Die Farben des Abends. Wolfgang Bendick
Читать онлайн книгу.Gespräch, an dessen Ende sie mir eine Liste mit einem Dutzend freier Zivildienststellen gaben und mir sagten, dass es eine Floskel im Gesetzestext gebe, die „Tätige Reue“ heisst, und mit der ich eventuell die mir drohenden acht Jahre Gefängnis, die mir wegen Fahnenflucht drohten, umgehen könnte. Und das alles nur, weil ich wegen chronischen Fernwehs eine Weltreise gemacht hatte, anstatt meinen Ersatzdienst anzutreten! Ich müsste also jetzt von mir aus den Ersatzdienst antreten, dann einen Antrag auf Nachlass der Strafe einreichen. Diesem würde meistens stattgegeben. Nur dürfte ich mich bis dahin nicht von einer Polizeikontrolle erwischen lassen, die würden mich dann gleich einsperren, weil ich ja im Fahndungsbuch stand… Und außerdem seien fünf Jahre die Höchststrafe. Die drei Jahre wegen des zweiten „Entfernens aus dem Bereich des Grundgesetzes“ spielten also keine Rolle. „Wenn das so ist, dann kann ich ja jederzeit wieder gehen! Ich dachte, das wird alles zusammengezählt, und am Ende kann man mir lebenslänglich anhängen, nur weil ich den Absolutheits-anspruch des Staates nicht anerkenne!“
Ich hielt also eine ganze Liste mit Adressen in meinen Händen. Ich strich alle aus, die nicht in den Bergen lagen. Denn außer, dass ich die Berge liebte, wollte ich eine Stelle unweit der österreichischen Grenze, damit ich jederzeit meinem Freiheitsdrang nachgeben könnte, falls mir eben diese fünf Jahre nicht nachgelassen werden sollten. Und wenn ich mich schon in eine eineinhalbjährige Verpflichtung einließe, dann sollte auch das Betriebsklima stimmen. Und das stimmte am Kampenwandhaus, einer Art Freizeit-Komplex der ‚Freunde der Berge Deutschlands‘. Nachdem ich schon zwei andere Jugendherbergen besucht hatte, traf ich mich mit dem Hausmeister in Oberthal. Tirolerhut, Hirtenbart, Bundhosen, kritischer Blick auf meine Erscheinung. Wir fahren das Stillbachtal hoch, unter einer riesigen Seilbahnbaustelle durch, und halten vor einer dahinter versteckten Miniaturbahn, der Materialseilbahn eben jenes Hauses, an. Das Tal ist für den Autoverkehr gesperrt, nur Wanderer, Radler und die von kräftigen Haflingern gezogenen „Stellwägen“, gummibereifte Kutschen (im Winter Schlitten) für den Touristentransport, dürfen hier rein. Und jetzt auch die Dutzende LKW täglich, die Beton und Stahl für eine neue Seilbahn ankarren, damit auch jeder des laufunwillige und -unfähige Städter die Freuden und die Stille der Berge erleben kann. Wie soll das mal werden, wenn alles fertig ist? Denn außer den Betonklötzen der Tal-, Mittel- und Bergstation und den eiffelturmartigen Pfeilern entsteht ein graustaubiger Parkplatz für ein paar tausend Autos. Dann werden die echten Naturfreunde eben auf andere Pisten umgeleitet werden müssen!
Wir entladen den Kombi und verstauen den Proviant, die Post, zwei Kannen Milch und etwas Gepäck von angemeldeten Gästen in der einer schiffschaukelähnlichen, mit einer Plane überdachten Gondel. Herrmann, so heisst mein wortkarger Begleiter, der fast jede meiner Fragen mit einem „woll“ oder „hm“ quittiert, kurbelt an einem alten Feldtelefon. Nach einer Weile hebt jemand ab und nach zwei weiteren „Woll“ und „wir hocket diene“ erschallt ein lauter Summton. Dann setzt sich nach ein paar Sekunden die Gondel mit einem Ruck in Bewegung. Leise surren die Gummischeiben der Laufräder auf dem fettigen Tragseil. Dann ein weiterer Ruck, diesmal durch das leicht durchhängende Zugseil etwas gedämpft, und wir sind auf Mach 2, Höchstgeschwindigkeit. Schon sehe ich die erste Stütze näherhuschen. Es geht steil bergauf. Das Zugseil spannt sich und schon rumpeln wir über den kufenartigen Gleitschuh, der das Tragseil an den Ausläufern des Mastes hält. Dann, plötzlich, das Hindernis überwunden, saust die Schaukel schneller vorwärts, wie ein Schiff, das eine Woge überwunden hat und wieder in die Fluten taucht, pendelt, mir hebt sich etwas der Magen. Herrmann grinst. Die Plane flattert im Fahrtwind, schlägt ins Kabineninnere. Sie ist leicht von Fettspritzern verunziert, wohl vom Zugseil oder dem Laufwagen. Eine Armbewegung, und sie ist wieder draußen. Rums - wir rattern über den nächsten Pfosten.
Vor uns erweitert sich das Tal, gibt den Blick auf entferntere Berge frei. Noch eine Stütze und wir überschweben das „Tobel“, den tiefsten Punkt. Tief unten springt ein Bächle hurtig über gerundete Felsblöcke dem Stillbach zu. „Do wennd obi fallscht, dann bischt erledigt! Achtzig Meter!“, klärt mich mein Begleiter auf. Doch bevor sich meine Barthaare sträuben können, sind wir schon darüber hinweggeglitten. Wie ein sich herabstürzender Adler huscht plötzlich etwas auf uns zu und rauscht vorbei, die Gegengondel, leer. Also haben wir die Mitte hinter uns! Wir schweben inmitten der Tannenwipfel, ich erkenne Flechten an den Ästen, und mein Blick kreuzt den eines erstaunten Eichhörnchens. Talwärts folgen meine Augen der neuen Bahntrasse, die den Hang queren wird und verweilen kurz auf der enormen Baustelle. „Hässlich“ kommt mir in den Sinn. Ich ziehe es vor, den Blick wieder abzuwenden und die Grashänge eines schroffen Berges über der anderen Talseite zu bestaunen. „D‘ Huffats! Do wachset d‘ Edelweiss!“ erklärt mir Herrmann und zeigt auf seinen Hut. In den felsigen Rinnen der Bergflanke liegen Schneebänder. Auch unter uns breiten sich jetzt Schneeplatten aus, in denen, wie auf Inseln, uralte Bäume stehen. Spuren von Wild führen in Zickzack durch den harschigen Schnee. Dann wird der Hang plötzlich flacher, der Wald weicht zurück, Sonnenlicht umhüllt uns, weiß gleißt die Schneedecke unter uns, der Himmel blendet uns mit seinem klaren Blau. Die Fahrt wird langsamer, wir gleiten in den „Bahnhof“. Ein Ruck, Stillstand, die Gondel pendelt sich leicht aus. Aus dem Fahrerstand des Maschinenhauses tritt ein junger blonder Bursche in Küchenklamotten mit huskyblauen Augen. „Tach, ich bin Willi, Zivildienstler!“ „Hallo Billy, ich bin der Wolfi!“ „Sagen wir mal der Wolfgang!“ Der scheint was gegen Abkürzungen zu haben, denke ich.
Zusammen laden wir zwei den ganzen Krempel aus der Gondel in einen wagenartigen Anhänger, der aber auf zwei Kufen steht. Er hängt hinter einem grünen Motorschlitten draußen vor dem Maschinenhaus. Mir bleibt kaum Zeit, die uns umgebende Bergkulisse zu bestaunen. Inzwischen hat Herrmann die Post sortiert, die er mit anderen Papieren in einer dicken Ledermappe bei sich hatte und gibt Billy einen Brief. Dann setzt er mit einem Zug an der Schnur den Motor des Schlittens in Gang und fährt zu dem so 50 Meter tieferliegenden Gebäude hinunter, eine Zweitakt-Wolke hinter sich lassend, die sich langsam mit dem hellblauen Himmel vereint. Warm durchdringen mich die Sonnenstrahlen, ich halte die Hand schützend über meine Augen und trinke mich erst mal satt an dem Anblick der Bergketten. Hindukusch, Himalaya, Rocky Mountains, meine Sehnsucht schweift weit… Doch dies hier sind die Alpen, und jetzt ist erst mal „tätige Reue“ angesagt. Ich senke meinen Blick auf das große, von einer meterdicken Schneeschicht bedeckte Dach unterhalb, von dem dicke Eiszapfen fast bis zum Boden hinunterreichen. Meine Schritte knirschen leicht im stellenweise etwas sulzigen Schnee, während ich zum Bau hinunterlaufe, begleitet von Billy, der mir die Hucke volllabert von seinen paar Monaten bei der Bundeswehr, von echter Gemeinschaft und gegenseitiger Erziehung. Seit 14 Tagen ist er hier oben, im Moment noch alleine. Also schon ein alter Hase. Ich erfahre von ihm, dass bald insgesamt sechs Zivildienstler hier arbeiten werden.
Das Haus, wohl aus den dreißiger Jahren, so ein Protzbau für „Kraft durch Freude“, ist weiß verputzt. Mit hölzernen Fensterläden überall, die dringend einen Schlag Firnis nötig hätten. Wie viele Betten mag es haben? Mindestens hundert, auf jeden Fall! Ski stehen zu Dutzenden in langen Reihen davor, an eine Halterung aus Zinkrohren gelehnt. Ein paar Leute liegen in der Sonne und versuchen, ihre Stadtbleiche loszuwerden. Und da kommt auch schon der Chef, wie Billy mich aufklärt, angewuselt, einen riesigen Schlüsselbund als Zeichen seines Amtes in der Hand (in seine Tasche passt der auf jeden Fall nicht). Doch was mir am meisten auffällt, sind seine lachenden blauen Augen und sein offenes Wesen. Und sein starker hessischer Dialekt. Ob dies DER Ort ist?
„Ja dann mal herzlich willkommen!“, meint er, „schauen wir uns erst mal Ihren zukünftigen Arbeitsplatz an, ehe wir über den Rest reden!“ Er führt mich durch den Skiraum, den Heizraum mit seinem Ölbrenner und dem leichten Geruch von Heizöl, in die riesige Küche und von da in die Spülküche, meinen zukünftigen Wirkungsbereich, wie er meint. Alles gekachelt, eine nirosta-silberne Spülmaschine thront an einer Wand zwischen Becken und Ablagen, ihr gegenüber die Schiebetür des Geschirraufzuges. Das schaut gar nicht so schlimm aus, denke ich mir. Dann die Treppen hoch, in den ersten Stock, oder das Erdgeschoss, wenn man den Küchenbereich als Keller nimmt. Dort befindet sich die Wohnung der Cheffamilie, Büros, zwei große, durch eine Faltschiebetür abtrennbare Speisesäle, die durch ein quadratisches „Buffet“, die Essensausgabe, voneinander getrennt sind, das, wie ich später sehen werde, auch als Bar dient. Dann öffnet er eine Tür zu einem kleinen, gemütlichen Raum, „das Personalzimmer, für gemütliches Zusammensein