Maßstäbe. Helmut Lauschke

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Maßstäbe - Helmut Lauschke


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Ansprache der weißen Matrone Antje P., die von hagerer Gestalt ist und ein blasses, markantes, fast kantiges Gesicht hat, belegt die fundamentale Bedeutung, das Hospital in diesem Kriegsgebiet mit allen verfügbaren Kräften am Laufen zu halten, selbst wenn die miserablen Bedingungen und hygienischen Mängel in der Versorgung der Patienten zum Himmel schreien. Der Zustand des Hospitals erfüllt die Kriterien zur Schließung und zum Abriss. Die Spannweite von der Theorie, was ein Krankenhaus alles haben muss, um ein Krankenhaus zu sein und als solches reibungslos zu funktionieren, bis zur Praxis, war extrem groß. Doch ist es die Notwendigkeit, dass ein Hospital mit den mittelalterlich ausgestatteten Krankensälen, den Drainageproblemen an den Toiletten und den anderen sanitären Mängeln hier dringend erforderlich und noch nützlich ist. Es ist die Situation des Krieges und seiner Eskalation, weshalb man sich für das praktische Ende des extrem weiten Bogens zu entscheiden hat, der die endlose Weite einer entblößten, von Wunden geprägten Wirklichkeit überspannt.

      Das andere Ende des Bogens ist die theoretische Betrachtungsweise, die durch die Erkenntnisse der modernen Medizintechnik ein modernes Hospital beleuchtet, das es hier nicht gibt. Damit ist klar, dass eine solche theoretische Betrachtungsweise den Menschen hier nicht hilft, weil es viel wichtiger ist, diese Menschen in ihrer Not zu versorgen, und wenn es in einem Hospital mit so schwerwiegenden Mängeln ist. Eine Alternative gibt es in dem von Granaten zerwühlten Winkel nicht. Vielmehr ist die Einschätzung realistisch, dass sich and den Missständen in absehbarer Zeit nichts ändern wird.

      Das dritte und letzte Thema betrifft das Problem des Patiententransportes nach Windhoek und zurück sowie das Herbeischaffen der Medikamente von der Zentralapotheke und der Blutkonserven von der zentralen Blutbank. Diese drei Dinge gehören zusammen, weil der aus Windhoek abfahrende Bus nicht nur die Patienten zurückbringt, die dort von Spezialisten der verschiedenen Fachbereiche gesehen und behandelt wurden, sondern auch die dringend benötigten Medikamente gegen Malaria, Tuberkulose, etc. und Blutkonserven bringt, so weit sie vorhanden sind und dem Hospital im hohen Norden zur Verfügung gestellt werden. Die Dinge sind zu kombinieren, da es über eine Entfernung von mehr als siebenhundert Kilometer geht und es an Fahrzeugen fehlt. So ist das Transportthema von größter Wichtigkeit, weil es die lebensrettenden Maßnahmen unmittelbar betrifft. Aus Zeitgründen, die halb acht begonnene Besprechung geht bereits über anderthalb Stunden, und wegen der großen Zahl von Patienten, die darauf warten, gesehen und behandelt zu werden, wird das Thema auf die nächste Morgenbesprechung verschoben.

      Der Raum hat sich gelehrt. Die Klimaanlage rattert und tropft. Es ist angenehm kühl, und die Raumluft ist frischer als zu Beginn der Morgenbesprechung. Dr. Witthuhn sitzt hinter dem Schreibtisch. Er nimmt den Telefonhörer und versucht, den Mann von der Administration in Ondangwa zu erreichen. Das Problem des permanenten Uringestanks auf dem Vorplatz des Hospitals musste endlich gelöst werden. Der Superintendent erreicht diesen Mann und fragt nach dem Wasserschlauch. Aus der Frage wird ein langes Gespräch, aus dem hervorgeht, dass das Budget für das Hospital überzogen ist und die bestellten Instrumente für die Operationssäle und die acht Betten für den chirurgischen Männersaal erst aus dem nächsten Jahresbudget bezahlt werden können. Was den Wasserschlauch betrifft, wird ein Weg gefunden, die Finanzierung durch einen Übertrag sicherzustellen. Die Order wird positiv entschieden, und der Wasserschlauch wird aus Windhoek angefordert. Nach dem Telefonat sagt Dr. Witthuhn, dass der Mann von der Verwaltung beim Thema Wasserschlauch offensichtlich vom Ekelgefühl befallen wurde, als er vor einigen Tagen einen Patienten im Hospital besuchte. “Wenn die Leute von der Administration es am eigenen Leibe spüren, dann passiert jedenfalls etwas”, meint er lächelnd. Dabei ist das mit den Verwaltungsleuten und dem ‘Passieren’ eine Binsenweisheit von globaler Reichweite. Der Superintendent sagt auch, dass er später das ‘Medical Council’ in Pretoria anrufen will, um sich nach dem Stand der Arbeitserlaubnis für Ferdinand zu erkundigen.

      Dr. Witthuhn schlägt die Schreibmappe mit den schreibmaschinegeschriebenen und anderen Papieren vom vergangenen Freitag auf und unterschreibt sie von Fach zu Fach mit großen Schriftzügen. Ferdinand sagt, dass ihn die Rede der Matrone beeindruckt hätte, weil sie den Kern getroffen hat. Dr. Witthuhn lehnt sich auf dem ausgesessenen Schreibtischstuhl zurück und blickt über die aufgestapelten Patientenmappen und Papiere hinweg, die kreuz und quer auf der großen Schreibtischplatte herumliegen. Dann sagt er, dass das alles so nicht gehe, so lange das Militär das Sagen habe und die Militärärzte bei der Arbeit Uniformen tragen, was die schwarze Bevölkerung ablehnt. “Die Menschen hier sind im hohen Grad verunsichert und verängstigt, wenn sie eine südafrikanische Uniform sehen. Und diese Ablehnung geht bis zu den Schwestern und Pflegern auf den Stationen.” Er habe diese Bedenken sowohl dem ärztlichen Direktor, der selbst die Offiziersuniform eines Colonels trägt, als auch dem Sekretär der Bantu-Administration vorgetragen. Doch geändert hat sich an dieser Situation nichts.

      Im Gegenteil, der ärztliche Direktor hat in einem schriftlichen Erlass mitgeteilt, dass Offiziere und Mannschaften, die hier ihren Dienst ableisten, dem Befehl des Tragens ihrer Uniformen Folge zu leisten hätten. Was hinter dem Erlass steckt, versucht der zivil gekleidete Superintendent so zu erklären, dass es da ein psychologisches Motiv gibt. Die Militärführung weiß um die ablehnende Haltung der Zivilbevölkerung. Sie registriert mit Sorge die Zunahme dieser Haltung. Deshalb sollen die Militärärzte in Uniformen am Hospital den Dienst versehen, um der Bevölkerung sichtbar zu machen, dass die südafrikanische Armee ihr hilft und lediglich die PLAN-fighter (People’s liberation army of Namibia) der SWAPO (South West Africa people’s organisation) bekämpfe. Es gehöre zur militärischen Taktik, die friedliche Seite der Okkupationsmünze herauszustellen. “Doch die Menschen haben die Taktik durchschaut. Die sind doch nicht dumm. Sie haben ein feines Gespür für das, was abläuft, und misstrauen dem Militär wie den Weißen generell.” Ernüchtert stellt Ferdinand fest: “Dann kann ein Teamgeist, wie ihn die Matrone beschwor, auch nicht entstehen.” Dr. Witthuhn erwidert: “So ist es. In einem Apartheidssystem ist ein solcher Geist von vornherein ausgeschlossen. Die Buren sind eine geschlossene Gesellschaft für sich, die in Zeiten wie dieser besonders eng zusammenhalten. Wenn es um die Einbeziehung der Schwarzen geht, lehnen sie sofort ab. Das ist Burenmentalität, dass nur der Weiße herrschen kann, dem sich die Schwarzen zu fügen haben. Das haben die Buren von ihren Hugenotten-Vorvätern so gelehrt bekommen, und genauso behalten sie es ohne Wenn und Aber bei. Es ist ein Dilemma, was die Politik, die in Pretoria gemacht wird, anrichtet.” Ferdinand: “Dabei ist hier wirklich Not am Mann.”

      Das Militär dokumentiert die totale Abhängigkeit der Bevölkerung von den weißen Ärzten in Uniform. Den Menschen wird klargemacht, dass ohne die weißen Südafrikaner im Land nichts geht, auch nicht in der ärztlichen Versorgung. Für die Menschen ist es die Sackgasse der Ausweglosigkeit, die über Generationen sisyphusartig ausgearbeitet worden ist und mit friedlichen Mitteln nicht zu sprengen ist. Die Befreiung aus der Gasse wurde versucht, scheiterte aber an der Ohnmacht der Schwarzen, die es dann jedes Mal härter zu spüren bekamen. In der Politik zählt die Macht, und die Macht ist bei den Weißen. Dr Witthuhn: “Glaubst du, die Bothas und wie sie alle heißen würden den Schwarzen jemals die gleichen Rechte zugestehen? Ich sage dir, sie werden es niemals tun, so lange sie an der Macht sind und die Schalthebel in ihren Händen halten. Die Schwarzen sollen auf ewig abhängig bleiben. Sie sollen auf den Knien vor ihrem ‘Baas’, dem Herrn und Meister, rutschen, zu ihm aufsehen, als wäre er der liebe Gott persönlich. Sie sollen die Hiebe und das Peitschen weiter hinnehmen und ihm danken, dass er ihnen Brot und Arbeit gibt. Das ist es, warum die Schwarzen den Weißen abgrundtief misstrauen.”

      “Und was ist mit der Resolution 435?”, fragt Ferdinand. Dr. Witthuhn: “Das nehmen die in Pretoria erst gar nicht ernst und machen ihre Späße darüber. Der Bur ist so erzogen worden. Er nimmt es für selbstverständlich, dass er dem auserwählten Volk angehört mit dem Auftrag, über die Schwarzen zu herrschen, sie in die weiße ‘Zivilisation’ zu führen und dort einzugliedern, wo sie in der weißen Gesellschaft hingehören, nämlich ganz untenhin.” Ferdinand: “Das hat aber mit Zivilisation nichts zu tun, wenn sie die Schwarzen wie Sklaven behandeln und sie nach Strich und Faden ausbeuten.” Dr. Witthuhn, der als Sohn eines Missionars in der Kap-Provinz geboren und aufgewachsen ist, erklärt die Geschichte der Buren so: “Als es den Protestanten in Frankreich unter dem vierzehnten Ludwig schlecht ging und ihnen die Bürgerrechte abgesprochen wurden, verließen sie das


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