Coronas Zeugen. Stefan Kuntze

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Coronas Zeugen - Stefan Kuntze


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eilte er zurück in den Wohnbereich, setzte sich an den Schreibtisch und begann ein neues Dokument. Man musste den Unzufriedenen vermitteln, dass sie Teil eines großen Ganzen waren und vor allem, dass sie zu den Guten gehörten. Dafür brauchte es weniger ein schlüssiges Konzept als vielmehr gute Parolen. Slogans mussten griffig sein, damit sie die Leute packten.

      Politisch zuordnen sollte man sie nicht so leicht können. Vor allem mussten sie harmlos klingen. Es wäre gelacht, wenn ihm da nichts einfiele! ‚Frieder für Freiheit‘ war zwar gut, aber er wollte sich den Anschein von Bescheidenheit und Zurückhaltung geben. Das kam besser an als auch nur der Anschein von Angeberei.

      Zunächst musste das Ganze nach einer echten Bewegung klingen, etwa so: ‚Besorgte Bürger fordern ihre Rechte zurück‘. Naja, in der Art. Dieser Spruch war aber zu politisch. Irgendwie musste es lockerer daherkommen. Er war schließlich kein verbissener Ideologe. Und Spaß machen musste die Demonstrierei auch. Die Leute würden vielleicht sogar in der ganzen Republik umherreisen, um dabei zu sein. Was für eine gigantische Bewegung könnte entstehen, wenn er es richtig anpackte.

      Auf dem Bildschirm schimmerte immer noch das leere Dokument. Er zog die Tastatur heran und gab Kundgebung 2.0 ein. Das klang gut. Eine Kombination von Wort und Zahl war moderner und schlagkräftiger als ein bloßer Name. Ein guter Oberbegriff wäre vielleicht ‚Denken 2.7‘. Nein, so etwas verstand kein Mensch. Es geht darum, den Leuten einzureden, dass sie es selber sind, die etwas bewegen in diesem Land.

      Natürlich, warum hatte er das nicht schon längst gefunden: Selber denken 2.7 war die passende Parole. Das betonte Eigenständigkeit und gleichzeitig ungeheuren Fortschritt, weit über 2.0 hinaus. Die Sieben könnte darüber hinaus seiner Heimatstadt Stuttgart zugeordnet werden. Das war es. Lokal verwurzelt, offen gegenüber dem Fortschritt: ‚Selber Denken 7000‘. Frieder, dachte er, ich will zwar nicht übertreiben, aber das ist genial!

      Um der Konkurrenz von vorneherein keine Chance zu geben, wäre es angebracht, die Postleitzahlen aller Großstädte in Deutschland schützen zu lassen. Der Rechtsanwalt, der die Firma betreute, sollte sich darum kümmern, ob das über Patent oder Warenzeichen möglich war.

      Als er kurz nach Mitternacht wie betäubt ins Bett fiel, hatte er folgende Parolen entwickelt: „Freiheit, Frieden, Güte!“, „Lächeln macht frei“, „Menschenskind“ und „Glaube, Liebe, Glück“. Das klang alles schön unbestimmt und griffig. Vor allem war es allgemeingültig. Manche mochten die Aussagen banal finden. Das störte ihn nicht. Über Preise musste er mit der Druckerei reden. Eine Gewinnspanne von 60 % war sicher zu realisieren. Und das Wichtigste: Die Slogans waren kurz. Sie passten sogar auf Kleidung der Größe S und auf Kindershirts.

      Alles war richtig an diesen Ideen und Slogans. Niemand könnte ihn politisch in eine bestimmte Ecke stellen, und wer konnte schon etwas gegen diese Botschaften haben? Frieder Welte schlief tief und fest. Er hatte viel zu tun in den nächsten Tagen. Er würde die Kundgebungen auf ein neues Level heben. Der Schlossplatz, ja sogar die ganze Stadt Stuttgart würden nicht ausreichen für das, was er vorhatte. Es gab viele Strömungen in der Gesellschaft und Menschen, die man ansprechen konnte mit dieser Aktion. Der Anwalt musste ihm auch noch ein paar griffige Formulierungen zu den Grundrechten liefern. Um die ging es schließlich! Morgen würde er für Anfang Mai eine Großkundgebung anmelden. Bis dahin musste alles fertig sein.

      Die Demos auf dem Schlossplatz konnten nur den Anfang bilden. Ihm schwebte Größeres vor. Die Zeit war reif!

      Mittwoch, 15. April 2020

      Es fing ganz harmlos an, wie meistens. Die Telefonbasis blinkte, als er die Wohnung betrat. „Lieber Herr Pfeiffer, hier ist der Magazin-Verlag. Der neue Ressortleiter hat vielleicht ein Projekt für Sie. Könnten Sie morgen so gegen 10 Uhr einmal vorbeischauen?“ Natürlich konnte er. Eine Reise in den Osterferien war finanziell nicht drin. Konrad zog ein Zigarillo aus der flachen Blechschachtel und suchte auf dem winzigen Balkon eine windstille Ecke.

      Ein Projekt wollten sie ihm anbieten! Seit der Pensionierung des alten Ressortleiters Ende letzten Jahres hatte er nichts mehr vom Verlag gehört. Endlich bot sich die Chance, wieder etwas Geld zu verdienen. Das war bitter nötig. Termine hatte er morgen keine, wie seit vielen Wochen schon. Hoffentlich konnte er den Neuen davon überzeugen, dass man den renommierten Herrn Pfeiffer viel öfter, eigentlich sogar auf Dauer brauchte.

      Er hatte keine Vorstellung davon, wie und wovon er in Zukunft leben sollte. Ohne Aufträge fehlte es an ausreichendem Einkommen und ohne Partnerin an einem befriedigenden Familienleben. Wenn es schlecht lief, müsste er die Wohnung aufgeben und vielleicht sogar seine geliebte Heimatstadt verlassen. Die Lebenshaltungskosten waren zu hoch für einen freien Journalisten mit mäßigem Erfolg. Konrad verkniff sich ein zweites Zigarillo.

      Seine Wohnung befand sich im 5. Stockwerk eines Altbaus am Eugensplatz über der Stuttgarter Innenstadt. Oft und gerne genoss Konrad den weiten Blick über den Talkessel bis zur gegenüber liegenden Hügelkette zwischen Doggenburg, Kräherwald und dem höchsten Berg der Stadt, dem Birkenkopf. Schräg vor dessen Silhouette ergoss sich der grüne Rücken der Karlshöhe wie ein erkalteter Lavastrom hinab in die Stadt. An dessen Fuß begann der Innenstadtbereich. Der Tagblattturm, etwas westlich des zentralen Schlossplatzes, ragte wie ein Ausrufezeichen aus dem Häusermeer empor.

      Es war aber auch zum Auswachsen! Diese verdammten Einschränkungen, die im ganzen Land angeordnet waren, machten sein übliches Arbeiten unmöglich. Wie sollte man mit Menschen Gespräche führen, Bibliotheken und Archive durchstöbern, wenn Abstand, Maske und Schließung öffentlicher Einrichtungen die Antwort der Regierung auf die Seuche waren? Zu Beginn des Jahres hatte er eine vielversprechende Recherche begonnen: Die Sanierung des historischen Opernbaus und die Spaltung der Stadtgesellschaft in Fragen der Hochkultur. Er war kurz davor gestanden, ein Komplott aufzudecken, was einige angesehene Größen in Kultur und Politik ins Schwitzen gebracht hätte.

      Missmutig erinnerte er sich an die Interviewabsagen, die ihn seit den ersten Meldungen über die endemische Ausbreitung eines neuen Virus im März ausgebremst hatten. Seither war Sendepause! Das kleine Spardepot war zusammengeschmolzen. Nicht einmal Kurzarbeitergeld konnte er beantragen. Er war schließlich selbständig. Von den Hilfen für Soloselbständige hatte er bislang nicht profitiert. Sein Antrag schlummerte seit Wochen bei den städtischen Ämtern.

      Vielleicht kam jetzt die Wende! Das Magazin zahlte ziemlich ordentlich. Konrad Pfeiffer war kein Nobody in der Stuttgarter Kulturszene. Als eleganter Kenner von Oper, Theater und Ballett hatte er regelmäßig seine Leser und vor allem Leserinnen gefunden. Geschätzt wurde auch seine Fähigkeit, juristische Fragen so zu durchleuchten, dass jeder Interessierte die Sache verstehen konnte. Aber irgendwie war er in den letzten Jahren nicht mehr so recht zum Zuge gekommen. Das Magazin kam ihm seit den letzten Ausgaben langweiliger vor, als er es in Erinnerung hatte. Mutige Denkanstöße und Kritiken waren rar. Alles wirkte bürgerlicher. Vor allem fehlten seine eigenen Essays, Features und Reportagen die manchmal sogar von überregionalen Kulturmagazinen übernommen wurden.

      Vorbei war auch der September 2019, als man ihn für zehn Jahre erfolgreicher Arbeit mit einem Portrait im Magazin geehrt hatte. Auf dem Foto war nicht zu erkennen, dass seine Haare sich schon etwas verfärbt hatten. An seinem 40. Geburtstag im letzten Jahr waren ihm zum ersten Mal graue Strähnen aufgefallen. Die hatte der Fotograf sauber wegretuschiert und den Aufnahmewinkel so perfekt gewählt, dass der leicht gekrümmte Rücken und vor allem die geringe Körpergröße nicht auffielen.

      Konrad Pfeiffer, der Erklärer auch schwieriger Zusammenhänge, so hatte der Chef ihn genannt. Der damalige Ressortleiter Kultur und Gesellschaft hatte ihn während des Empfangs auf die Seite genommen und ihm angedeutet, dass diese Ehrung der Einstieg in eine Festanstellung werden könnte. „Konrad, das ist deine Chance! Du solltest allerdings ein bisschen mit dem saloppen Ton aufpassen. Mein Nachfolger scheint mir stromlinienförmig zu sein, und der Chef hat erst kürzlich erklärt, unser Blatt müsse sein seriöses Profil betonen.“

      Unmittelbar nach der Feier begann die Recherche zur Opernsanierung, und an Sylvester hatte er mit ehemaligen Kommilitonen von der Hochschule der Medien ein phantastisches Fest gefeiert. Seine erste große Liebe war mit dabei gewesen, die großartige, kluge Ingrid mit den roten Haaren und der Traumfigur. Das


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