlassen – man propagierte solche Tricks, obwohl bekannt war, dass jeder feindliche Agent peinlich vermied, auf solche Dummheiten hereinzufallen. Sie waren so bekannt, dass das direkte Nachziehen eines Verfolgers schon wieder unverdächtig gewirkt hätte.

      Die wenigen Häuser der links abzweigenden Straße gehörten zum Prostituiertenviertel. Eine krumme Gasse mit runden Pflastersteinen. Um diese frühe Stunde zeigten sich noch keine Damen in den Fenstern.

      Karwels Wohnung lag in der Nähe. Er sah an der Fassade hoch. Eigelstein 12, ein grauer Kasten mit fünf Etagen, nicht gerade sauber. Im Parterre befand sich ein Fahrradgeschäft.

      An Karwels Klingel fehlte das Namensschild. Dafür befand sich eines an den Briefkästen im Treppenhaus. Er griff in den Schlitz, nahm die beiden Briefe heraus und musterte sie im trüben Licht der Flurbeleuchtung.

      Der erste war eine Drohung des zuständigen Arbeitsamtes, dass man Karwel bei weiteren Versäumnissen der Meldepflicht eine Sperrfrist auferlegen würde:

      “Wenn Sie der Aufforderung zur Meldung beim Arbeitsamt ohne wichtigen Grund nicht nachkommen, wird Ihnen die Leistung für 6 Tage versagt“, verkündete das Blatt mit vorgedrucktem Text.

      Der andere – ohne Datum und Absender – enthielt in zierlicher Mädchenhandschrift quer über den Briefbogen gemalt die Mitteilung, nun sei “endgültig und für alle Zeiten Schluss“ mit ihnen beiden.

      Iven lächelte, sein Doppelgänger steckte anscheinend bis über die Ohren in Schwierigkeiten.

      Auf dem Treppenabsatz begegnete ihm eine dickliche Frau Im Küchenkittel. Sie grüßte, ohne ihn anzusehen.

      Karwels Wohnung lag in der dritten Etage. Er schloss auf und sah in den Korridor …

      Die Luft roch abgestanden.

      Iven stellte die Tasche ab und hängte seinen Mantel an den Haken. Es gab noch eine zweite Wohnung im selben Stockwerk, deren Türspion auf ihn gerichtet war, er schob die Tür mit dem Fuß zu.

      Das “Etablissement“ (wie er es bald nannte) bestand aus zwei Zimmern, Bad und Küche. Eines der Zimmer war als Wohn- und Schlafraum hergerichtet – eine Art Liebesnest, mit wenig Geschmack aus den unterschiedlichsten Möbeln zusammengestellt.

      In der Mitte des anderen stand überraschenderweise ein tadelloser – wenn auch nicht mehr ganz neuer – Billardtisch. Ein Ständer neben der Tür enthielt Queues, die verschiedenfarbig und mit Nummern etikettiert waren, zwei davon aus feinlasiertem Eschenholz.


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