Freundlicher Tod. Ute Dombrowski

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Freundlicher Tod - Ute Dombrowski


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wir könnten uns ja ein anderes Mal treffen und unsere Zukunft als Familie planen. Da hat er mich geschlagen. Er hat mich sogar in den Bauch geboxt und gegrinst. Es tat weh, nicht nur körperlich, wenn du verstehst.“

      „So ein mieses Schwein!“, rief Alexander und war ehrlich empört.

      „Ja, er war ein Schwein. Drei Tage später stand er vor meiner Tür. Ich dachte, jetzt hat er begriffen, dass wir Eltern werden. Aber ich hatte mich geirrt. Er hat mir fünftausend Euro angeboten, wenn ich mein Kind abtreiben lasse.“

      „Du hast es angenommen?“

      „Ach, was denkst du denn? Nein. Ich wollte es nicht, aber er hat es auf den Tisch geworfen und gesagt: Lass es wegmachen, sonst wirst du deines Lebens nicht mehr froh. Es lag tagelang auf dem Tisch und ich habe mich nicht getraut es anzufassen. Ich hätte es gut gebrauchen können, denn ich war schwanger, arbeitslos und hatte schon zwei Monate keine Miete bezahlt. Und dann …“

      Wieder schüttelte sie ein Weinkrampf und sie konnte nicht mehr weiterreden.

      „Du hast es angenommen und abgetrieben.“

      Nach endlosen Minuten voller Tränen hob sie den Kopf und sah Alexander an. Ihr Blick war auf einmal vollkommen klar.

      „Ja, ich habe das Geld genommen, die Miete bezahlt und mein Kind getötet. Ich bin eine Mörderin. Auf meinen Schultern lastet die Schuld und sie wird nie wieder weggehen.“

      „Birte, es tut mir so leid, ich wünschte, ich könnte etwas sagen, was dich tröstet.“

      Birte lehnte sich an Alexander und sie hatte plötzlich das Gefühl, dass er der einzige Mensch war, dem sie vertrauen konnte.

      Leise flüsterte sie: „Ich wünschte, ich wäre auch tot. Dann würde meine Seele zur Ruhe kommen.“

      In diesem Moment wusste Alexander, dass für ihn hier die Chance war, seinen eigenen Frieden zu finden.

      „Lass uns ein Stück gehen, Birte. Wir können uns ruhig ab und zu mal treffen und reden. Ich weiß, wie du dich fühlst, denn ich habe vor kurzem meine kleine Schwester verloren. Sie lag im Koma und starb an dem Tag, als meine Mutter mir die Verantwortung übertragen hatte. Ich fühle mich schuldig an ihrem Tod, obwohl ich gar nichts dafür kann.“

      „Ja, Alexander, du verstehst mich. Danke, dass du mir zugehört hast. Ich fühle mich schuldig, wenn ich morgens die Augen öffne und ich fühle mich schuldig, wenn ich sie abends zumache. Erst wenn ich tot bin, werde ich frei sein. Das mit deiner Schwester tut mir leid.“

      Sie schlenderten nun schweigend am Rhein entlang Richtung Altstadt. Birte hatte Alexanders Hand genommen und ihre Tränen waren versiegt. Irgendwann waren sie in der Nähe des Bahnhofs angekommen und Birte erklärte, dass sie hier in der Nachbarschaft wohnte. In dem Moment rauschte lautstark ein Güterzug vorbei und Alexander spürte die Erschütterung im ganzen Körper.

      „Hier wohnst du? Wie hältst du das aus?“

      „Man gewöhnt sich an alles, aber es ist schon sehr laut. Nachts fahren nicht so viele Züge, doch am Tage sitze ich manchmal hier und denke mir Reiseziele aus. Ich liebe Zugfahren. Du auch?“

      „Nein, aber ich sitze gerne auf dem Bahnsteig und beobachte die Leute“, log Alexander, der einen Plan hatte.

      „Komm, lass uns hinsetzen und die Waggons zählen“, rief Birte mit neuem Elan.

      „Mitten in der Nacht?“

      „Ja, komm, egal. Wir können auch noch ein bisschen reden. Einverstanden?“

      Alexander nickte und war froh, dass seine Begleitung sich so bereitwillig in seine Hände begab. Sie fanden eine trockene Bank unter einem Vordach. Die Beleuchtung war kaputt und so saßen sie schweigend nebeneinander in völliger Dunkelheit. Birte lehnte an Alexander und er roch ihre Alkoholfahne, weil hier kein Wind war, der sie davontrug. Es muss schnell gehen, dachte er, dann tut es auch nicht weh. Als er ganz in der Ferne einen Zug kommen hörte, trat er nach vorne an den Bahnsteig und sah zu Birte.

      „Komm hierher!“, forderte er sie auf. „Wir lassen uns den Fahrtwind um die Nase fliegen. Ich liebe es, wenn man keine Luft bekommt.“

      Birte war zwar ein wenig ängstlich, aber als Alexander versprach, sie festzuhalten, vertraute sie ihm total. Nun schlang sie die Arme um seinen Hals und presste ihre Lippen auf seinen Mund. Er musste fast würgen, aber er küsste sie zurück. Es würde ja das letzte Mal sein, dass sie Zärtlichkeiten spüren durfte.

      „Tu es“, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf und er schaute zur Seite.

      Alexander sah dort jemanden stehen, der ihm bekannt vorkam, aber er konnte die Erscheinung nicht einordnen.

      Der Güterzug, der endlos lang war, raste in der schwarzen Nacht heran. Niemand konnte die beiden Figuren sehen, die viel zu nah an den Gleisen standen. Dann ging alles ganz schnell. Ehe Birte wusste, wie ihr geschah, hatte Alexander sie vor den einfahrenden Zug gestoßen. Er hörte bei dem Lärm, den der Zug machte, nicht einmal den Aufprall, aber er konnte sich den dumpfen Schlag gut vorstellen.

      Mit einem zufriedenen Lächeln verließ er den Bahnhof, nachdem wieder absolute Stille herrschte. Alexander fühlte sich gut, er wusste, dass er Birte von ihrer Schuld erlöst hatte und war sich sicher, dass auch er nun Frieden finden würde.

      „Gut gemacht“, flüsterte die Stimme.

      Jetzt erkannte Alexander ihn: Es war Stefan, den er in der Schule sehr verehrt hatte. Der Junge, der ihm ähnlich sah, war sein großes Vorbild gewesen. Wann immer jemand in Not war, hatte sich Stefan eingemischt und die Welt wieder gerade gerückt.

      „Ja, ich weiß“, sagte er in die schwarze Nacht, „danke, dass du mit mir gehst.“

      7

      Der Lokführer rieb sich die müden Augen. Was war das? Hatte dort jemand gestanden? War etwas passiert? Was war das für ein Geräusch gewesen? Achim war müde und eine Erkältung hatte ihn gepackt. Er hustete schon den ganzen Tag und wäre gerne zuhause geblieben, aber es waren schon viele Kollegen krank. Als er niesen musste, hielt er sich beide Hände vor das Gesicht und schüttelte sich. Plötzlich nahm er im Licht der Lokomotive eine Bewegung wahr.

      Zuerst dachte er, er hätte sich das alles nur eingebildet, aber das mulmige Gefühl ließ ihm keine Ruhe. Eine halbe Stunde später rief er den Fahrdienstleiter an, während er in Wiesbaden auf die Ablösung wartete.

      „Hier ist Achim Pschingel vom Zug Nummer 56712, ich weiß es nicht genau, aber irgendwie hatte ich vorhin in Eltville das Gefühl, dass jemand direkt an den Gleisen stand und dann ...“

      „Was heißt das genau?“

      „Ich war mir nicht sicher. Ich habe jetzt Feierabend.“

      „Wir kümmern uns. Bleiben Sie ruhig, vielleicht war es ein Tier.“

      „Danke, Mann, es war ein Scheißgefühl. Oh Mann, da war ganz sicher etwas.“

      Weinend sackte er zusammen.

      Die Frau in der Fahrdienstleitung veranlasste die Sperrung der Bahnstrecke, nachdem sie die Bundespolizei informiert hatte. Die große Maschinerie lief an.

      Es war weit nach Mitternacht und der diensthabende Polizist im Polizeipräsidium Eltville saß müde am Schreibtisch, als der Staatsanwalt anrief. Dr. Rosenschuh erklärte kurz, was passiert war, dann schnaufte er.

      „Die Bundespolizei ist zuständig, aber es gibt einen Großeinsatz in Frankfurt, da sind nicht genug Leute abkömmlich. Holen Sie Frau Bonnét und die beiden anderen aus dem Bett. Es kann sein, dass wir einen Fall haben. Der Lokführer ist traumatisiert, aber er besteht darauf, dass da einer vor seinen Zug geschubst wurde. Die drei sollen sich beeilen und am Bahnhof melden. Ich bin vor Ort.“

      Eine halbe Stunde später betraten Michael und Benedikt den Bahnsteig, wo die Kollegen der Spurensicherung eben dabei waren, Lampen aufzubauen und um den Bahnhof herum sperrten die Kollegen


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