Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London

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Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe - Jack London


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bis er dem ihren gleich wurde.

      »Aber meine Geschichte ist noch nicht zu Ende«, sagte sie. »Mein Vater erzählt, daß Herr Butler wie kein anderer seiner Büroboten je gearbeitet hat. Er war aufs Arbeiten versessen. Er kam nie zu spät und war meistens schon einige Minuten vor der Bürozeit da. Und dennoch war er sparsam mit seiner Zeit. Jede freie Minute benutzte er, um zu studieren. Er lernte Buchhaltung und Maschineschreiben, er nahm Stenographieunterricht und bezahlte ihn, indem er nachts einem Gerichtsreporter diktierte, der Übung brauchte. Er wurde bald Schreiber und machte sich ganz unentbehrlich. Mein Vater schätzte ihn sehr und sah, daß er Karriere machen würde. Auf Vaters Anregung studierte er Jura. Er wurde Rechtsanwalt, und kaum war er wieder im Büro, da nahm Vater ihn als jüngeren Teilhaber auf. Er ist ein großer Mann. Er hat mehrmals die Wahl in den Senat der Vereinigten Staaten abgelehnt, und Vater sagt, daß er Mitglied des Obersten Gerichtshofs werden kann, sobald ein Platz frei wird – und wenn er will. Ein solches Leben ist ein Ansporn für uns alle. Es zeigt uns, daß ein Mann sich hoch über seine Umgebung erheben kann.«

      »Ja, er ist ein großer Mann«, sagte Martin ernst.

      Aber ihm schien, etwas an der Geschichte beleidigte sein Gefühl für Schönheit und Leben. Er konnte kein Motiv in dem Leben des Herrn Butler finden, das sein Darben und Sparen gerechtfertigt hätte. Wäre Liebe oder Schönheitsdrang der Grund gewesen, so hätte Martin es verstanden. »Gottes erkorener, wahnsinngeschlagener Liebender« durfte alles tun für einen Kuß, aber nicht für dreißigtausend Dollar jährlich. Der Aufstieg Butlers befriedigte ihn nicht. Es war, trotz allem, etwas Jämmerliches daran. Dreißigtausend Dollar jährlich mochten ganz schön sein, aber ein schwacher Magen und die Unfähigkeit, froh zu sein wie andere Menschen, raubten solchem fürstlichen Einkommen doch allen Wert.

      Vieles hiervon versuchte er Ruth zu erklären, doch verletzte er sie dadurch nur und zeigte ihr deutlich, daß er weiterer Ummodlung bedurfte. Sie besaß die weit verbreitete Kurzsichtigkeit, die die Menschen glauben läßt, daß ihre Farbe, ihr Glaube und die Politik, die sie für richtig halten, die alleinseligmachenden sind, und daß die anderen über die Welt verstreuten menschlichen Geschöpfe weniger glücklich daran sind als sie selber.

      Es war dieselbe Beschränktheit, die jenen alten Juden Gott danken ließ, daß er nicht als Weib geboren war, und die den modernen Missionar zu den äußersten Grenzen der Welt schickt, um Gott zu vertreten; und sie gab auch Ruth den Wunsch ein, diesen Mann, der aus ganz anderen Lebensbereichen kam, so umzubilden, daß er einem Mann ihrer eignen Schicht glich.

      Neuntes Kapitel

      Martin Eden kam von See nach Kalifornien zurück mit der Sehnsucht eines Liebenden. Als sein Geld verbraucht war, hatte, er als Matrose auf dem Schatzsucherschiff angeheuert. Auf den Salomoninseln hatte sich dann die Expedition aufgelöst, nachdem sie acht Monate vergeblich nach dem Schatz gesucht hatte. Die Mannschaft war in Australien abgemustert worden, und Martin hatte sofort wieder auf einem Hochseedampfer nach San Franzisko angeheuert. In diesen acht Monaten hatte er nicht nur soviel Geld zurückgelegt, daß er viele Wochen an Land bleiben konnte, sondern auch Gelegenheit gehabt, eine ganze Menge zu lesen und zu studieren.

      Er war begabt, und hinter seiner Begabung standen seine unbezwingliche Natur und seine Liebe zu Ruth. Die mitgenommene Grammatik arbeitete er immer wieder durch, bis sein unverbrauchtes Hirn sie völlig beherrschte. Er bemerkte die grammatikalisch falsche Satzbildung seiner Kameraden und verbesserte in Gedanken ihre Sprachschnitzer. Zu seiner großen Freude entdeckte er, daß sein Ohr anfing, für Aussprache und Satzbau empfindlich zu werden, und daß er allmählich reiner und besser sprach als selbst die Schiffsoffiziere und die Gentleman-Abenteurer in der Kajüte, die die Expedition finanziert hatten.

      Der Kapitän war ein fischäugiger Norweger, dem irgendwie eine vollständige Shakespeare-Ausgabe in die Hände gefallen war, die er niemals las, und wenn Martin ihm sein Zeug gewaschen hatte, lieh er ihm dafür die teuren Bücher. Eine Zeitlang hatten ihn die Dramen und die vielen Verse, die sich ihm fast ohne Anstrengung einprägten, so begeistert, daß ihm die ganze Welt fast wie eine elisabethanische Tragödie oder Komödie erschien und er sogar in Jamben dachte. Das übte sein Ohr und gab ihm ein feines Gefühl für schönes Englisch, während er gleichzeitig viele altertümliche und nicht mehr gebräuchliche Worte und Wendungen in seinen Sprachschatz aufnahm.

      Er hatte die acht Monate gut angewandt, und außer korrektem Sprechen und hohen Gedanken hatte er auch sich selbst kennengelernt. Gleichzeitig mit der Scham über sein geringes Wissen stellte sich bei ihm ein gewisses Selbstbewußtsein ein. Er fühlte einen bedeutenden Unterschied zwischen sich und seinen Kameraden und war klug genug zu erkennen, daß dieser Unterschied eher in der Möglichkeit als in der Tat bestand. Was er jetzt leistete, konnten sie auch leisten, aber in seinem Innern lebte ein wirres, gärendes Gefühl, daß mehr in ihm steckte, als er bisher gezeigt hatte. Ihn peinigte die wunderbare Schönheit der Welt, und er wünschte, daß Ruth bei ihm gewesen wäre, um sie mit ihm zu teilen. Er beschloß, ihr die Schönheit der Südsee zu beschreiben. Der schöpferische Geist in ihm flammte bei diesem Gedanken auf und spornte ihn an, all diese Schönheit vor einem größeren Kreise als Ruth allein wiedererstehen zu lassen. Und da kam, in Glanz und Pracht, der große Gedanke. Er wollte schreiben. Er wollte eines der Augen werden, durch die die Welt sah, eines der Ohren, durch die sie hörte, eines der Herzen, durch die sie fühlte. Er wollte schreiben – alles – Poesie, Prosa, Romane, Beschreibungen und Dramen, wie Shakespeare sie geschrieben hatte. Das war Aufstieg und der Weg, Ruth zu gewinnen. Die Männer, die Bücher schrieben, waren die Großen der Welt, und er hatte das Gefühl, daß sie weit größer waren als ein Herr Butler und seinesgleichen, die dreißigtausend Dollar jährlich verdienten und, wenn sie wollten, Mitglieder des Obersten Gerichtshofs werden konnten.

      Als der Gedanke erst geboren war, beherrschte er ihn völlig, und die Rückreise nach San Franzisko glich einem Traum. Er war von einer ungeahnten Kraft berauscht und fühlte, daß er alles, was es auch sei, tun konnte. Mitten auf dem großen, einsamen Meer gewann er den Überblick über die Dinge. Zum erstenmal sah er Ruth und ihre Welt klar und deutlich. In seinem Geist wurde alles gegenwärtig wie etwas Greifbares, etwas, das er in beide Hände nehmen, drehen und wenden und untersuchen konnte. Es gab viel Unklares, Verschleiertes in jener Welt, aber er sah sie als ein Ganzes, nicht in Einzelheiten, und er sah auch, wie er ihrer Herr werden konnte. Schreiben! Der Gedanke brannte wie Feuer in ihm. Gleich nach seiner Rückkehr wollte er anfangen. Das erste sollte eine Schilderung der Schatzsucherreise sein. Er wollte die Beschreibung an eine der San-Franziskoer Zeitungen verkaufen, er wollte Ruth nichts davon sagen, und sie sollte freudig überrascht werden, wenn sie seinen Namen gedruckt las. Während er schrieb, wollte er seine Studien fortsetzen. Jeder Tag hatte vierundzwanzig Stunden. Er war unüberwindlich. Er wußte, wie er arbeiten mußte, und die stärksten Festungen sollten vor ihm in den Staub sinken. Er brauchte nie mehr zur See zu gehen, jedenfalls nicht mehr als Matrose, und im Augenblick träumte er sogar von einer Dampfjacht. Es gab Schriftsteller, die Dampfjachten besaßen. Natürlich, das sagte er sich warnend, würde er nicht so schnell Erfolg haben und im Anfang froh sein, wenn er durch seine schriftstellerische Tätigkeit Geld genug verdiente, um sein Studium fortzusetzen. Und wenn er nach einiger Zeit – der Begriff war sehr dehnbar – genug gelernt und sich vorbereitet hatte, dann wollte er das wirklich Große schreiben, und sein Name sollte auf aller Lippen sein. Weit größer, unendlich größer, ja, das größte von allem war, daß er sich dann Ruths würdig gezeigt hatte. Ruhm mochte ganz schön sein, aber es war Ruths wegen, daß er seine strahlenden Träume träumte. Er war kein Ruhmsüchtiger, er war nur einer von Gottes erkorenen, wahnsinngeschlagenen Liebenden.

      Mit einem netten Sümmchen in der Tasche ging er wieder nach Oakland, bezog sein altes Zimmer bei Bernard Higginbotham und begann zu arbeiten. Er ließ nicht einmal Ruth wissen, daß er wiedergekommen war. Er wollte sie erst besuchen, wenn der Bericht über die Schatzsucher fertig war. Es wurde ihm nicht einmal schwer, nicht zu ihr zu gehen, denn die mächtige Flamme des schöpferischen Fiebers brannte in ihm. Dazu würde ja der Artikel, den er schrieb, sie ihm näherbringen. Er wußte nicht, wie lang er sein durfte, aber er zählte die Wörter eines doppelseitigen Artikels in der Sonntagsbeilage ›San Francisco Examiner‹ und richtete sich danach. Drei Tage arbeitete er in wilder Erregung an seinem Bericht, schrieb


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