Coronas Zeugen. Stefan Kuntze

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Coronas Zeugen - Stefan Kuntze


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er für sich den Arbeitstitel formulierte. Mit diesem Text würde er sich Ingrid als erfolgreicher Journalist präsentieren. Er wollte versuchen, die verschiedenen Strömungen, die bei den Hygienedemonstrationen zusammengekommen waren, zu erforschen, um anschließend Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Hintergründe darzustellen. Auf den Straßen und in den Internetforen tummelten sich Esoteriker, Anthroposophen, Identitäre, Reichsbürger, alternative Ärzte und Heilpraktiker und nicht zuletzt Rechtsradikale von der AfD bis zu Neonazis. Ein Riesenspektrum.

      Konrad kam ins Grübeln. Ob das bis Ende Mai zu schaffen war? Der Kaffee war sehr stark geraten. Er holte sich ein Glas Wasser im Badezimmer. Dort blickte er in sein leicht besorgtes Gesicht im Spiegel. ‚Bangemachen gilt nicht‘, sagte er laut. Also, wo anfangen? Erst einmal die Grundlagen: Mitte März war die Zweite Corona-Verordnung der baden-württembergischen Landesregierung in Kraft getreten, die neben den Schulen, Kindergärten und Kultureinrichtungen auch den nicht zum Überleben erforderlichen Einzelhandel zur Schließung zwang. Seither grassierten die Erzählungen der Selberdenker und anderer sogenannter Kritiker. Ob der Selberlenker mit seinem Fahrrad auch dazu gehörte?

      Was findet man unter dem Stichwort Verschwörungsgeschichten? Der erste Suchlauf ergab derart viele Treffer, dass er fürchtete, die Aufgabe könnte schwieriger werden, als er angenommen hatte. Er rief sich das Zwiegespräch vor dem Spiegel in Erinnerung und suchte weiter. Sieben Ordner hatte er angelegt und mit zahlreichen Dokumenten gefüllt, und das waren erst Bruchteile der zugänglichen Informationen.

      Was weiß ich eigentlich über Bill Gates, fragte er sich am frühen Nachmittag, nachdem dieser Name auf jeder zweiten Seite aufgetaucht war. Ich finanziere ihn auch mit meinen Microsoft-Anwendungen. Was ist an diesem amerikanischen Multimillionär Besonderes? Weshalb wird er von vielen zum Erzfeind erklärt?

      Fakt war, dass der inzwischen nicht mehr im operativen Geschäft tätige Unternehmer den Kristallisationspunkt zahlreicher Behauptungen bildete, die letztlich alle daran anknüpften, dass er und seine Frau mit einem Teil ihres riesigen Vermögens Projekte der Entwicklungshilfe und der Weltgesundheitsorganisation unterstützen. Das täten sie aber nur, um gedeckt von finsteren Mächten andere, schreckliche Ziele zu verfolgen. Kenner sprachen von der Bill und Melinda Gates (BMG) -Verschwörungstheorie. Ziel sei – wie es sich für eine solche Geschichte gehört – die Weltherrschaft. Vorher müsste allerdings noch die Weltbevölkerung verringert werden.

      Konrad hatte eine Eingebung, als er am offenen Fenster ein Zigarillo rauchte. Wie angenehm, dass Anna nicht mehr da war, die das Rauchen gehasst und verteufelt hatte. Tabak regte den Gedankenfluss an. Könnte nicht Aufhänger der Geschichte sein, dass manche Menschen philanthropisches Verhalten für unmöglich hielten, für etwas, das dem Wesen des Menschen zuwiderlief? Das wäre ein kritischer Ansatz, wie er sicher für das Profil des Magazins passte und auch dem Schnösel gefallen könnte. Einfach nur darstellen, was es gab, war sicher nicht Stil des Hauses. Sonst könnte man auch ein Boulevardmagazin bedienen. Das Magazin war schließlich nicht der Stern!

      Das zweite Zigarillo wollte nicht schmecken. Vielleicht lag es daran, dass es das letzte seiner dominikanischen Lieblingsstängel war, aber er fühlte sich irgendwie schlapp. Er sollte sich durchchecken lassen. In seinem Alter war so etwas angesagt. Gelegentlich plagten ihn Schwächephasen, die rasch vergingen und ebenso rasch vergessen wurden.

      Er setzte sich wieder an den Tisch und griff nach seinem edlen Füllfederhalter. Anna hatte zu seinem 35. Geburtstag sogar den Namen eingravieren lassen. Also, wie lautet der Obersatz? These: Wer egozentrisch, kleingeistig und geizig ist, hält einen großzügigen Menschen für einen Lügner oder für jemanden, der etwas anderes verbergen will. Je umfangreicher die Bemühungen des Philanthropen, desto schlimmer musste sein, was er zu verdecken hatte! Konrad schmunzelte. Er war absolut sicher, dass egozentrische Kleingeister zuhauf in der Welt herumliefen.

      Mit dem Ergebnis der Recherchen und Überlegungen aus den letzten Tagen war er zufrieden und verließ die Wohnung. Er hatte gelesen, dass der Kiosk am Olgaeck geöffnet war, weil er auch Getränke und Schokoriegel anbot. Damit diente er der Deckung des täglichen Bedarfs und war nicht zwangsweise geschlossen. Konrad würde sich dort eine Packung Zigarillos besorgen. Es gab da zwar nicht seine Marke, aber in diesen Zeiten musste man bescheiden sein. Sein Stammgeschäft im Königsbau war geschlossen.

      An der Haltestelle vor den großen Kastanienbäumen saßen drei Menschen, die eine Stoffbedeckung über Mund und Nase trugen. Was war das denn? Hatte das Robert-Koch-Institut nicht offiziell verlautbart, die habe keinerlei Schutzwirkung? Naja, Übereifrige gab es immer. Oder stimmte die Erzählung einiger besonders Schlauer, dass diese Aussage nur der Knappheit an Masken geschuldet war? Dann hätte die Regierung bei ihrer Einkaufspolitik total versagt.

      Konrad war sich nicht sicher, ob dies schon eine Verschwörungserzählung war oder eine gerechtfertigte Kritik. Allerdings konnte Bill Gates an diesem Mangel kein Interesse haben, es sei denn, man glaubte diesen Unsinn von der Reduzierung der Weltbevölkerung durch Erfindung eines Virus. Er beobachtete ohne wirkliches Interesse, wie die drei Maskenträger in die Bahn stiegen.

      Der Fußweg zum Olgaeck tat ihm gut. Die Bewegung verscheuchte viele Gedanken an böse Mächte und teuflische Eliten, die sich nach der Lektüre des Vormittags in seinem Kopf eingenistet hatten. Vor dem Kiosk hatte sich eine Schlange gebildet. Was den vorgeschriebenen Abstand betraf, mussten die Menschen noch lernen, aber ansonsten ging es recht zivilisiert zu. Als Konrad die parfümierten Zigarillos erworben hatte – eine andere Sorte führten sie nicht – machte er sich wieder auf den Heimweg.

      Während des Anstiegs sank sein Optimismus. Er rief sich die bisherige Lektüre in Erinnerung. Waren das wirklich nur naive Fehlgeleitete, die da schimpften und wetterten und sich von bösen Mächten verfolgt sahen? Eine Diskussion oder so etwas wie einen Austausch von Argumenten suchte man vergeblich. Er fragte sich, ob auch in seiner Umgebung in Stuttgart Menschen lebten, die an das absolute Böse glaubten, demgegenüber jede Form von Gegenwehr erlaubt sei.

      Er hatte viel Arbeit vor sich.

      Samstag, 18. April 2020

      Es war wie ein Ritual. Samstags ging Konrad nach einem kurzen Frühstück zu Fuß in die Stadt auf den Wochenmarkt. Er liebte diese Institution, die Landwirte, Händler und Gärtnereibetriebe aus der Region dreimal in der Woche mitten in der Großstadt mit Leben erfüllten. Wie immer trug er die eckige Korbtasche mit den schmalen Lederhenkeln, die er vor Jahren bei einem Korbflechter im Kinzigtal erworben hatte. Ein leerer Eierkarton und mehrere Tüten steckten darin.

      Auf dem Karlsplatz war der martialische preußische König und erste deutsche Kaiser Wilhelm auf seinem Ross inmitten der vier Obelisken kaum noch zu sehen, weil um seine erhöhte Plattform herum das allsamstägliche Flohmarktgeschehen brodelte. Niemand schenkte dem Monarchen wider Willen Beachtung. Tauben kackten auf seinen Pickelhelm.

      Trotz der Uhrzeit herrschte reger Betrieb. Aus dem Wagen am Rand der Freifläche verbreitete die Fritteuse den Duft der ersten Falafel-Bällchen. Konrad lief das Wasser im Mund zusammen. Am Stand des Spielzeughändlers, der Märklin-Eisenbahnen aus den 1930er Jahren anbot, konnte er nicht vorbeigehen. Wenigstens einmal wollte er die wunderschöne grüne E-Lok RV12890 in die Hand nehmen, die er sofort erspäht hatte. Sie wurde das ‚kleine Krokodil’ genannt, und mit ihrer einzelnen Lampe in der Front sah sie freundlich und geschäftig aus.

      Wenn es wirtschaftlich wieder bergauf ging, würde er sich ein solches Modell leisten. „Super Zustand“, murmelte er. Der Mann mit dem Pferdeschwanz taxierte ihn kurz. „Mit dem Preis kann ich Ihnen etwas entgegenkommen.“ „Ich überleg‘s mir“, antwortete Konrad, als er das wertvolle Teil vorsichtig wieder abstellte. Der Händler zuckte mit den Schultern.

      Ausgedehnte Flächen des mit kleinen Kopfsteinen gepflasterten Platzes zwischen den Kastanienbäumen waren mit mehr oder weniger echten Orientteppichen bedeckt, die dem Areal den Charakter eines riesigen Wohnzimmers verliehen. Früher hatte Konrad noch eine gewisse Scheu verspürt und diese bunten Flächen sorgsam umrundet. Im Laufe der Jahre hatte er begriffen, dass das Darübergehen als allgemein anerkannte Prüfung diente, ob die Teppiche robust und wertvoll waren.

      Zwischen dem Alten Schloss und der im kraftvollen Stuttgarter Jugendstil unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg


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