Maßstäbe. Helmut Lauschke

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Maßstäbe - Helmut Lauschke


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die es zu achten und zu pflegen gilt. Das hat Obama einige Wochen vorher vor den hunderttausend Berlinern auch gesagt. Die Frage bleibt, ob die sich rücksichtslos bereichernden afrikanischen Präsidenten und Politiker eine Ahnung haben, wovon Barack Obama spricht, wenn er diese Werte in den Bezug zur politischen Verantwortung, dem politischen wie menschlichen Anstand und zur Ehrlichkeit und der persönlichen Bescheidenheit setzt.

      Der kubanische Arzt Dr. Fernandez verlässt nach einer arbeitsreichen Nacht das Flat auf dem Krankenhausgelände im Norden Namibias, um an der Morgenbesprechung im Büro des Superintendenten teilzunehmen. Diese Besprechung ist eine Routineeinrichtung, die von geringer oder keiner praktischen Bedeutung ist, seitdem er vor mehr als zwei Jahren seine Tätigkeit in der Abteilung der Gynäkologie und Geburtshilfe aufgenommen hat. Dr. Fernandez ist nicht der einzige kubanische Arzt, der das Ärzteloch am Krankenhaus stopft. Seine kubanischen Kollegen, die einen Großteil der Ärzteschaft am Krankenhaus ausfüllen, sind auf die anderen Abteilungen wie Chirurgie, Pädiatrie und interne Medizin verteilt. Die namibischen Ärzte, die zum Teil auf Kuba zur Schule gegangen waren und das Medizinstudium begonnen und dort abgeschlossen haben, sind in “höhere” Posten innerhalb der medizinischen Verwaltungshierarchie mit klimatisierten Büros, Telefon, höherem Gehalt für weniger und ohne direkte Arbeit am Patienten in den heißen Krankensälen und im schweißtreibenden OP aufgerückt oder haben sich als Ärzte für Privatpatienten niedergelassen. Dr. Fernandez weiß um die Diskrepanz zwischen den Lippenbekenntnissen, als Arzt den kranken Menschen zu helfen, und den Fakten, sich “klimatisch” zu verbessern, was mit dem erstrebten höheren Gehalt automatisch verbunden ist, oder sich als Privatarzt auch für das Geld des Patienten zu interessieren. Er selbst hätte es nicht anders getan, wenn er auf Kuba eine Privatpraxis hätte betreiben können, was er im anachronistisch verkalkten System des letzten Inselsozialismus nicht konnte, stattdessen mit seinen Kollegen als ärztlicher Exportartikel und Devisenbringer in die Dritte Welt nach Afrika geschickt wurde.

      Es ist ein kalter Aprilmorgen auf der nördlichen Halbkugel nahe dem Görlitzer Längengrad und dem 53. Breitengrad Nord, als drei Turmglocken zum Trauergottesdienst für den verstorbenen Pfarrer Härtel läuten, der mit Anfang sechzig plötzlich an den Folgen einer Hirnblutung verstorben war. Wer war dieser Pfarrer? Er war ein paulinischer Prediger und unerschrockener Verkünder der Botschaft Gottes. Dabei scheute sich dieser Pfarrer nicht, auf die Unebenheiten und Ungereimtheiten des Lebens im sozialistischen Gleichheitsstaat hinzuweisen und die asozialen Tücken anzuprangern, weil die Gleichheit von Ungleichheiten mit dem Absahnen durch die Parteinomenklatura durchsetzt war, was nicht der Idee des Sozialismus mit dem Prinzip der Verantwortung entsprach und auch nicht mit dem allgemeinen menschlichen Verstand zu verstehen und zu rechtfertigen war. Für seine kritischen Äußerungen bekam Pfarrer Härtel einige Male Besuch von der Staatssicherheit. Auch wurde er zweimal von der Behörde zu klärenden “Gesprächen” vorgeladen. Ob der Superintendent für diesen mutigen Pfarrer ein Wort eingelegt hatte, ist nicht bekannt und nach dem allgemeinen Verhalten kirchlicher Vorgesetzter in politischen Engpässen mit dem Angstanstieg bis zum Hirn und der Schockwelle vor dem Verhör bis ins Knochenmark eher zu verneinen. Dennoch kann es als ein glücklicher Umstand verstanden werden, der sich zweimal ereignete, dass Pfarrer Härtel zweimal lebendig und mit einem blauen Auge ohne zusätzlichem Brillenhämatom von der Verhörsprozedur zurückgekehrt war. Er genoss hohes Ansehen in der Gemeinde und von den Bürgern der kleinen Stadt, die ihm seinen Einsatz für die Belange der Armen und Waisen und seinen Mut hoch anrechneten, den Zeigefinger ohne zu wackeln auf die ideologisch undichten Schwachstellen des runtergekommenen und abgewirtschafteten Systems zu drücken.

      Von daher nimmt es nicht wunder, dass die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt ist, während die Glocken noch läuten, die bei den in Wintermänteln auf den Bänken Sitzenden die Erinnerung an den unerschrockenen Mahner, den paulinischen Prediger und Pfarrer der Armen und Waisen in die Erinnerung zurückläuten. Der Superintendent und andere Würdenträger mit und ohne hängende metallne Brustkreuze und ganz normale Pastore haben auf den ersten Bänken ihre Plätze eingenommen. Die Glocken schlagen zu Ende, und der Organist drückt die Finger ins Manual zum leisen Vorspiel mit den Dreiklängen in f-Moll, As-Dur und b-Moll. Dann dreht er einige fugale Kurven und die Fußrolle zur vollen Lautstärke auf, macht eine Gedankenpause und intoniert das erste Lied.

      Superintendent Engelbrecht hält den Trauergottesdienst und spricht den Nachruf, in dem er Pfarrer Härtel in einer Art Zusammenfassung einen aufrechten Botschafter des Gotteswortes nennt, ohne auf die Einzelheiten einzugehen, die seine Aufrichtigkeit ausmachten. So bleiben die wiederholten Besuche der Staatssicherheit in der beengten Dachwohnung bei Pfarrer Härtel und die beiden Vorladungen und Verhöre im Haus des Ministeriums der Staatssicherheit unerwähnt, obwohl nach dem Untergang des Systems mit dem sozialistischen Stern die Redefreiheit ohne Strafverfolgung oder andere Nachteile fürs Leben praktiziert werden konnte. Im denkerischen Rückschlussverfahren liegt die Annahme deshalb unter der Gaußschen Glockenkurve der Wahrscheinlichkeit, dass zur Zeit der Besuche von und der Verhöre bei der Staatssicherheit der mutige Pfarrer Härtel als Einzelkämpfer seinem Schicksal überlassen war, das doch so oft ein böses Ende genommen hatte. Jedenfalls hatte sich der damals junge Superintendent da nicht in irgendeiner Form ‘eingemischt’ und sich für den Pfarrer in Not eingesetzt. Die Notsituation sollte begrenzt bleiben, so gut es unter den damals herrschenden politischen Umständen des plötzlich übergestülpten Sozialismus Marxscher Prägung möglich war. Der “rote Strick” sollte nicht noch um einen zweiten Hals gelegt werden.

      Das war zur Blütezeit der deutschen Denunziation in den ersten Nachkriegsjahren, dass Pfarrer Klaus Härtel von zwei Herren der Staatssicherheit an einem späten Donnerstagabend in seiner engen Mansarde aufgesucht und in ein verhörartiges Gespräch gezogen wurde. Die Herren mit dem Händeschluss auf den ovalen Parteiabzeichen hielten sich namentlich anonym, als sie dem Pfarrer, der beruflich noch Jungpfarrer war, obwohl er an Jahren nach Stalingrad und sieben Jahren Arbeitslager im nordsibirischen Dudinka am Unterlauf des Jenissei so jung nicht mehr war, mtteilten, dass er in einer schwierigen Situation stecke. Die Herren veranstalteten eine Durchsuchung in der kleinen Dachwohnung, wobei sie buchstäblich alles auf den Kopf stellten, dass der Pfarrer es vorzog, die Nacht auf dem harten Stuhl am kleinen Tisch im kleinen Wohn- und Arbeitszimmer zu verbringen. Die Herren von der Staatssicherheit teilten am Ende ihres Besuchs dem Pfarrer mit, dass er sich am Sonntagmorgen zu einem klärenden “Gespräch” im Haus der Staatssicherheit in der Burgstraße 17 einzufinden habe.

      Der seinerzeitige Superintendent köpfte sein Frühstücksei, wie die Haushilfe Dorothee in einem Vorgespräch, das ein Gespräch am Türspalt mit vorgehängter Kette war, mitteilte. Sie sagte, dass sich der Herr Superintendent beim Frühstück nicht stören lassen wolle, und schlug dem Pfarrer vor, nach einer halben Stunde noch einmal vorbeizukommen.

      Bei dem Gespräch im Büro des Superintendenten am großen Schreibtisch mit der polierten und bis zur Leere aufgeräumten Mahagonischreibtischplatte ließ der kirchliche Vorgesetzte keinen Zweifel, dass er für seinen bedrängten Pfarrer nicht einen Finger krümmen oder anderswie bewegen würde. Das Argument der Obrigkeit war schlicht und ergreifend: Wer sich die Suppe eingebrockt hatte, sollte sie dann auch selbst auslöffeln. Der “Jungpfarrer” im Probejahr zum herabgesetzten Gehalt stieß auf taube Ohren, als er dem Superintendenten klarzumachen versuchte, dass es sich um ein Problem handle, das die Kirche in ihrer Aufgabe als Ganzes direkt betreffe und er deshalb die Unterstützung der Kirchenleitung brauche. Darauf antwortete der Superintendent: “Pfarrer Härtel, das ist nicht möglich. Es ist schließlich Ihr Problem, und Sie müssen das Problem selbst aussortieren. Das kann kein anderer für Sie tun. Das können Sie auch von keinem anderen verlangen.” Der Superintendent hatte sich vor dem Pfarrer in seiner Not gewissenlos und unverantwortlich gemacht. Er hatte diesem Pfarrer das Festmachen des Rettungsseiles am polierten Schreibtisch des Büros der örtlichen Kirchenleitung verwehrt und sich von der misslichen Lage abgeseilt. Er hat den um Hilfe bittenden Pfarrer wie eine heiße Kartoffel fallengelassen.

      Pfarrer Härtel bekam als Neunzehnjähriger bei der Schlacht um Stalingrad einen Schuss in die rechte Schulter. Seitdem war der rechte Arm gelähmt und funktionslos. Er kam in Gefangenschaft und erlitt im Arbeitslager Dudinka Erfrierungen an den Händen und Füßen. Der kurzgewachsene Vorsitzende mit dem ovalen Parteiabzeichen fragte den Pfarrer im Verhör, das über


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