Das Elfenbeinkind. Henry Rider Haggard

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Das Elfenbeinkind - Henry Rider Haggard


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haben Sie in Ihrem Leben auch einmal ein Bild verloren oder zwei, Herr Quatermain, und sind besser imstande, die Frage zu beantworten als ich.«

      Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen; denn dieses Gespräch über verlorene Bilder erweckte in mir Erinnerungen, die mich beengten.

      Dann begann sie wieder zu sprechen, tief, rasch, mit unterdrückter Leidenschaft, aber mit einer wundervollen Mimik. Sie wußte, daß vieler Blicke auf ihr ruhten, ihre Gesten und der Ausdruck ihres Gesichtes waren aber so, wie der einer jungen Dame, die über Alltagsangelegenheiten, über Bälle, Blumen oder Juwelen spricht. Sie lächelte, und gelegentlich lachte sie sogar auf. Sie spielte mit dem goldenen Salzfaß vor ihr, und als sie ein wenig von seinem Inhalt verschüttet hatte, warf sie Salz über ihre linke Schulter und tat, als fragte sie mich, ob auch ich Anhänger dieses Aberglaubens wäre.

      Aber während sie so heiter schien, sprach sie von tiefen Dingen, von Dingen, von denen ich niemals gedacht hätte, daß sie sie beschäftigten. Folgendes ist die Quintessenz dessen, was sie sagte:

      »Ich bin nicht wie andere Frauen. Irgend etwas zwingt mich, Ihnen das zu sagen, irgend etwas, was sehr stark und real ist. Es ist seltsam, ich habe niemals zu irgend jemandem von diesen Dingen gesprochen, zu meiner Mutter nicht und sogar zu Lord Ragnall nicht. Keiner von ihnen würde mich verstehen. Ihr Mißverstehen würde allerdings verschieden sein. Meine Mutter würde mir raten, zu einem Arzt zu gehen – und wenn Sie erst diesen Arzt kennenlernten! Er«, und sie nickte nach Lord Ragnall hin, »würde denken, daß meine Verlobung mich ein wenig unvernünftig gemacht hat, oder daß ich religiöser bin, als ich meinem Alter nach eigentlich sein sollte, und daß ich wohl zuviel über – nun, über das Ende aller Dinge nachgedacht habe. Von Kind an wußte ich, daß ich ein Mysterium inmitten vieler anderer Mysterien bin. Es kam in einer Nacht ganz plötzlich über mich. Ich war damals ungefähr neun Jahre alt. Mir war es, als könnte ich die Vergangenheit und die Zukunft sehen, trotzdem ich beide nicht begreifen konnte. Solch eine lange Vergangenheit und solch eine endlose Zukunft! Ich weiß nicht, was ich dabei sah und manchmal noch sehe. Es kommt wie das Zucken eines Blitzes und ist blitzschnell wieder fort. Mein Verstand kann es nicht festhalten. Es ist zu gewaltig für meinen Geist. Ebensogut könnten Sie versuchen, Doktor Jeffreys da in dieses Weinglas zu stopfen. Nur zwei Tatsachen bleiben mir ins Herz geschrieben. Die erste ist, das mir Unheil droht, seltsames und ungewöhnliches Unheil; und die zweite ist, daß fortwährend, in jedem Augenblick, ich oder ein Teil von mir irgend etwas mit Afrika zu tun hat, einem Erdteil, von dem ich außer ein paar Tatsachen aus sehr langweiligen Büchern nichts weiß. Und nebenbei – dies ist meine neueste Erkenntnis –, daß ich sehr viel zu tun habe mit Ihnen. Das ist's, warum ich mich so für Afrika und für Sie interessiere. Erzählen Sie mir jetzt von Afrika und von sich selbst.« Sie brach kurz ab und setzte mit lauterer Stimme hinzu: »Sie haben dort Ihr ganzes Leben verbracht, nicht wahr, Herr Quatermain?«

      »Ich glaube fast, Ihre Mutter hat recht – mit dem Doktor, meine ich«, gab ich zur Antwort.

      »Das sagen Sie, aber das glauben Sie nicht. Oh, Sie sind sehr durchsichtig, Herr Quatermain – wenigstens für mich.«

      Also begann ich, flüchtig genug – denn die Situation erschien mir unbehaglich, in gewissem Sinne sogar gefährlich –, das erste beste, was mir über Afrika einfiel, zu erzählen – nämlich die Legende von der »Heiligen Blume«, die von einem mächtigen Affen bewacht wird. Ein weißer Mann, der den Namen Bruder John führte und allgemein ein bißchen für verrückt gehalten wurde, hatte mir davon erzählt. Ich sagte ihr auch, daß irgendeine Tatsache dahinter stecken müsse, denn ich hatte ein Exemplar der Blume mitgebracht.

      »Oh, zeigen Sie sie mir«, bat sie.

      Leider konnte ich das nicht, da die Blume in einem Tresor in London verwahrt würde. Ich versprach ihr jedoch ein Aquarell, deren ich mehrere hatte malen lassen. Dann fragte sie mich, ob mich augenblicklich irgendwelche anderen afrikanischen Probleme beschäftigten. »Sogar verschiedene«, entgegnete ich ihr. So hatte ich zum Beispiel durch Bruder John und einige andere Leute von der Existenz eines gewissen Stammes in Zentral-Ostafrika – Arabern oder Halbarabern – gehört, die, wie behauptet wurde, ein Kind anbeteten, das immer ein Kind bliebe. – Ich hielt dies Kind für einen Zwerg; aber da ich mich seit jeher für die unendlich mannigfaltigen Kultgebräuche der Eingeborenen interessierte, hätte ich sehr gern den wahren Kern dieser Angelegenheit eruiert.

      »Weil Sie gerade von Arabern sprechen,« unterbrach sie mich, »will ich Ihnen eine kuriose Geschichte erzählen. Einst, ich war noch ein kleines Mädchen von acht oder neun Jahren – es war kurz vor jener Erweckung, von der ich Ihnen sprach –, spielte ich unter Obhut meiner Gouvernante im Kensington-Garten, denn wir wohnten damals in London. Sie unterhielt sich mit einem jungen Mann, ihrem Vetter, wie sie sagte, ich sollte mit meinem Reifen spielen und sie in Ruhe lassen. Ich trieb den Reifen übers Gras auf eine Gruppe von Ulmen zu. Da traten hinter einem der Bäume zwei große Männer hervor, mit weißen Gewändern und Turbanen bekleidet, die mir vorkamen wie die biblischen Gestalten in einem meiner Bilderbücher. Der eine war ein ältlicher Mann mit blitzenden schwarzen Augen, krummer Nase und langem grauen Bart. Der andere war viel jünger, aber an ihn erinnere ich mich nicht so gut. Beide waren sie von brauner Hautfarbe, sonst aber sahen sie aus wie Weiße, nichts Negerhaftes war an ihnen. Mein Reifen traf den älteren Mann, ich stand still und wußte nicht, was ich sagen sollte. Er verbeugte sich höflich und hob ihn auf, aber er machte keine Anstalten, ihn mir zurückzugeben. Sie sprachen lebhaft gestikulierend miteinander, und einer von ihnen deutete auf das mondförmige Mal, das Sie hier an meinem Halse sehen; denn es war heiß und ich trug ein tiefausgeschnittenes Kleidchen. Übrigens hat mich mein Vater dieses Males wegen ›Luna‹ genannt. Der Ältere der beiden fragte mich in gebrochenem Englisch:

      »Wie ist dein Name, hübsche Kleine?«

      Ich sagte ›Luna Holmes‹. Da nahm er eine Büchse von wohlriechendem Holze aus seinem Gewand, öffnete sie, strich ein wenig von einer Art Süßgummi heraus, der aussah, als wäre er gefroren, und gab ihn mir. Ich war eine große Freundin von Süßigkeiten, und steckte das vermeintliche Konfekt in den Mund. Dann rollte er den Reifen in die Schatten der Bäume und sagte: »Lauf, fange ihn, kleines Mädchen!« Ich lief ihm nach, und ein sonderbarer Geschmack veranlaßte mich, jene Süßigkeit fallen zu lassen. Dann wurde alles trübe um mich, und das nächste, woran ich mich erinnere, war, daß ich in den Armen des jüngeren Orientalen lag. Die Gouvernante und ihr ›Vetter‹, ein handfester Bursche, standen uns gegenüber.

      »Kleines Mädchen werden krank«, sagte der ältere Araber. »Wir suchen Polizist.«

      »Sie lassen das Kind los!« sagte der ›Vetter‹, und ballte die Fäuste. Dann verließen mich wieder die Sinne, und als ich zu mir kam, waren die zwei weißgekleideten Männer verschwunden. Auf dem Heimwege schalt mich die Gouvernante, weil ich von Fremden Süßigkeiten angenommen hatte. Ich bat sie, meinen Eltern nichts zu sagen, womit sie im eigenen Interesse einverstanden war. So kommt es, daß Sie, Herr Quatermain, der erste sind, dem ich diesen Vorfall erzähle.«

      »Sie glauben, das Zeug war vergiftet?« fragte ich.

      Sie nickte: »Jedenfalls steckt etwas sehr Seltsames dahinter. Ein oder zwei Nächte nach jenem Ereignis trat das ein, was ich vorhin meine Erweckung nannte, und ich begann mich in meinen Gedanken mit Afrika zu beschäftigen.«

      »Haben Sie diese Leute jemals wiedergesehen, Fräulein Holmes?«

      »Nein, niemals.«

      In diesem Momente hörte ich Lady Longden mit Betonung sagen:

      »Meine liebe Luna, es tut mir leid, dich in deiner fesselnden Unterhaltung zu stören. Aber wir alle warten auf dich.«

      So war es auch, denn jetzt sah ich mit Schrecken, daß außer uns schon alle aufgestanden waren.

      Fräulein Holmes erhob sich eiligst.

      Lord Ragnall, mich Einsamen wohl bedauernd, setzte sich zu mir und begann ein Gespräch über Großwildjagd in Afrika. Hierbei erkundigte er sich auch nach meiner ständigen Adresse dort unten. Ich sagte ihm: »Durban«, und fragte meinerseits nach dem Grunde seines Interesses.

      »Weil Fräulein Holmes ganz


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