Maßstäbe. Helmut Lauschke

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Maßstäbe - Helmut Lauschke


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Frage, wer die Verantwortung für den Zerfall zu tragen hat, ist aus soziologischer Sicht oft sehr schwierig, weil die individuell-sozialen Beziehungen so vielseitig und ineinander verknüpft sind. Die Konflikte haben ihre Vorgeschichte, und je länger sie ist, desto schwieriger ist es, die Problemzöpfe zu entflechten. Das soziale Problem wird durch die hohe Jugendarbeitslosigkeit weiter erschwert, von der besonders die Berufs- und Hochschulabgänger in großer Zahl betroffen sind. Die klaffende Schere zwischen arm und reich und die Erfahrung, dass sich die ungleichen Verhältnisse in absehbarer Zeit nicht angleichen werden, führen zur Frustration und Resignation. Der Einzelne steht der Arbeitsplatzstreichung wehrlos gegenüber. Diese Negativentwicklung führt zur Radikalisierung der Jugend, die der Politik der Rechtsstaatlichkeit misstraut und den tönenden Politikern kein Wort glaubt.

      Um beim Bild zu bleiben: Das Band der Mitmenschlichkeit ist zwischen den klaffenden Scherenblättern überspannt und zerrissen worden. Die Gründe der familiären und gesellschaftlichen Zerreißungen reichen von den ökonomischen Veränderungen bis zum Bildungsmangel, von der Willensschwäche über die ausbleibende Motivation und den mangelnden Arbeitseinsatz bis zum Angstmonster, die Verantwortung für das Desaster zu tragen beziehungsweise aufgehalst zu bekommen.”

      Pfarrer Bardenbrecht dankt für das Referat und bittet den Leiter des Arbeitsamtes, Herrn Ungelenk, um den letzten Vortrag.

      Er führt aus: “Vieles wurde gesagt, dass für mich nur wenig zu sagen bleibt, um das Bild über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft abzurunden. Ich stimme der bisherigen Bildbeschreibung mit den Rissen und Verwerfungen zu, die von unten nach oben durch alle Gesellschaftsschichten ziehen und das Leben jedes Einzelnen berühren und zum Teil hart erschweren. Es sind vor allem die jungen Menschen, die nach Schul- und Hochschulabschluss einen Arbeitsplatz suchen, aber nicht finden. Wir bemühen uns, den Menschen bei der Arbeitsplatzsuche zu helfen. Doch oft stellt sich die deprimierende Situation ein, dass ein Arbeitsplatz noch nach Monaten nicht gefunden wird, der den Qualifikationen der Schulabgänger entspricht. Junge Akademiker arbeiten im Postamt, auf dem Bau oder als Gelegenheitsarbeiter und Taxifahrer, um das Geld zu verdienen, das zum Leben gebraucht wird, aber zum Leben meist nicht reicht. Der anfängliche Optimismus auf den Gesichtern der Arbeitsuchenden weicht nach Monaten den düsteren, pessimistisch blickenden Gesichtern. Die Menschen glauben nicht mehr daran, dass es für sie Arbeit in dem Land gibt, in dem sie geboren und aufgewachsen sind. Was uns im Amt beim Versuch, einen Arbeitsplatz zu vermitteln, noch auffällt, ist die Feststellung, wie aus klaren und sauberen Gesichter nach Monaten der frustrierenden Wartezeit ungepflegte, quasi verkommene Gesichter werden. Junge Menschen kommen mit Bärten und sehen nach Monaten vorgealtert und runtergekommen aus, denen man die Schul- und Hochschulqualifikationen kaum oder nicht zutraut. Der Gruppe der Arbeitsuchenden steht die Gruppe der Arbeitsverweigerer gegenüber, die sich in das Heer der Sozialfälle rekrutieren und sich das Nichtarbeiten vom Staat bezahlen lassen. Die Unterhaltung des Arbeitslosenheeres kostet dem Staat jährlich viele Milliarden, die der Steuerzahler aufzubringen hat. Der asoziale Aspekt gilt für beide Gruppen. Für die Arbeitsuchenden ist es das System des Kapitalismus, und für die andern im großen Heer der Sozialfälle ist es die Arbeitsscheu beziehungsweise Arbeitsverweigerung des Einzelnen.

      Die Stellenvermittlung ist schwierig, wenn es für die Gruppe der Arbeitsuchenden keine Stellen gibt, die den Qualifikationen entsprechen, und die angebotenen freien Stellen von der anderen Gruppe mit immer neuen ‘Argumenten’ ausgeschlagen werden, dass der Zweifel aufkommt, ob bei jenen Menschen überhaupt der Wille zur Arbeit besteht. Es gibt wenig Zweifel, dass die Gesellschaft unter der Profitmaximierung, was Inhalt des Kapitalismus ist, krank geworden ist und tiefe Risse aufweist, die durch alle Schichten des Volkes ziehen. Die Menschlichkeit ist rar geworden, wenn Menschen ums Überleben ringen. Das Tragenwollen der Verantwortung ist verkümmert. Jeder sucht die Schuld woanders, nur nicht bei sich. Die Konsequenzen, die aus dem Sich-unsichtbar-machen mit der Angst resultieren, zumindest die Teilverantwortung für die prekäre Situation zu übernehmen, gehen mit dem Mangel der praktizierten Menschlichkeit und dem Grassieren des allgemeinen Misstrauens einher. Die Friktion mit den quer durch die Gesellschaft ziehenden Existenzrissen, wie sie auf dem Arbeitsmarkt bei der zunehmenden Arbeitslosigkeit zu beobachten ist, brennt, wenn ich das zweite Bild gebrauchen darf, den noch verbliebenen Rest an Menschlichkeit nieder.”

      Missionspfarrer Bardenbrecht dankt für das Referat und eröffnet die Diskussion.

      Ein Herr im mittleren Alter sagt: “In den Referaten wurde wiederholt darauf verwiesen, dass das Gespräch in den Familien verstummt beziehungsweise abhanden gekommen sei. Ist denn die Annahme so abwegig, dass die Schwere der Existenzkrise den Menschen die Sprache so verschlagen hat, dass er sprachlos geworden ist, wenn er am mager gedeckten Tisch anderen Menschen gegenübersitzt?”

      Der Kinderpsychologe antwortet: “Für den Erwachsenen mag die existentielle Krise zur Sprachlosigkeit führen, weil er das Problem aus eigener Kraft nicht lösen kann. Aber die Sprachlosigkeit am Familientisch muss ihre Grenzen haben, wenn Kinder mit am mager gedeckten Tisch sitzen. Denn die Kinder wollen wissen, wozu sie doch berechtigt sind, was es mit dem Tisch auf sich hat, der so mager gedeckt ist, dass er den Hunger nicht mehr stillen kann. Das muss den Kindern in einer ruhigen und verständlichen Sprache erklärt werden. Kinder sind gute und verlässliche Kameraden auch dann, wenn das Leben der Familie Probleme aufgibt, die unlösbar erscheinen. Deshalb hat das Gespräch die elementare Bedeutung der Verständigung mit dem Verständlichmachen der Probleme, warum die Existenz der Familie bedroht ist.”

      Eine ältere Dame mit weißem Haar: “Ich möchte den Herrn Pfarrer fragen, ob nicht auch der Lärm von den Straßen sich negativ auf das Gespräch auswirkt. Es ist doch so, dass der Lärm eine ohrenbetäubende Lautstärke während der Hauptverkehrszeiten annimmt.”

      Pfarrer Bardenbrecht bejaht die Frage, weist aber darauf hin, dass der Tag auch stillere Zeiten hat und genug Gelegenheit gibt, das Gespräch am Familientisch zu führen. Das Gespräch als Brücke der Kommunikation ist von vitaler Bedeutung für jede Familie. Das Kind fühlt sich verloren und verwaist, wenn es diese Brücke nicht gibt. Es braucht die Aufmerksamkeit und Andacht durch das Gespräch, das die Richtung durch die Kinder- und die Schuljahre weist und ihm das Gefühl der Geborgenheit und Hilfe gibt.

      Der Kinderpsychologe fügt hinzu, dass der Lärm nicht nur von der Straße, sondern auch von den bis hintenhin aufgedrehten Radios und Lautsprecherboxen komme. Manchmal sei die Lautstärke so weit hochgedreht, dass man sein eigenes Wort nicht höre. Es sei bekannt, dass Kinder durch den permanenten Lärm früh unter Hörstörungen leiden, wenn sie das normal gesprochene Wort nicht mehr hören.

      Eine Lehrerin beklagt das unfreundliche Verhalten einiger Kinder, die nicht bei der Sache sind, ihre Hausaufgaben nicht machen und durch Zwischenrufe den Unterricht stören. Diese Störenfriede machen die Disziplin zunichte und bringen die Klasse durcheinander. Jungen hänseln Klassenkameraden aufgrund ihrer gestopften und anderswie abgetragenen Hemden, Jacken und Hosen. Kräftige Jungen toben ihre Gewalt an schwächeren Jungen aus. Der Klassengeist, wie er früher die Kinder zur Ordnung, Disziplin und Gemeinschaft führte, existiert nicht mehr. Die Ursache liege im Elternhaus, wo die Kinder sich selbst überlassen sind und eine Erziehung durch die Eltern nicht stattfindet.

      Schuldirektor Schucht stimmt der Beobachtung zu und unterstreicht noch einmal die Rolle der Eltern, die diese in der Erziehung ihrer Kinder zu erfüllen haben. “Es ist die höchste Zeit, dass Eltern die erzieherische Verantwortung an ihren Kindern wieder wahrnehmen und erfüllen. Denn die Erziehung beginnt im Elternhaus und nicht in der Schule. Wie oft habe ich es erfahren, dass sich Eltern über das schlechte Verhalten und den mangelnden Fleiß ihrer Kinder beklagen. Das geht so weit, dass sie die Schule und den Klassenlehrer dafür verantwortlich machen, was natürlich nicht geht. Denn die Schule ist eine Lehr- und Lerneinrichtung und keine Erziehungsanstalt für zu Hause nicht erzogene oder sonst wie schwer erziehbare Kinder.

      Die Eltern können doch an ihren Kindern nicht einfach vorbeileben. Die Kinder müssen Inhalt ihres Lebens sein, und wenn sie es nicht sind, dann wird es höchste Zeit, dass Kinder den Lebensinhalt der Eltern füllen. Wie schon gesagt, spielt dabei das Gespräch in der Familie die ganz wesentliche Rolle. Die Eltern haben den erzieherischen Teil zu erfüllen und nicht auf die Schule abzuladen, die mit der Bildungsarbeit voll ausgelastet


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