Maßstäbe. Helmut Lauschke

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Maßstäbe - Helmut Lauschke


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schwillt auf mehrere Hunderttausend an. Eine weitere afrikanische Katastrophe ist unter den Augen der Welt in vollem Gange. Afrika ist der Kontinent der reichen, der sehr reichen und sich trotzdem weiter bereichernden Präsidenten und der hungernden, in bitterer Armut vegetierenden Völker und der ständigen Kriege um die Bodenschätze und die Macht.

      Die andere Merkwürdigkeit ist die hohe Selbstmordrate junger Menschen nach der Unabhängigkeit, die offensichtlich den Glauben in die bessere Zukunft verloren haben. Unter ihnen finden sich Schulabgänger mit Matrik und Studenten am Polytechnikum und der Universität. Es ist die hohe Arbeitslosigkeit und die Verfilzung der höheren Posten durch Vetternwirtschaft und andere skrupellose Machenschaften, die die Sicht mit der Aussicht auf einen Arbeitsplatz trüben, der dem Bildungs- und Ausbildungsstand entspricht. Das Prinzip Hoffnung und das Prinzip Verantwortung sind noch nicht bis auf den Stand der Zeit entwickelt, der nötig ist, um ein wirkliches Vertrauen in die Zukunft in der jungen Generation aufkommen zu lassen. Schamlose Korruption und rücksichtslose Selbstbereicherung der an den Hebeln der Macht Klebenden und Sitzenden haben gegen alle großmäuligen Reden, Bekenntnisse und Versprechungen die dunklen Wolken der existentiellen Unsicherheit auf die Straße der Zukunft gebracht.

      Dem ständigen Anziehen der Kostenschraube für die ganz normale Lebenshaltung ohne jeglichen Luxus folgt die Skepsis, dass sich an den Verhältnissen der immer wieder gesprochenen Gleichheit und staatlich praktizierten Ungleichheit durch Korruption und Vetternwirtschaft in absehbarer Zeit etwas ändern wird, zumindest nicht, so lange die erste Garde der “Gefräßigen” sich weiter bereichert und sich mit den großen Worten vom heroischen Befreiungskampf die Hebel der Macht nach ihrer Willkür und zu ihrem Vorteil hin und her schaltet und zuschiebt. Diese “VIPs” sind von “hungrigen” Exilveteranen und von opportunistischen Speichelleckern umringt und umschwärmt, die in zweiter Front den Rest der Sahne für sich abschöpfen und sehr genau darauf achten, dass der ihnen zugesprochene Rest nicht vom Volk mit dem nagenden Existenzdruck durch die hohe Arbeitslosigkeit und den ständig steigenden Lebenshaltungskosten durch das lauthals verkündete Prinzip der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit reduziert oder vorher weggelöffelt wird. Es ist die Jugend, die nach Vorbildern verlangt und die Frage immer lauter stellt: “Was soll aus uns werden, wenn das so weitergeht mit der Korruption und Vetternwirtschaft?”

      Dr. Fernandez hat die letzte Operation beendet und legt den Wundverband auf. Die OP-Liste hat sich durch den Notfall-Kaiserschnitt hinausgeschoben. Die Mittagszeit ist fast vorüber, und Dr. Fernandez eilt sich, um im Speiseraum noch etwas auf den Teller zu bekommen.

       Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte! [Heinrich von Kleist: Penthesilea]

      Das Samstagabendgespräch

      Der Verein zur Rettung Schiffbrüchiger und von Straßenkindern hat zum halbjährlichen Gespräch in den Saal der inneren Mission eingeladen. Diese Gespräche, die vor einigen Jahren vom Missionspfarrer Peter Bardenbrecht ins Leben gerufen wurden, sind zu einer festen Institution in der Stadt geworden. Pfarrer Bardenbrecht, ein schlanker hochgewachsener Herr der Endfünfziger mit vollem ergrauten Haar, begrüßt die Ankommenden mit Handschlag und erkundigt sich nach ihren Leben. Dabei sagt er, um den Menschen Mut zu machen, den Standardsatz: Wenn Gott an den Menschen so zweifeln würde, wie die Menschen an Gott zweifeln, dann wäre er sich sicher, dass morgen, spätestens übermorgen die Menschheit sich ganz umgebracht hätte.

      Der Saal hat sich über die Hälfte gefüllt, als Pfarrer Bardenbrecht das Abendgespräch kurz nach halb acht eröffnet und die Anwesenden herzlich willkommen heißt. Er stellt das Thema des Abends vor und schickt dem Gespräch die ersten Verse des 106. Psalms voraus:

      Danket Ihm, denn gütig ist Er,

      und seine Huld währt in Weltzeit.

      Wer kann die Größe seiner Taten ermessen

      und all seine wunderbaren Werke preisen?

      Glück sei ihnen, die das Gebot halten

      und vom Weg der Bewährung nicht abweichen.

      Denk mein, Du, in der Gnade zu deinem Volk,

      wirke mir entgegen, befreie mich!

      Ansehen möcht’ ich das Wohl deiner Erwählten,

      mich erfreuen an der Freude deines Volkes.

      Lass mich dein Erbteil und deinen Namen rühmen,

      auch wenn wir mitsamt unseren Vätern gesündigt haben.

      Das Thema lautet: Die kranke Gesellschaft und der Mangel an Menschlichkeit, die gebrochene Tragfähigkeit der Verantwortung und die schwindende Mitmenschlichkeit und die Konsequenzen. Pfarrer Bardenbrecht stellt die geladenen Gäste hinter dem langen Tisch vor: den Kinderpsychologen Wolfgang Bebenau, den Direktor Karl Schucht von der Friedrich Ebert-Grundschule, die Familienrichterin Gerlinde Fabian, den Soziologen Gerd Lange und den Leiter des Arbeitsamtes, Klaus Ungelenk.

      In seiner Einführung weist Pfarrer Bardenbrecht auf die vielfältigen sozialen Probleme hin, die ihre Ursache in der anhaltenden hohen Arbeitslosigkeit und den Folgen der unerwartet schweren Rezession haben, die besonders die alten Menschen und die kinderreichen Familien treffen. “Das Problem der Straßenkinder sei bis auf den Tag nicht nur ungelöst, sondern habe in erschreckender Weise zugenommen. Kinderkriminalität und Kinderprostitution seien einige der herausragenden und beschämenden Schwindsuchtsymptome der kranken Gesellschaft dieser Zeit. Die Zahl der existentiellen Schiffbrüche sei horrend, und die Folgen der Zusammenbrüche seien nicht absehbar. Die apokalyptische Annahme sei nicht abwegig, dass der Gesellschaft eine Katastrophe bevorsteht, deren Ausmaß alle bisherigen Katastrophen in den Schatten stellt. Der Bildungs- und Glaubensverlust haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Menschen dem Materialismus verfallen sind und nun nicht wissen, wie sie die existentielle Durststrecke durchhalten, beziehungsweise durchstehen und aus dem Flaschenhals der existentiellen Krise herauskommen sollen. Denn, und daran gibt es keinen Zweifel mehr, dass die großen Bildungswerte so weit verkümmert sind, dass die Menschen den inneren Halt zur inneren Festigkeit verloren haben und nicht finden, mit den Händen quasi in die Luft greifen in einer Zeit, in der die Hände nach dem Geländer suchen, weil die innere Festigkeit gerade jetzt erforderlich ist. Ich darf den Kinderpsychologen um das erste Referat bitten.”

      Der Kinderpsychologe Wolfgang Bebenau führt in seinem Referat das Folgende aus: “Auf die rasche Verwundbarkeit der Familien und ihre kritisch-bedrohlichen Situationen ist wiederholt hingewiesen worden. Was den meisten Familien abhanden gekommen ist, ist das Gespräch zwischen den Eltern und den Kindern. Die Menschen in der Familie haben sich kaum oder nichts mehr von Wert zu sagen. Sie sind unfähig geworden, einen Gedanken in seiner Vollständigkeit und dann verständlich auszusprechen. Dasselbe gilt für das Aussprechen der Empfindungen und der Gefühle. Da es die Eltern nicht oder nicht mehr tun, weil sie es nicht wollen oder nicht mehr können, ist das Gespräch verkümmert und die Kommunikation auf die Ebene vegetativer ‘Banalitäten’ abgerutscht. Darunter leiden vor allem die Kinder, die in solchen Familien vereinsamen, verwahrlosen und sich von den Eltern nicht verstanden und daher fremd und haltlos fühlen. Langfristig gehen die Kinder aus solch verstummten Familien mit oft bleibendem Bildungs- und Persönlichkeitsdefizit hervor, das auch die Schule nicht füllen kann. Das Bildungsdefizit ist so grundlegend und prägend, dass die Kinder den Wert und Inhalt der schulischen Ausbildung nicht begreifen und die Leistungen, die zu bringen sind, nicht bringen. Je nach Schwere und der körperlich-geistigen Verfassung bezüglich der Tragfähigkeit der familiären ‘Stumm’- oder Stress-Situation hat das Kind das Schuljahr zu wiederholen, was in der Regel auch nicht zu einem Leistungsanstieg führt. Dieses Defizit begleitet das Kind durch die Jahre von Schule und Jugend und den erwachsenen Menschen schließlich durchs ganze Leben.

      Es ist das Mangelsyndrom, das die Familien wie die Gesellschaft als Ganzes erfasst und aus den Fugen reißt. Das Syndrom setzt sich aus den folgenden Symptomen zusammen:

      1) Geprächsmangel und Mangel der Beziehungsbekundung und Beziehungsbereitschaft innerhalb der Familien mit der Vereinsamung voreinander und der Verwahrlosung unter- und gegeneinander;

      2)


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