Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London

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Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe - Jack London


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einige »Winke für Anfänger« und lernte das eiserne Gesetz, daß ein Manuskript nie zusammengerollt und daß es nur einseitig beschrieben werden darf. Er hatte das Gesetz in beiden Punkten übertreten. Aus derselben Notiz erfuhr er ferner, daß erstklassige Zeitungen mindestens zehn Dollar die Spalte bezahlten, und so tröstete er sich, während er das Manuskript zum drittenmal abschrieb, indem er zehn Spalten mit zehn Dollar multiplizierte. Das Ergebnis war immer dasselbe – hundert Dollar –, und er entschied sich, daß das besser war, als zur See zu fahren. Wenn er nicht diesen Fehler gemacht hätte, würde er den Aufsatz in drei Tagen fertiggeschrieben haben. Hundert Dollar in drei Tagen! Auf See hätte er drei Monate und länger gebraucht, um eine solche Summe zu verdienen. Man mußte ein Narr sein, um zur See zu gehen, wenn man schreiben konnte, entschied er, obwohl das Geld an und für sich ihm nichts bedeutete. Wert hatte in seinen Augen nur die Freiheit, die es ihm verschaffen, die gute Kleidung, die er sich dafür kaufen konnte – lauter Dinge, die ihn dem schlanken, blassen jungen Mädchen näherbringen sollten, das sein Leben umgewandelt und ihn inspiriert hatte.

      Da lernte er aus einem Lehrbuch, das er in der Bibliothek fand, daß es so etwas wie Absätze und Anführungszeichen gab. Er hatte noch nie an solche Dinge gedacht, und sofort setzte er sich hin und überarbeitete den Artikel noch einmal. Er zog dauernd das Lehrbuch zu Rate und lernte in einem Tag mehr über Komposition als der Durchschnittsschüler in einem Jahr.

      Er legte das Manuskript in einen großen Umschlag und schickte es an den Redakteur des ›San Francisco Examiner‹. Er glaubte, daß alles, was eine Zeitung annimmt, sofort veröffentlicht würde, und da er das Manuskript am Freitag eingesandt hatte, erwartete er, seinen Artikel am folgenden Sonntag gedruckt zu sehen. Er meinte, das wäre eine hübsche Art, Ruth von seiner Rückkehr zu unterrichten. Dann wollte er am Sonntagnachmittag zu ihr gehen und sie begrüßen. Unterdessen beschäftigte ihn eine andere Idee, die, wie er glaubte, wirklich vernünftig, gesund und durchführbar war: Er wollte eine Abenteuergeschichte für Knaben schreiben und sie dem ›Jungen Kameraden‹ verkaufen. Er ging in den Lesesaal der Volksbibliothek und blätterte mehrere Jahrgänge des Jugendmagazins durch. Er sah, daß die Geschichten in dieser Wochenzeitschrift durchweg in fünf Fortsetzungen zu je etwa dreitausend Worten gedruckt waren. Er sah aber auch verschiedene, die sich über sieben Nummern erstreckten, und er beschloß, eine Erzählung von dieser Länge zu schreiben.

      Er hatte einmal eine Walfangexpedition in den arktischen Meeren mitgemacht – eine Reise, die auf drei Jahre berechnet gewesen war, aber nach einem halben Jahr durch Schiffbruch ihr Ende fand. Seine Einbildungskraft war lebhaft, zeitweise sogar phantastisch, gleichzeitig aber besaß er einen ausgeprägten Wirklichkeitssinn, der ihn nur über Dinge schreiben ließ, die er kannte. Er kannte den Walfang und begann, aus dem Material seiner tatsächlichen Erfahrung die abenteuerlichen Erlebnisse der beiden Knaben zu gestalten, die er zu Helden seiner Geschichte machen wollte. Am Sonnabend entschied er, daß es eine leichte Arbeit war. Er hatte an diesem Tage den ersten Abschnitt von dreitausend Worten beendet – was große Belustigung bei Jim und offenen Spott bei Bernard Higginbotham auslöste, der beim Essen dauernd höhnische Bemerkungen über den »Literaten« machte, den man plötzlich in der Familie entdeckt habe.

      Martin tröstete sich damit, daß er sich die Überraschung seines Schwagers ausmalte, wenn er am Sonntagmorgen den ›Examiner‹ öffnete und den Artikel über die Schatzsucher sah. Am Sonntagmorgen war er ganz früh auf der Straße und überflog nervös die Seiten der dicken Zeitung. Er durchsuchte sie noch einmal sehr sorgfältig, faltete sie dann zusammen und legte sie wieder an ihren Platz zurück. Er freute sich, daß er keinem etwas von seinem Aufsatz erzählt hatte. Dann kam er zu dem Ergebnis, daß er sich geirrt hatte in bezug auf die Schnelligkeit, mit der ein Artikel in der Zeitung erscheinen konnte. Zudem war sein Aufsatz nicht eigentlich aktuell gewesen, und höchstwahrscheinlich würde der Redakteur ihm erst schreiben.

      Nach dem Frühstück arbeitete er weiter an seiner Erzählung. Die Worte flossen ihm aus der Feder, obwohl er häufig innehielt, um etwas im Lexikon nachzuschlagen oder sich im Lehrbuch Rat zu holen. In diesen Pausen las er oft, mitunter zweimal, ein ganzes Kapital durch und tröstete sich damit, daß er, wenn er auch nicht die großen Dinge schrieb, die er in sich fühlte, doch auf jeden Fall dabei schreiben lernte und sich übte, seine Gedanken zu formen und auszudrücken. Er arbeitete bis zum Dunkelwerden und ging dann in den Lesesaal, wo er Magazine und Wochenblätter bis zum Bibliothekschluß um zehn Uhr abends durchlas. Dieses Programm befolgte er eine ganze Woche. Täglich schrieb er dreitausend Worte, und täglich las er die Magazine und suchte herauszufinden, was für Erzählungen, Aufsätze und Gedichte die Redakteure am liebsten veröffentlichten. Eines war sicher: Was diese zahlreichen Skribenten machten, konnte er auch fertigbringen, und wenn er nur Zeit hatte, wollte er schon etwas schaffen, was sie nicht konnten. Es ermutigte ihn, daß er in einem Blatt eine Notiz fand, wie Leute, die für Magazine schrieben, bezahlt wurden – nicht, weil er sah, daß Rudyard Kipling einen Dollar für das Wort bekam, sondern weil der niedrigste Satz bei den erstrangigen Zeitschriften zwei Cent das Wort betrug. Das Jugendmagazin mußte doch ein erstrangiges Blatt sein, und bei dieser Bezahlung würden ihm die dreitausend Worte, die er an diesem Tage geschrieben hatte, sechzig Dollar einbringen – zwei Monate Heuer!

      Am Freitagabend hatte er die einundzwanzigtausend Worte lange Erzählung beendet. Nach seiner Berechnung mußte sie ihm bei zwei Cent je Wort vierhundertundzwanzig Dollar einbringen – kein schlechter Wochenverdienst. Das war mehr Geld, als er je auf einmal besessen hatte. Er wußte gar nicht, was er mit all dem Geld machen sollte. Er hatte eine Goldmine entdeckt, und aus dieser Quelle konnte er immer mehr holen. Er beschloß, sich noch einige Kleidungsstücke zu kaufen, viele Zeitschriften zu halten und sich Dutzende von Handbüchern anzuschaffen, um derentwillen er jetzt in die Bibliothek gehen mußte. Aber es blieb immer noch ein gut Teil von den vierhundertundzwanzig Dollar übrig, mit dem er nichts anzufangen wußte. Das quälte ihn, bis ihm der Gedanke kam, ein Dienstmädchen für Gertrude zu engagieren und ein Fahrrad für Marian zu kaufen.

      Er schickte das umfangreiche Manuskript mit der Post an das Jugendmagazin, und am Sonnabendnachmittag, nachdem er den Entwurf für einen Artikel über Perlenfischerei gemacht hatte, ging er, Ruth zu begrüßen. Er hatte sie zuvor angerufen, so daß sie ihn selbst an der Tür empfing. Der alte, wohlbekannte Hauch strahlender Gesundheit strömte ihr von ihm entgegen und traf sie wie ein Schlag. Es war, als ginge sie in ihren Körper über, schösse wie ein glühender Strom durch ihre Adern und ließe sie unter dieser neuen Kraftzufuhr erbeben. Eine warme Röte ergoß sich über sein Gesicht, als er ihre Hand ergriff und ihr in die blauen Augen sah. Aber die acht Monate Sonne hatten sein Gesicht so bronzebraun gebrannt, daß man diese Röte nicht sah, wenn man auch am Halse den roten Streifen vom steifen Kragen bemerkte. Sie sah den roten Strich mit Belustigung, die aber rasch verschwand, als sie seine Kleidung musterte. Sie paßte ihm wirklich – es war sein erster nach Maß gefertigter Anzug –, und er erschien ihr schlanker und feiner gebaut. Dazu hatte er seine Mütze mit einem weichen Filzhut vertauscht, den er auf ihren Befehl aufsetzte, worauf sie ihm Komplimente über sein Aussehen machte. Sie konnte sich nicht erinnern, je so glücklich gewesen zu sein. Die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, war ihr Werk, und sie war stolz darauf und brannte vor Ehrgeiz, ihm noch weiter zu helfen.

      Aber die entscheidendste Veränderung und die, worüber sie sich am meisten freute, war der Wandel in seiner Sprache. Er sprach nicht nur korrekter, sondern auch mit größerer Leichtigkeit, und sein Wortschatz hatte sich um viele neue Ausdrücke vermehrt. Nur wenn er sich erregte und begeisterte, konnte er wieder in das Verschleifen der Silben und Fortlassen der Endkonsonanten verfallen, und sie bemerkte auch manchmal ein verlegenes Zögern, wenn er einen der neugelernten Ausdrücke anzuwenden versuchte. Andererseits zeigte sich zugleich mit der Leichtigkeit des Ausdrucks auch eine Gewandtheit und ein Witz in seinem Gedankengang, der sie entzückte. Dieser Sinn für Humor und scherzende Plauderei war es, der ihn in seiner eigenen Klasse so beliebt gemacht hatte, aber aus Wortmangel hatte er ihr gegenüber bisher keinen Gebrauch davon machen können. Jetzt begann er eben, sich zurechtzufinden, und fühlte, daß er kein Eindringling mehr war. Aber er war sehr vorsichtig darin, wie weit er gehen durfte, ließ Ruth die Führung bei Munterkeit und Scherz, hielt mit ihr Schritt, aber wagte sich nie weiter vor als sie. Er erzählte ihr von seiner Tätigkeit und der Absicht, sich seinen Unterhalt durch Schreiben zu verdienen und daneben sein Studium fortzusetzen. Aber er war


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