Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London

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Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe - Jack London


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zu fühlen. Sein Blick wanderte oft zu ihren Lippen, und ihn hungerte nach ihnen. Aber es war nichts grob Irdisches in diesem Verlangen. Es machte ihm eine unsagbare Freude, jede Bewegung und jedes Spiel dieser Lippen beim Sprechen zu beobachten, und gleichwohl waren es nicht gewöhnliche irdische Lippen, wie alle andern Männer und Frauen sie hatten. Sie waren nicht aus Erdenstaub geformt. Es waren Lippen aus reinem Geist, und sein Verlangen nach ihnen schien völlig verschieden von dem, das er nach andern Frauenlippen gehabt hatte. Er hätte ihre Lippen küssen, seine Lippen aus Fleisch und Blut auf sie drücken können, und doch wäre es mit der gleichen Ehrfurcht und erhabenen Leidenschaft geschehen, mit der der wahrhaft Gläubige das Gewand Gottes küssen würde. Er war sich nicht bewußt, welch eine Verschiebung von Werten in ihm stattgefunden hatte, und er ahnte nicht, daß das Licht in seinen Augen, wenn er sie ansah, eben das war, das in den Augen aller Menschen leuchtet, wenn das Verlangen nach Liebe in ihren Herzen erwacht. Er ließ sich nicht träumen, wie feurig und männlich sein Blick war, und ebensowenig, daß die Flamme darin ihre Seele ergriff. Ihre rührende Jungfräulichkeit erhöhte und verbarg seine eigenen Gefühle, indem sie seine Gedanken zu sternenkalter Keuschheit erhob. Es würde ihn erschreckt haben, hätte man ihm erzählt, daß in seinen Augen ein Licht brannte, das sie wie warme Wogen durchströmte und eine ähnliche Wärme in ihr entzündete. Sie wurde leicht verwirrt dadurch, und obwohl sie den Grund nicht kannte, durchbrach es immer wieder mit einer wundersam berauschenden Macht ihren Gedankengang und zwang sie, nach Worten zu suchen, um den begonnenen Satz zu beenden. Die Sprache war ihr sonst stets leicht von den Lippen geflossen, und diese Unterbrechungen hätten sie verwirrt, wäre sie nicht zu dem Ergebnis gelangt, daß es daher kam, weil er ein so eigentümlicher Mensch war. Sie war für Eindrücke sehr empfänglich, und alles in allem war es nicht so merkwürdig, daß dieser Wanderer aus einer andern Welt durch seine fremde Atmosphäre derartig auf sie wirkte.

      Im Hintergrund ihres Bewußtseins lag das Problem, wie sie ihm helfen könnte, und sie lenkte die Unterhaltung in diese Richtung; aber es war Martin, der das erste Wort sprach.

      »Ich möchte so gern einen Rat von Ihnen haben«, begann er, und sie ging sofort bereitwillig darauf ein, daß sein Herz einen Sprung tat. »Sie erinnern sich vielleicht, daß ich neulich sagte, ich könnte nicht über Bücher und dergleichen reden, weil ich nicht wüßte, wie. Nun, seitdem hab ich ein ganz Teil darüber nachgedacht. Ich bin viel in der Bibliothek gewesen; aber die meisten Bücher, mit denen ich mich abgegeben habe, waren mir zu hoch. Es wäre vielleicht am besten, wenn ich ganz von vorn anfinge. Ich habe nie etwas Ordentliches gelernt, von Kind an habe ich ziemlich schwer gearbeitet, und nachdem ich in der Bibliothek gewesen bin und die Bücher mit andern Augen angesehen habe – ja, auch neue Bücher gesehen habe –, ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß ich nicht die richtigen gelesen habe. Sehen Sie, die Bücher, die man auf einer Viehranch oder in der Back findet, sind nicht dieselben, die Sie zum Beispiel hier im Hause haben. Und solche Art Bücher war ich eben gewohnt. Und doch – und ich will damit jetzt nicht prahlen – bin ich anders gewesen als die Leute, mit denen ich zusammen Vieh hütete. Nicht daß ich etwas Besseres bin als die Matrosen und die Viehhirten, mit denen ich zusammen lebte – ich bin eine Zeitlang Viehhirt gewesen, wissen Sie –, aber ich habe immer Bücher geliebt und alles gelesen, was ich in die Finger kriegen konnte, und… ja, ich glaube, ich denke anders als die meisten von ihnen.

      Aber was ich sagen wollte: Ich bin noch nie in einem Hause wie diesem gewesen. Als ich vor einer Woche herkam und Sie und Ihre Mutter und Ihre Brüder und alles andere sah, da – ja, es gefiel mir. Ich hatte von solchen Dingen gehört und in Büchern darüber gelesen, und als ich mich in Ihrem Hause umsah, da war es gerade wie in den Büchern. Aber was ich sagen wollte: es gefiel mir. Ich hätte es gern selbst so gehabt. Ich möchte es gern jetzt so haben. Ich möchte, daß die Luft, die ich atme, so ist wie in diesem Hause – eine Luft, die von Büchern, Bildern und schönen Dingen erfüllt ist, in der die Leute leise reden, rein sind und rein denken. Die Luft, die ich bisher geatmet habe, war immer vermischt mit Essen und Miete und Kneipen und Schlägereien, und das war auch alles, worüber man redete. Sehen Sie, als Sie durchs Zimmer gingen und Ihre Mutter küßten, dachte ich, das ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Ich habe allerhand in meinem Leben gesehen, und auf eine Art habe ich eine Masse mehr dabei erlebt als die meisten, mit denen ich zusammen war. Ich will sehen, und ich möchte gern mehr sehen und es auch anders sehen.

      Aber ich bin noch nicht zur Hauptsache gekommen, und die ist: Ich will versuchen, es dahin zu bringen, daß ich ein Leben führen kann, wie Sie es hier im Hause leben. Es gibt anderes und Besseres im Leben als schwere Arbeit und Kneipen und sich herumtreiben. Aber wie soll ich das erreichen? Wo soll ich anfangen? Ich will dafür arbeiten, wissen Sie, und ich kann es mit den meisten aufnehmen, wenn es schwere Arbeit gilt. Wenn ich erst einmal angefangen habe, werde ich Tag und Nacht arbeiten. Vielleicht finden Sie es komisch, daß ich Sie nach alledem frage, ich weiß, Sie sind die letzte auf der Welt, die ich fragen sollte, aber ich kenne sonst niemand, den ich fragen könnte… außer Arthur. Vielleicht sollte ich lieber ihn fragen. Denn ich…«

      Seine Stimme versagte. Die feste Entschlossenheit, die ihn bisher getrieben hatte, verschwand bei dem furchtbaren Gedanken, daß er Arthur hätte fragen sollen und daß er sich lächerlich gemacht habe. Ruth antwortete nicht gleich. Sie war zu sehr damit beschäftigt, seine stammelnde, unbeholfene Sprache und seinen einfachen Gedankengang mit seinem Gesichtsausdruck in Einklang zu bringen. Noch nie hatte sie in Augen geblickt, die eine solche Kraft ausstrahlten. Hier war ein Mann, der alles vermochte, so lautete die Botschaft, die sie in ihnen las, und die klang schlecht mit dieser mangelhaften Fähigkeit zusammen, seine Gedanken auszudrücken. Im übrigen war ihr eigenes Denken so kompliziert und schnell, daß sie Einfachheit nicht richtig zu würdigen vermochte; aber dennoch empfand sie, welche Kraft selbst in diesem Tasten seines Geistes lag. Er war ihr wie ein gefesselter Riese vorgekommen, der an seinen Banden riß und zerrte. Und als sie endlich sprach, drückte ihr Gesicht unendliches Mitgefühl aus.

      »Sie wissen ja selbst sehr gut, was Sie brauchen: systematische Ausbildung. Sie sollten zuerst die Elementarschule beenden und dann die höhere Schule und die Universität besuchen.«

      »Aber das kostet Geld«, warf er ein.

      »Oh!« rief sie. »Daran hatte ich nicht gedacht. Aber Sie müssen doch Verwandte haben – irgend jemand, der Ihnen helfen könnte?«

      Er schüttelte den Kopf.

      »Mein Vater und meine Mutter sind tot. Ich habe zwei Schwestern, die eine ist verheiratet, und die andere wird wohl bald heiraten. Dann habe ich noch ein ganzes Schock Brüder – ich bin der Jüngste –, aber die haben noch nie jemand geholfen. Die treiben sich in der ganzen Welt herum und haben genug mit sich selbst zu tun. Der Älteste starb in Indien. Zwei sind jetzt in Südafrika, einer ist auf Walfang, und einer zieht mit einem Zirkus herum – er arbeitet am Trapez. Und mir geht es ganz wie ihnen. Seit meinem elften Jahr – als meine Mutter starb – habe ich selbst für mich gesorgt. Ich werde auch wohl auf eigene Faust studieren müssen, und was ich wissen möchte, ist eben, wo ich anfangen soll.«

      »Zuallererst sollten Sie sich eine Grammatik anschaffen. Ihr Satzbau ist…« Sie hatte »schrecklich« sagen wollen, änderte es aber in »nicht besonders gut«.

      Er errötete und schwitzte.

      »Ich weiß, daß ich eine Menge Slang und Wörter rede, die Sie nicht verstehen. Aber das sind eben die einzigen, von denen ich weiß, wie ich sie aussprechen soll. Ich habe andere Wörter im Kopf – Wörter, die ich in Büchern gelesen habe, aber ich kann sie nicht aussprechen, und deshalb gebrauche ich sie nicht.«

      »Es ist weniger was, als wie Sie es sagen. Sie brauchen nur etwas mehr Grammatik. Jetzt werde ich Ihnen ein Buch holen und zeigen, wie Sie anfangen sollen.« Als sie aufstand, fiel ihm etwas ein, das er in den Büchern über den guten Ton gelesen hatte, und er erhob sich linkisch, in schrecklicher Angst, daß es doch nicht richtig sei und daß sie es als Zeichen seines Aufbruchs ansehen könnte.

      Als sie mit der Grammatik wiederkam, schob sie einen Stuhl neben den seinen – er dachte darüber nach, ob er ihr hätte helfen sollen – und setzte sich neben ihn. Sie blätterte in der Grammatik, und ihre Köpfe näherten sich einander. Er hatte Mühe, ihr, als sie ihm jetzt einen Arbeitsplan machte, zu folgen, so benommen war er von ihrer köstlichen


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