Maßstäbe. Helmut Lauschke

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Maßstäbe - Helmut Lauschke


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      Pfarrer Bardenbrecht dankt dem Schuldirektor für sein Referat. Er fragt die Zuhörer, ob sie einverstanden sind, dass die übrigen Referate angeschlossen werden, um die anderen Aspekte zum Themenkomplex aufzuzeigen und die Diskussion dem letzten Referat anzuschließen. Es wird zugestimmt, und der Missionspfarrer bittet die Familienrichterin um ihr Referat.

      Frau Fabian führt aus: “Es ist ein großes Thema, das dem heutigen Abend vorangestellt ist, denn das Prinzip ‘Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit’ ist das höchste, das die Gesellschaft auszeichnet, wenn es praktiziert wird, aber die Gesellschaft beschämt, wenn das Prinzip ein leeres Lippenbekenntnis bleibt. Doch wie es die Vorredner bereits sagten, mangelt es an der Durchführung dieses Prinzips, und das in den Familien im Kleinen wie in der Gesellschaft im Großen. Mit dem Gesprächsabbruch ist auch das Vertrauen zum anderen abgebrochen. Damit ist der Steg der Verantwortung weggerissen, weil er die Funktion des Verantwortungtragens nicht erfüllen kann. Entweder hängen die Dinge in der Luft, oder sie sind ins Wasser gefallen. Doch so lässt sich Verantwortung nicht praktizieren. Die Füße brauchen den Steg, wo sie aufsetzen können, wenn die Hände den Menschen aus dem Wasser ziehen sollen, der vor dem Ertrinken ist. Es lässt sich ganz allgemein so sagen, dass nichts geht, wenn der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Das ist in etwa die Beschreibung des Zustandes der Familien und der Gesellschaft. Der Boden ist weggezogen worden. Der Mensch weiß nicht, wo er die Füße hinsetzen kann, ohne einzubrechen. Der Zustand des Bodenlosen beziehungsweise der Bodenlosigkeit ist im Großen wie im Kleinen erreicht, und keiner weiß, wie der Boden wieder unter die Füße kommen soll. Das ist das Dilemma der Zeit. Die Familien zerbrechen in großer Zahl, und die Angst mit dem Gefühl des Nicht-verstanden-Seins und der trostlosen Vereinsamung nagt heillos an den Menschen. Sie nagt an den Resten der familiären Bande und der verbliebenen Menschlichkeit. Es ist der Zustand des Chaos, der durch die Gesellschaft reißt, sie splittert und tief verwundet.

      Den Familien ist die Widerstandskraft genommen. Die Kräfte sind erschlafft, und die Familien erliegen den Widrigkeiten und Scherbengerichten der Zeit. Die Zerwürfnisse sind verheerend, denen die Kinder hilflos ausgesetzt sind. Die Scheidungsprozesse haben an Zahl zugenommen. Dabei wird um das Geld für den sogenannten Versorgungsausgleich gestritten. Dabei kommen die Kinder meist zu kurz und sind in der Auseinandersetzung oft nur eine Nebensache. Menschen aus geschiedenen Ehen, den gestrandeten Familien, deren Existenz bereits am dünnen Faden hing, fallen in die Armut und werden zu Sozialfällen, denen die Sozialhilfe den existentiellen Engpass nicht vom Tisch räumen kann. Alkohol und Drogen erschweren die Situation zusätzlich, obwohl das Geld zum Leben schon nicht reicht. Kriminalität und Prostitution sind die Waffen der Ab- und Aussteiger, deren letzte Strandung die Straße ist, wo sie auf Parkbänken und unter Brücken übernachten. Die Jugendkriminalität hat sich zur Kinderkriminalität weiter verjüngt, und die Raubüberfälle haben immer härtere Gangarten angenommen.

      Viele Familien sind zerbrochen und stehen vor dem Ruin. Existentielle Nöte und Zwänge haben die letzte Menschlichkeit verzehrt. Die zerbrochene Familie hat ihren Sinn verloren, Ort der Freude und Liebe, Hort der Bergung und Geborgenheit zu sein. Quasi über Nacht finden sich die Menschen, die Frauen mit ihren Kindern und dem Rest der Habe auf der Straße und sind der Willkür anderer Menschen hilf- und wehrlos ausgesetzt. Der ganze Bau, damit ziele ich auf die Gesellschaft hin, gerät aus den Fugen. Respekt und die guten Sitten verkommen. Zwielichtige und unanständige Verhaltensweisen schieben sich durch die Risse und Spalten des zerfallenden Ehren- und Sittenkodex. Keiner will für den Zerfall die Verantwortung übernehmen. Jeder schiebt die Schuld dem andern zu. Es ist der Staat in seiner Anonymität, dem die Hauptschuld für die existentiellen Nöte und Zwänge mit ihren verheerenden Folgen zugeschoben wird. Da die Schere zwischen arm und reich weit auseinanderklafft, richtet sich der Protest gegen die soziale Ungerechtigkeit als Ursache für die Zunahme der sozialen Spannungen.

      Große Anstrengungen sind erforderlich, um die Dinge ins Lot zu bringen. Doch dafür muss der Mensch bereit sein, die Verantwortung für sein Tun selbst zu tragen und nicht dem anderen aufzubürden. Ohne Motivation und Verantwortung lässt sich Zukunft nicht gestalten. Die Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit müssen gezogen werden. Die Geschichte lehrt, was die Unmenschlichkeit anrichtet, wenn Respekt und die guten Sitten verkommen. Deshalb ist Bildung vonnöten, um aus den Unbilden, denen unschuldige Menschen und Kinder zum Opfer fielen, die Lehren für eine menschenwürdige Zukunft zu ziehen. Wie ich bei einem der früheren Gesprächsabende hervorhob, bedarf es der Disziplin und Ehrlichkeit und des Fleißes, wenn es dem Menschen in Zukunft besser gehen soll. Ein Leben ohne Menschlichkeit ist ein Vegetieren, das unter dem Niveau des Tierreichs ist. Dem Schweiß des Schachtsteigers muss wieder die gebührende Achtung entgegengebracht werden, weil es der Hände Arbeit ist, die den Lebensstandard der Gesellschaft bestimmt.

      In der Zusammenfassung sind es Kenntnis und Lehren aus der Geschichte, die Motivation, der persönliche Einsatz, die Willenskraft und persönliche Bescheidenheit, die das Maß der Verantwortung und Menschlichkeit bestimmen. Die Bildung zur Umbildung ist der Eckstein, wo sich Toleranz und die guten Sitten niederlassen und den Weg in die Zukunft erhellen. Geborgenheit, Respekt und Menschlichkeit müssen in die Familien zurückkehren, wenn die Gesellschaft noch zu retten ist. Jeder hat bei der Rettungsaktion seinen Beitrag zu leisten und die Verantwortung für sein Tun selbst zu tragen.”

      Missionspfarrer Bardenbrecht dankt für das Referat und bittet den Soziologen Lange um seinen Vortrag:

      “Meine Damen und Herren! Es wurde bereits gesagt, dass sich der arme Mensch die Armut nicht immer selbst verdient hat, so wie sich der reiche Mensch den Reichtum nicht immer selbst verdient hat. Auch besteht kein Zweifel, dass die Schere zwischen arm und reich von Jahr zu Jahr weiter klafft, was den sozialen Frieden dauerhaft bedroht. Hinzu kommt, dass sich die einen hinter dem Wohlstand verstecken, während die anderen der Not und dem Elend schutzlos ausgesetzt sind. Auf beiden Seiten verkommt die Menschlichkeit: beim Verstecken der Reichen hinter den Bergen des Reichtums durch das Augenschließen vor den Menschen in Not und auf der andern Seite vor den Hütten der Armut in ihrer bedauernswerten und erbärmlichen Offenheit, was alles zum Leben fehlt. Die Menschlichkeit setzt voraus, dass die Mägen einmal am Tag eine warme Mahlzeit brauchen, wenn den Köpfen nicht das Hören und Sehen vergehen soll, weil der Blutzuckermangel das Bewusstsein trübt.

      So wie die Gerechtigkeit mit der Menschlichkeit einhergeht, so schließt das Unrecht der Ungerechtigkeit das Prinzip ‘Menschlichkeit’ samt ihrer Herkunft aus. Das Eine gilt dem Mit- und Füreinander, das Andere führt zum Gegeneinander. Wie bereits gesagt wurde, gibt es keine Armut ohne Schuld. Sie ist entweder selbst- oder fremdverschuldet. Im Kern der Armut ist das Ringen ums Überleben. Der Ringende braucht in der Daseinsnot die Mitmenschlichkeit, was die praktizierte Menschlichkeit des Helfens ist. Menschen helfen auch dann, wenn es ihnen selbst existentiell so gut gar nicht geht. In dieser Mitmenschlichkeit liegt das Prinzip des Teilens, dass jeder auf den Beinen bleibt und ein Stück Brot zum Leben hat. Dagegen liegt in der Ungerechtigkeit die blinde Raffgier mit dem Horten der Güter, was bis zum Ekel des aufsitzenden Geiers führt. Wenn das mit dem Überleben immer fraglicher und das Leben immer dürftiger wird, dann folgt dem Kraftverlust im Ringen die Bitternis der Not mit der Verzweiflung, dass der Kampf ums Überleben verloren wird beziehungsweise schon verloren ist.

      Es steht außer Frage, dass die Arbeitslosigkeit härter denn je in das Leben der Familien eingreift. Da sind Spannungen aufgrund der Frustration des Mannes, der nach Arbeit sucht, aber keine Arbeit findet. Die Sozialhilfe, wenn sie überhaupt zur Anwendung kommt, zwingt vor allem die Rentner und kinderreichen Familien, den Lebensgürtel immer enger, zum Teil so eng zu schnallen, dass die Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können. Es kommt zu Auseinandersetzungen, was bei der prekären Geldknappheit noch gekauft werden soll, aber nicht gekauft werden kann. Die Grenze der Scham wird überschritten, wenn die Auseinandersetzungen vor den Kindern ausgetragen werden, was zur Verunsicherung führt, dass die Kinder das Vertrauen in die Eltern und das Gefühl der Geborgenheit in der Familie verlieren. Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Konzentrationsschwächen sind die Folgen, die sich im hohen Maße negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Wie schon erwähnt, gehen Jugendprostitution und Jugendkriminalität mit der Arbeitslosigkeit und dem eng geschnürten Existenzgürtel parallel einher. Bis zur Drogenszene ist es nur ein kleiner Schritt, der für den Einzelnen


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