Freundlicher Tod. Ute Dombrowski

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Freundlicher Tod - Ute Dombrowski


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Auch hier öffnete er das Fenster, das auf die Straße hinausschaute. Eine nackte Glühbirne baumelte an der Decke und schwang im Durchzug sanft hin und her. Er knipste und es wurde hell. Strom, Wasser, alles funktioniert, dachte Alexander und schloss nun alle Fenster wieder. Er nahm den Zollstock, einen Stift und einen Block aus dem Rucksack und notierte sich die Maße seiner neuen Wohnung. Zufrieden verließ er sie eine Stunde später und fuhr in den Baumarkt, um einzukaufen.

      Am Abend sah die Wohnung wie neu aus. Seine Mutter war am Nachmittag gekommen, um zu putzen, aber er war froh, als sie wieder fort war, denn wie immer bedrängte sie ihn mit Fragen.

      Beim Abschied sagte sie: „Sarah würde sich auch für dich freuen.“

      Sofort krampfte sich Alexanders Magen zusammen und eine eisige Faust griff nach seinem Herzen. Da war es wieder, dieses Gefühl von Schuld und Ohnmacht. Die bittere Erkenntnis traf ihn mit voller Wucht: Er hatte zwar Birte erlöst, aber er selbst litt unter der Last, die seine Seele zerdrückte. Sarah war tot, Fred war tot, Birte war tot – und er hatte sie getötet.

      Kaum hatte Dörte Retzanski die Tür hinter sich geschlossen, sank er auf den kalten Boden des Wohnzimmers und weinte. Als die Dunkelheit durch die Fenster hereinkroch, stand er auf und machte sich auf den Weg zum Rhein, wo er sich auf eine Bank setzte, bis er jämmerlich fror. Endlich lief er zu seinem Elternhaus und schlich leise die Treppen hinauf. Er warf sich auf das Bett und schlief bis zum kommenden Morgen.

      Seine Mutter klopfte leise und fragte, ob er mit ihr frühstücken wollte. Alexander nickte und fragte, ob der Vater auch da war. Daraufhin schüttelte Dörte den Kopf und ging wieder nach unten. Alexander kroch aus dem Bett ins Bad, ließ die Dusche laufen und zog sich aus. Unter dem heißen Wasserstrahl begann er sich besser zu fühlen. Er wischte mit dem Handtuch über den beschlagenen Spiegel und sah in sein Gesicht, das erschöpft aussah. Dunkle Augenringe ließen seinen Blick düster erscheinen.

      „Du musst das alles vergessen“, sagte er leise. „Es bringt ja nichts, sich ewig Vorwürfe zu machen. Die drei haben Hilfe gebraucht und ich habe ihnen geholfen. Schluss, aus, Ende.“

      Das Lächeln seines Spiegelbildes sah aus wie das eines Fremden. Er blickte in eine Fratze. Beim Frühstück saß er schweigend seiner Mutter gegenüber, die fröhlich vor sich hin plauderte.

      „Ich bin schon gespannt, ob du morgen die Stelle bekommst, aber ich denke, das wird klappen. Wie weit bist du denn mit dem Streichen? Es war ja gestern sehr spät.“

      „Ich bin fertig mit dem Streichen, Mama. Es ist wirklich schön geworden, aber ich war total erschossen, als ich kam. Bin nur noch in mein Bett gefallen.“

      „Das glaube ich dir. Weißt du, Alexander, auch wenn du schon erwachsen bist, liege ich immer noch wach, bis du nach Hause kommst. Das ist bei einer Mutter sicher normal.“

      „Das ist bald vorbei, Mama, wenn ich in meiner eigenen Wohnung lebe, kannst du endlich gut schlafen. Mach dir keine Sorgen. Ich muss jetzt los und meine Sachen rüberfahren. Ich werde als erstes das Bett auseinanderschrauben und dann heute schon mal dort schlafen.“

      „Kann ich dir helfen? Einpacken? Essen machen?“

      Alexander lächelte und küsste Dörte im Hinausgehen auf die Wange.

      „Ich schaffe das und melde mich, wenn ich Hilfe brauche.“

      Die Mutter griff in die Hosentasche und legte eine kleine Rolle Geldscheine in Alexanders Hand. Er bedankte sich und lief eilig aus dem Zimmer. Es war ihm alles zu viel: Die Fürsorge, die Fragen, die ständigen Ermahnungen. Rasch schraubte er das Bett auseinander und trug die Sachen ins Auto. Sein Vater hatte ihm den Lieferwagen hingestellt. Es war noch Platz für das Bettzeug und einige Kartons mit dem Nötigsten und so transportierte er die erste Ladung ans andere Ende der Stadt. Mit den Möbeln, die er nach und nach hinschaffte, wurde die Wohnung freundlicher und als er am Abend den Fernseher angeschlossen hatte, überkam Alexander ein Gefühl der Zufriedenheit.

      Er setzte sich auf das Bett, aß die bestellte Pizza und schaute sich um. Das kombinierte Wohn- und Schlafzimmer war fertig eingerichtet, morgen wollte er noch ein paar Grünpflanzen mitbringen und seine Bücher, aber mehr Platz war nicht. Am Fenster stand nun ein kleiner Tisch, das Bett befand sich an der Wand gegenüber. Ein paar kleine Schränke waren mit seiner Kleidung gefüllt. Daneben war noch Platz für den hohen, schmalen Schrank, den er im Baumarkt gesehen hatte. Den würde er morgen nach dem Vorstellungsgespräch kaufen. Statt auf einer Couch musste er auf dem Bett sitzen, aber das machte ihm nichts aus. Er war froh, nun sein eigener Herr zu sein.

      Das Vorstellungsgespräch verlief positiv und um zehn Uhr hatte er einen Job in der Apotheke in Geisenheim.

      „Ach Junge, ich kenne deinen Vater schon so lange, da tue ich ihm gerne den Gefallen und stelle dich ein. Es ist ja schlimm genug, dass ihr Sarah verloren habt. Das tut mir immer noch sehr leid. Herzlich willkommen in unserer Apotheke.“

      Der Mann hielt Alexander die Hand hin und der schlug ein. Sein Lächeln war bei der Erwähnung von Sarah eingefroren, aber er ließ sich nichts anmerken und verdrängte die bösen Gedanken schnell. Sie verabredeten, dass Alexander morgen um neun Uhr mit der Arbeit beginnen sollte.

      Erleichtert verließ er die Apotheke und fuhr heim in sein Elternhaus, wo er schon von Dörte erwartet wurde. Im Kofferraum lag der Schrank aus dem Baumarkt und er musste nun nur noch die Küche hinüberbringen.

      „Alexander!“

      „Ja Mama, ich komme gleich.“

      Alexander sah wieder in den Spiegel und er fand, dass er schon viel besser aussah. Gut gelaunt betrat er die Küche, in der seine Mutter gerade ein paar Lebensmittel für ihn einpackte.

      „Ich habe dir ein bisschen Kartoffelsalat gemacht und hier sind Würstchen drin. Das kannst du heute Abend essen. Dann ist hier …“

      Alexander hörte nicht mehr zu, sondern suchte eine Pfanne und einen Topf. Er hielt beides in die Höhe und sah seine Mutter fragend an. Sie nickte und er packte die Sachen in den Korb auf dem Tisch. Dann lief er nach oben und wollte die Küche auseinanderschrauben, als ihm das Geld seiner Mutter einfiel.

      „Ach was, ich kaufe mir davon ein paar Schränke für die Küche, einen Kühlschrank und eine Spüle. Dann bin ich schneller weg.“

      Er ging wieder hinunter und verkündete seiner Mutter den Entschluss. Ohne eine Antwort und ihre Tipps abzuwarten griff er nach dem Korb, küsste Dörte auf die Wange und verließ das Haus. Er bezweifelte, dass er jemals wieder herkommen würde.

      9

      „Fred Drekelt wollte sterben!“, rief Benedikt und wedelte mit einem Brief herum, nachdem er ins Büro gestürmt war.

      Michael sah vom Computer hoch und schaute seinen Kollegen fragend an.

      „Der Notar hatte Gernot angerufen, um ihm den Termin für die Testamentseröffnung mitzuteilen. Dabei stellte sich heraus, dass ein Brief für seinen Neffen hinterlegt worden war, den er möglichst sofort lesen sollte. Der Notar hatte danach einen Boten zu Gernot geschickt und der hat mich angerufen. Hier lies!“

      Michael nahm das weiße Blatt in der Folienhülle und sah die sanft geschwungene Handschrift. Er begann zu lesen.

      „Mein lieber Gernot, wenn du das hier liest, bin ich gegangen. Es tut mir leid, aber die Schmerzen haben mir trotz der Medikamente das Leben zu einer Qual gemacht. Ich wollte es dir und Jutta nicht sagen, denn ihr wart immer so gut zu mir. Es hätte euch ein schlechtes Gefühl gegeben, nicht genug für mich zu sorgen. Ich habe einen Menschen getroffen, der ein schlimmes Schicksal erlitten und mich bei meinem Schritt in die andere Welt begleitet hat. Es ist eine Welt ohne Leid und Schmerz, ohne Medikamente und Korsett. Ich bin ihm außerordentlich dankbar. Er hat mir nur das Mittel verabreicht, das ich im Krankenhaus gestohlen habe. Ich bin diesem Menschen wirklich unendlich dankbar und er konnte damit seine Seele von einer großen Schuld befreien. Lieber Gernot, du bist das letzte Familienmitglied, nimm das Geld, verkaufe das Haus und lebe! Ich wünsche mir so sehr, dass du gesund bleibst und der Krebs vor dir Halt macht.


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