Coronas Zeugen. Stefan Kuntze

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Coronas Zeugen - Stefan Kuntze


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Hunderte von Menschen. Vor den Ständen drängten sich ungeduldige Käuferinnen und Käufer in langen Schlangen.

      Konrad übte sich in Geduld, bis er Salat, Äpfel und jungen Spinat in seinen Korb packen konnte. Die Wartezeit vertrieb er sich mit einer ausgiebigen Betrachtung dieses geschlossenen Ensembles aus der Stuttgarter Vergangenheit. Zwischen Stiftskirche, Fruchtkasten, Alter Kanzlei und dem einer mittelalterlichen Burg nachempfundenen Alten Schloss bekam man eine Ahnung von der Pracht der Stadt im 17. Jahrhundert, als die Renaissance den Baustil der Herrschenden prägte und die württembergischen Herzöge sich einen Baumeister Schickhardt leisteten.

      Erst als er den Torbogen des Durchlasses in Richtung Schlossplatz erreichte, fiel ihm ein, dass das Tabakgeschäft im Königsbau aufgrund der Corona-Verordnung geschlossen war. Er wollte gerade umdrehen, als er Musik und – nach einem heftigen Rauschen der Verstärkeranlage – einen Redner hörte. Ach ja, für heute war eine dieser Demonstrationen angesagt gewesen. Er nahm seinen Korb und näherte sich dem Grüppchen.

      „Wir sind hier, weil wir uns die Freiheit nicht stehlen lassen. Wir nehmen unser Grundrecht wahr und lassen uns nicht einschüchtern. Wir denken selber und wissen, dass wir unterdrückt werden sollen. Das lassen wir uns nicht gefallen. Wir sind das Volk!“ Beifall brandete auf.

      Was war das denn? Konrad hatte von den Selberdenkern gehört, aber hatte das Ordnungsamt die heutige Kundgebung nicht untersagt? Wegen zu großer Ansteckungsgefahr. Wieso griff niemand ein? An der Bushaltestelle unter der Hermessäule standen ein paar Polizeifahrzeuge. Drei Beamte lehnten an einem Straßenschild und blickten gelangweilt in Richtung der etwa 50 Menschen, die dem Redner zuhörten.

      „Sie sprechen von Rechtsstaat“, fuhr der Redner fort, „und was tun sie? Sie verbieten uns die Ausübung des Versammlungsrechts, das zu den kompli…, äh,“ er nahm einen Zettel von der Unterlage „zu den konstituierenden Rechten des Grundgesetzes gehört.“ Der breitschultrige Mann legte das Papier, aus dem er vorgelesen hatte, auf das Rednerpult zurück. Er trug ein helles T-Shirt, auf dem ein großes, rotes Herz aufgedruckt war.

      Konrad hatte die Gruppe erreicht und stellte sich auf die Treppenstufen unter der Arkade bei dem Bankgebäude an der Ecke zur Königstraße. In der Menschentraube trug niemand eine Maske. Die in der Corona-Verordnung vorgeschriebenen Abstände wurden nicht eingehalten. Die Menschen standen dicht gedrängt. Wieso griff eigentlich die Polizei nicht ein? Eine Pflicht, die nicht durchgesetzt wurde, war nichts wert. Soweit er sich erinnerte, nannten Juristen so etwas Vollzugsdefizit. Er fand es gefährlich und vergrößerte den eigenen Abstand zu den Demonstranten.

      Im Hintergrund wehte eine schwarz-weiß-rote Fahne. Vorne rechts stand ein dicklicher Herr im Anzug mit langen blonden Haaren und einem roten Gesicht. Er kam Konrad bekannt vor, aber er konnte sich nicht erinnern woher. Der Mann reckte ein weißes Papier zwischen den erhobenen Armen in die Höhe. ‚Gebt uns unser Recht zurück!‘, stand in wackeliger Schrift darauf. Weiter hinten hielt eine Frau im langen, bunten Strickrock ein Plakat mit der Aufschrift: ‚Masken töten unsere Kinder!‘ Neben ihr erkannte er mehrere Menschen in Kleidung aus Naturwolle und Leinen. Eine türkisfarbene Fahne wehte über ihnen. Sie trug die Aufschrift: ‚Impfen tötet, Mr. Gates!

      Der Redner griff den Faden wieder auf mit den Worten „Wir wollen nichts Unrechtes. Das hat uns das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Dank sei unserem Anwalt, dem Frank Bauer. Ich sage euch, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir wollen Liebe und Freiheit, mehr brauchen wir nicht. Weg mit der Corona-Diktatur!“

      Die bunte Versammlung wiederholte vielstimmig und lautstark: „Weg mit der Corona-Diktatur!“ In der hintersten Reihe waren Plakate zu sehen, die die Bundeskanzlerin, den Vizekanzler und den Gesundheitsminister in Häftlingskleidung zeigten.

      „Merkel muss weg! Nieder mit der Merkel-Diktatur“, schallte es von dort.

      Der Verstärker war hochgefahren worden. Die Stimme klang metallisch. „Und allen Mainstreamjournalisten, den Speichelleckern der Regierung und der Pharmaindustrie sagen wir: Wenn ihr nicht die Wahrheit berichtet, habt ihr bei uns nichts zu suchen. Liebe Freunde, ich verlange von Journalisten bei meinen Veranstaltungen die Unterschrift unter eine entsprechende Erklärung. Ich bestehe auf der Wahrheit. Wir lassen uns nicht verleumden!“

      „Lügenpresse! Lügenpresse!“, antwortete die Versammlung.

      „Wir kämpfen für Freiheit und Liebe, aber wir tun es mit Anstand und Kultur. Deshalb freue ich mich ganz besonders auf den nächsten Beitrag. Begrüßt mit mir Herrn Dr. Adam Wulf, den musikalischen Medizinexperten!“

      Konrad wollte sich gerade verdrücken, als von der Bühne Gitarrenakkorde erklangen. „Liebe Selberdenker, ich danke Frieder Welte für die Einladung. Als Arzt habe ich tagtäglich mit Krankheiten, Bakterien und Viren zu tun. Und ich sage euch, was diese Bundesregierung veranstaltet, das ist unverantwortlich. Wegen eines Virus sperren sie das ganze Volk ein und berauben uns der Freiheit. Dabei kann dieses Virus nicht mehr als ein stinknormales Grippevirus. Sie glauben einem Virologen, der überall Gefahren wittert und ständig ‚Alarm, Alarm!‘ schreit. Solche Warner brauchen wir nicht, wir denken selber.“

      „Selber denken! Selber denken!“, antwortete der Chor der Kundgebungsteilnehmer.

      Der Redner schlug noch einmal seine Akkorde. „Ich habe ein Lied verfasst, das ich euch vorsingen möchte. Wir wollen dem Wahnsinn mit Humor, Liebe und Kunst begegnen.“

      Konrad blieb stehen und bekam Folgendes zu hören: „Wir werfen den Covid in die Flammen, mit Virologen zusammen.“ Johlend und klatschend begleiteten die Menschen die einfache Melodie. Auf einem Tisch neben der Bühne lagen T-Shirts aus, die mit Wörtern oder mit Herzen bedruckt waren.

      Konrad umrundete die Kundgebung. Auf der Seite zum Schlossplatz hin, bei der Gruppe der Schwarzgekleideten, hörte er im Vorbeigehen: „Gut, dass dieser Schwachkopf unseren Rechtsanwalt erwähnt hat. Der ist wirklich unser wichtigster Mann. Was meint ihr Kameraden, besuchen wir ihn gleich? Du kannst ihm schon das Foto schicken.“

      Konrad stellte die Korbtasche ab, um eine Aufnahme von der Kundgebung zu machen. Als er sein Mobiltelefon anhob, wurde er angerempelt. Zwei Männer aus der Gruppe drängten seitlich an ihn. Einer riss das Telefon aus seiner Hand. Er konnte sich nicht bewegen, da auch hinter und vor ihm jemand aufgetaucht war.

      „Du kannst hier nicht einfach so rumfotografieren!“

      „Wie bitte? Wir leben in einem freien Land …“

      Die Männer lachten. „Das denkst du vielleicht, aber glaub ja nicht, dass du deine Unwahrheiten überall erzählen kannst. Wir mögen verlogene Journalisten nicht.“

      „Lassen Sie mich sofort los, sonst … Woher wollen Sie wissen, dass ich Journalist bin?“

      „Das riechen wir und ich wette, du hast die Wahrheitserklärung von Herrn Welte nicht unterschrieben.“ Einer der Männer wedelte mit einem Blatt Papier vor Konrads Gesicht. Ein heftiger Zorn erfasste ihn, der die Angst vor den Schwarzhemden übertraf. „Geben Sie sofort mein Telefon zurück.“ Er wurde laut. Vom Alten Schloss sahen die drei Polizeibeamten zu ihnen herüber. „Hilfe!“, schrie er. „Ich werde bedroht.“

      Die Polizisten überquerten die Straße. „Was ist hier los? Haben Sie Hilfe gerufen?“

      „Diese jungen Männer haben mir das Handy abgenommen und mich bedroht.“

      „Welche jungen Männer? Ich sehe niemanden, und ihr Telefon liegt hier auf dem Boden. Das muss Ihnen runtergefallen sein.“

      Konrad blickte sich verwirrt um. Die Kundgebung löste sich auf. In der Menschenmenge konnte er die Schwarzhemden nirgends entdecken. Sein Korb stand noch neben ihm.

      „Sie haben gedacht, ich sei Journalist und mich als Lügner beschimpft.“

      Der junge Polizist bückte sich und hob das Telefon auf. Er reichte es Konrad und sah ihn freundlich an. „Also wenn Ihnen nichts fehlt und sie die angeblichen Täter nicht sehen, können wir nichts weiter veranlassen.“ Er senkte die Stimme. „Wissen Sie, es wird ja in den Zeitungen wirklich viel Falsches behauptet. In manchem haben die Demonstranten doch recht. Auf Wiedersehen.“


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