Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London
Читать онлайн книгу.bezaubert von dem Einblick in das Knochengerüst der Sprache. Er beugte sich tiefer über das Buch, und ihr Haar berührte seine Wange. Er war nur einmal in seinem Leben ohnmächtig geworden, aber in diesem Augenblick fühlte er sich wieder einer Ohnmacht nahe. Er konnte kaum atmen, und sein Herz preßte ihm das Blut in die Kehle, daß er fast erstickte. Nie war sie ihm so erreichbar erschienen wie jetzt. Für den Augenblick war der Abgrund zwischen ihnen überbrückt. Aber sein Gefühl für sie war deshalb nicht weniger erhaben. Sie war nicht zu ihm herabgestiegen. Er war es, der in die Wolken gehoben und zu ihr getragen wurde. Die Verehrung, die er in diesem Augenblick für sie hegte, glich religiöser Ehrfurcht und Inbrunst. Ihm war, als sei er ins Allerheiligste eingedrungen, und langsam und vorsichtig entzog er seinen Kopf der Berührung, die auf ihn wie ein elektrischer Schlag gewirkt und die sie gar nicht bemerkt hatte.
Achtes Kapitel
Mehrere Wochen vergingen, in denen Martin Eden seine Grammatik studierte, die Bücher über den guten Ton wieder vornahm und alle Werke verschlang, die sein Interesse erregten. Von seinen Klassengenossen sah er niemand. Die jungen Mädchen im Lotus-Klub wunderten sich, daß er verschwunden war, und quälten Jim mit Fragen, und einige der jungen Leute, die sich an den Boxkämpfen bei Riley zu beteiligen pflegten, freuten sich, daß Martin nicht mehr dorthin kam. Er machte eine neue Entdeckung unter den Schätzen der Bibliothek. Wie die Grammatik ihm das Gerüst der Sprache gezeigt hatte, so zeigte dieses Buch ihm das Gerüst der Poesie; er begann Versmaß, Konstruktion und Form der von ihm so geliebten Schönheit zu erkennen und begriff ihre Gesetze. Noch ein modernes Werk fiel ihm in die Hände, das die Poesie als darstellende Kunst behandelte – sie erschöpfend behandelte mit vielen Beispielen aus dem Besten der Literatur. Nie hatte er einen Roman mit so großer Begeisterung gelesen, wie er dieses Werk studierte. Und sein unbelasteter, frischer, zwanzigjähriger Geist, angespornt durch sein drängendes Verlangen, erfaßte alles, was er las, mit einer ganz ungewöhnlichen männlichen Kraft.
Wenn er jetzt von seiner höheren Warte aus zurückblickte, so erschien ihm seine frühere Welt – diese Welt von Erde, Meer und Schiffen, mit Seeleuten und schlechten Frauenzimmern – sehr klein; und doch mischte sie sich mit seiner neuen Welt und erweiterte sie. Sein Geist strebte nach Einheit, und er war überrascht, als er die ersten Berührungspunkte zwischen den beiden Welten erblickte. Zudem verwandelten ihn die erhabenen Gedanken und die Schönheit, die er in den Büchern fand. Immer unerschütterlicher wurde sein Glaube, daß jeder, der sozial über ihm stand wie Ruth und ihre Familie, diese Gedanken dachte und nach ihnen lebte. Er lebte in der Niederung und hatte nur den einen Wunsch, sich von dem Schmutz, der sein ganzes Leben lang an ihm geklebt hatte, zu reinigen und sich in die höheren Regionen der oberen Klassen zu erheben. Während seiner ganzen Kindheit und Jugend hatte er unter einer Unrast gelitten; was er wünschte, hatte er nie gewußt, und er hatte vergebens gesucht, bis er Ruth traf. Und jetzt war diese Unrast qualvoll geworden, und er wußte endlich klar und sicher, daß es Schönheit, Wissen und Liebe waren, die er suchte.
In diesen Wochen sah er Ruth einhalbdutzendmal, und jedes Mal war es ihm eine neue Inspiration. Sie half ihm bei seinem Sprachstudium, berichtigte seine Aussprache und weihte ihn in die Arithmetik ein. Aber ihr Gedankenaustausch galt nicht allein dem Elementarstudium. Er hatte zuviel vom Leben gesehen und sein Geist war zu reif, um sich mit Brüchen, Kubikwurzeln, Satzbau und Analyse zufriedenzugeben; es kamen Stunden, in denen sie von ganz andern Dingen sprachen – von den letzten Dichtungen, die er gelesen, und den letzten Dichtern, die sie studiert hatte. Und wenn sie ihm ihre Lieblingsdichter vorlas, dann war der Gipfel alles Entzückens für ihn erreicht. Keine von all den Frauen, die er je sprechen gehört, hatte eine Stimme wie die ihre gehabt. Ihr leisester Ton war ein Sporn für seine Liebe, und jedes Wort, das sie aussprach, erfüllte ihn mit Freude und Entzücken. Es war der Wohlklang darin, die Ruhe und harmonische Modulation, dieses weiche, volle, unbestimmbare Produkt der Kultur und einer sanften, liebevollen Seele. Wenn er ihr lauschte, klangen in seiner Erinnerung die rauhen Schreie barbarischer Weiber wider und – wenn auch weniger rauh – die schrillen Stimmen der Mädchen seiner eigenen Klasse. Dann begann die Werkstatt der Bilder in ihm zu arbeiten und ließ sie vor seinem inneren Auge aufmarschieren und die Herrlichkeit Ruths durch den Gegensatz noch erhöhen. Was aber sein Glück noch vollkommener machte, war das Bewußtsein, daß ihre Seele mit dem Gelesenen übereinstimmte und vor Entzücken über die Schönheit des geschriebenen Gedankens bebte. Sie las ihm ein großes Stück aus ›Die Prinzessin‹ vor, und oft sah er Tränen in ihren Augen, so fein war ihr ästhetisches Empfinden. In solchen Augenblicken entrückte ihn ihre Bewegung über den Alltag hinaus, bis er sich wie ein Gott fühlte, und wenn er sie anschaute und ihr lauschte, schien ihm, als sähe er das Antlitz des Lebens und läse darin die tiefsten Geheimnisse. Und wenn ihm dann bewußt wurde, wie wunderbar seine Empfänglichkeit gewachsen war, sagte er sich, daß dies Liebe sei, daß Liebe das Größte in der Welt war, und durch seine Erinnerung huschten die Gemütsbewegungen und Sehnsüchte, die er früher gekannt hatte – Weinrausch, Liebkosungen von Frauen, Boxkämpfe mit ihrem rohen Geben und Nehmen –, und alles erschien ihm gleichgültig und häßlich im Vergleich mit der erhabenen Leidenschaft, die er jetzt fühlte.
Ruth durchschaute die Situation nicht. Sie hatte keine Herzenserfahrungen. Ihr einziges Wissen in dieser Beziehung stammte aus Büchern, in denen die Geschehnisse des täglichen Lebens durch die Phantasie in das Feenreich der Unwirklichkeit verpflanzt waren. Und sie ahnte nicht, daß dieser rauhe Seemann sich allmählich in ihr Herz schlich und schlummernde Kräfte in ihr weckte, die eines Tages losbrechen und sie wie Feuerflammen durchlodern würden. Sie kannte nicht den Feuerbrand der Liebe. Ihr Wissen um die Liebe war rein theoretisch, und sie dachte sie sich als ein zahmes Flämmchen, sanft wie fallender Tau oder wie das Kräuseln eines stillen Wassers und so mild wie die samtweiche Dunkelheit der Sommernächte. Sie dachte sich die Liebe als eine ruhige, freundschaftliche Zuneigung, die dem Geliebten in einer blumengesättigten, dämmrigen Atmosphäre ätherischer Ruhe dient. Sie ahnte nichts von den vulkanischen Ausbrüchen der Liebe, ihrer sengenden, glühenden Hitze und den verheerten Wüsten voll ausgebrannter Asche. Sie kannte weder ihre eigene Macht noch die der Welt, und die Tiefen des Lebens waren für sie ein Meer von Illusionen. Die eheliche Neigung zwischen ihren Eltern war für sie das Ideal der Liebe zwischen Mann und Weib; und sie erwartete, ohne schroffen Übergang oder starke Reibungen selbst eines Tages mit einem geliebten Manne in dasselbe ruhige, angenehme Dasein hinüberzugleiten.
So kam es, daß sie in Martin Eden etwas Neues, ein fremdartiges Wesen sah und daß sie sich die Wirkung, die er auf sie ausübte, mit diesem Neuen, Fremdartigen erklärte. Das war nur natürlich. Ähnliche ungewohnte Gefühle hatte sie beim Anblick wilder Tiere in der Menagerie, bei heftigem Sturm oder beim Anblick eines Blitzes und seines blendenden Zickzacks erlebt. Es war darin etwas vom ungeheuren Weltall, und etwas vom ungeheuren Weltall war auch in ihm. Er kam zu ihr mit einem Hauch der großen Stürme und der unendlichen Räume. Die Glut der Tropensonne leuchtete auf seinem Gesicht, und in seinen schwellenden, geschmeidigen Muskeln war die Lebenskraft der Urzeit. Er trug Narben und Zeichen der geheimnisvollen Welt roher Männer und noch roherer Taten, deren Vorposten jenseits ihres Horizontes begannen. Er war ungezähmt, wild, und im geheimen schmeichelte es ihrer Eitelkeit, daß er wie Wachs in ihren Händen war. Dazu trieb sie der unwillkürliche Wunsch, das Wilde zu zähmen. Das war ganz unbewußt. Und am allerwenigsten wußte sie, daß sie ihn nach dem Bilde ihres Vaters umzuschaffen wünschte, dem Bilde, das sie für das edelste der Welt hielt. Und sie konnte in ihrer Unerfahrenheit nicht erkennen, daß das kosmische Gefühl, das er in ihr erweckte, das mächtigste des Weltalls war, die Liebe, die mit gleicher Gewalt in der ganzen Welt Mann und Weib zueinander zog, die Hirsche in der Brunstzeit zwang, einander zu töten.
Seine schnelle Entwicklung war ihr eine Quelle der Überraschung und des Interesses. Sie entdeckte ungeahnte Feinheiten in ihm, die sich Tag für Tag, wie Blumen in gutem Boden, zu entfalten schienen. Sie las ihm Browning vor und war oft erstaunt, wie eigenartig er strittige Stellen erklärte. Sie begriff nicht, daß seine auf Menschenkenntnis und Lebenserfahrung beruhende Deutung im Gegensatz zu der ihrigen meist die richtige war. Seine Auffassungen erschienen ihr naiv, obwohl sie sich oft vom kühnen Fluge seiner Erkenntnis mitreißen ließ, der seine Bahn hoch zu den Sternen nahm, wohin sie nicht zu folgen vermochte. Sie konnte nur erschauern unter dem Gefühl einer ungeahnten Macht. Dann spielte sie für ihn