Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

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Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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      „Auf unseren Äckern werden oft mehrere Pestizide gleichzeitig oder nacheinander verwendet. Wie die einzelnen Mittel zusammenwirken, wird vorher in der Zulassung nicht überprüft. Dort werden Mittel nur einzeln bewertet. Die Folge: Unerwünschte Kombinationswirkungen von Pestiziden auf die Umwelt bleiben oft unentdeckt. Laut einer neuen Studie für das UBA muss sich das rasch ändern.“ 3.4.1/6 UBA

⇒ Weitere InformationenKühling, WilfriedMehrfachbelastungen durch verschiedenartige Umwelteinwirkungen. 3.4.1/7 Kühling

      3.4.2 Die Synergie der multisystemischen Gesamtlast

      In der Botanik gibt es eine Klasse von Erregern, die als Schwächeparasiten bezeichnet werden, also Parasiten, die z. B. Bäume nur dann schädigen können, wenn durch vorangegangene Wirkung anderer Faktoren deren Widerstandskraft geschwächt wurde. Derzeit schädigen hohe Tagestemperaturen, massive Niederschlagsdefizite und die daraus resultierende geringe Luftfeuchtigkeit die Wälder massiv und machen sie anfällig.

Auch im menschlichen Organismus hinterlassen Stressfaktoren Schäden, die die Widerstandskraft schwächen. Jetzt können, vor allem bei ohnehin vulnerabler Disposition, auch weniger virulente Erreger zu systemsprengenden Faktoren werden.

      Es sollte gesamtgesellschaftlicher Konsens sein, dass wir unverzüglich und gemeinsam Maßnahmen ergreifen, um einen „Zell-, bzw. Mitochondriengesunden“ gemeinsamen Lebensraum zu schaffen – und zwar „von der Wiege bis zur Bahre“. Mehr Aufklärung über Lebensstilfaktoren, mehr Prävention und eine beherzte Eindämmung kollektiver Stressfaktoren sind keine realitätsfremden Forderungen. Wie viele Erkrankungen, Operationen, Medikamente, Pflegekosten sowie kostenintensive Untersuchungen wären vermeidbar?

      Abb. 3.4.2/1 Die Gesundheitsausgaben steigen von Jahr zu Jahr

      Die Gesundheitsausgaben steigen Jahr für Jahr. Im Jahr 2017 überschritten sie erstmals die Marke von einer Milliarde Euro pro Tag. Wie werden die Gesundheitsausgaben für die Corona-Jahre 2020/2021 aussehen? Quelle: Pressemitteilungen des Statistischen Bundesamtes: Nr. 109, 21. März 2019, Nr. 164, 12. Mai 2020; Nr. 167, 6. April 2021.

      Abb. 3.4.2/2 100-Milliarden-Euro-Sprünge

      Die Abstände der jeweiligen 100 Milliarden-Grenze werden geringer: Während zwischen 1998 bis 2012 14 Jahre lagen, verminderte sich die Zeitspanne zum nächsten 100 Milliarden Schritt im Jahr 2019 schon auf sieben Jahre. Quelle } Siehe Abb. 3.4.2/1

      Blick in die USA

      Prof. Naviaux erforscht nicht nur wissenschaftlich die Reaktion auf Zellgefahren, er weist in dem lesenswerten Artikel Perspective: Cell danger response Biology—The new science that connects environmental health with mitochondria and the rising tide of chronic illness auch darauf hin, dass eine Gesellschaft sich chronische Erkrankungen nicht nur aus humanistischer und ethischer Sicht nicht leisten kann, sondern dass ein „Weiter so“ auch wirtschaftlich zu einem Desaster führt:

      „Die wirtschaftlichen Kosten chronischer Krankheiten

      Die Vereinigten Staaten geben heute jährlich 2,8 Billionen Dollar für die medizinische Versorgung von Kindern und Erwachsenen mit chronischen Erkrankungen aus. Dies entspricht 86 % des US-Haushalts in Höhe von 3,3 Billionen US-Dollar für das Gesundheitswesen. Wenn die steigende Flut chronischer Krankheiten der letzten 30 Jahre unvermindert anhält, werden die Kosten der Gesundheitsversorgung in den USA bis 2025 voraussichtlich 5,5 Billionen Dollar übersteigen, was negative Auswirkungen verursacht, die den wirtschaftlichen Wohlstand nicht nur in diesem Land, sondern in vielen Ländern auf der ganzen Welt entgleisen lassen werden.

      Was wäre, wenn ein neuer Ansatz in der Medizin in der Lage wäre, das Leiden und die Notwendigkeit einer teuren medizinischen Versorgung für nur 10 % der Menschen mit einer chronischen Erkrankung zu lindern? Dieser neue Ansatz würde jährlich 280 Milliarden US-Dollar (10 % mal 2,8 Billionen Dollar) in die US-Wirtschaft zurückbringen. Diese Einsparungen in einem einzigen Jahr würden die jährlichen Budgets der National Institutes of Health (NIH; 37 Milliarden Dollar), der Environmental Protection Agency (EPA; 8,7 Milliarden Dollar), der Food and Drug Administration (FDA; 5,1 Milliarden Dollar) und des US Department of Agriculture (USDA; 151 Milliarden Dollar) zusammen übersteigen.“ [Ü.d.A.] [Quellenhinweise im Originaltext] 3.4.2/1 Naviaux

      Anmerkung: Das amerikanische „trillion“ im Originaltext entspricht der deutschen Billion, die amerikanische „billion“ entspricht der deutschen Milliarde.

⇒ Weitere InformationenThe 28th Amendment ProjectProf. Naviaux hat eine Initiative ins Leben gerufen, die sich für eine Verfassungsänderung einsetzt, die das Recht, in einem Umfeld geboren zu werden, das keine chronischen Krankheiten verursacht, formuliert. Die bereitgestellten Grundlagen können auch als „Blaupause“ für andere Nationen verwendet werden. 3.4.2/2 Naviaux

      3.5 Eine Herausforderung, der wir nicht gewachsen sind

      Präventionsmaßnahmen basieren auf den Erfahrungswerten aus vergangenen Missständen oder Katastrophen. An Gefahren, die man erlebt hat, kann man sich erinnern und ist dadurch gewarnt. Gute Prävention trägt dazu bei, künftige Katastrophen vorausschauend zu verhindern.

Was aber, wenn menschheitsgeschichtlich neue, katastrophale Missstände auftauchen, für die keine tradierte Erfahrung vorliegt?

      Christian Pfister, Prof. Emeritus für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte am Oeschger Zentrum für Klimaforschung, Universität Bern, Schweiz, beschreibt, dass Menschen durch häufige Erfahrungen von Naturgefahren eingespielte Praktiken zur Risikominimierung in ihre Lebensgewohnheiten integrieren. Sie verfügen dadurch über Praktiken zur Bewältigung von außerordentlichen Lebenslagen und stehen solchen Ereignissen nicht hilflos gegenüber.

      „Zeit ist bei der Bewältigung von Katastrophen der alles entscheidende Faktor. Es kommt darauf an, ob das relevante Handlungswissen rasch genug abgerufen werden kann oder ob es erst durch Erinnerungsleistung aktiviert werden muss. Dies ist hauptsächlich abhängig von der Häufigkeit von Katastrophen.“ 3.5/1 Pfister

      Die derzeitige Flutkatastrophe [Stand Juli 2021] zeigt, dass Warnungen nicht ernst genommen, bzw. weitregegeben wurden. Die britische Hydrologin Hannah Cloke konstatierte „Monumentales Systemversagen“, so Bernhard Junginger in der Augsburger Allgemeinen:

      „Die Professorin der Universität Reading ist eine der Entwicklerinnen des europäischen Hochwasser-Warnsystems, über das die Regierungen Belgiens und Deutschlands bereits vier Tage vor Beginn des Hochwassers an Rhein und Meuse [deutsch: Maas] gewarnt worden seien. 24 Stunden vorher sei den deutschen Stellen dann nahezu präzise vorhergesagt worden, in welchen Gegenden schwere Überflutungen drohten. Genannt worden seien dabei auch jene Gebiete an der Ahr, in denen mehr als 110 Menschen als Folge der Überschwemmungen ihr Leben verloren. „Irgendwo ist diese Warnkette dann gebrochen, so dass die Warnungen nicht bei den Menschen angekommen sind“, sagte Cloke.“ 3.5/2 Augsburger Allgemeine

      Am 13. Juli hatte der Deutsche Wetterdienst eine „Amtliche Gefahrenmeldung“ verschickt. Auch das European Flood Awareness System/EFAS warnte am selben Tag vor extremen Überflutungen.

      Krise? Welche Krise?

      Je präsenter eine vergangene Katastrophe als Risikobewusstsein in der Bevölkerung vorhanden ist, desto kompetenter ist der Umgang mit einer auftretenden Gefahr. Dann kann die Zeitspanne zwischen den ersten Hinweisen und dem Eintreten einer Gefahr optimal genutzt werden. Im besten Fall gibt es dazu von behördlicher Seite einen Krisenstab, ein ausgearbeitetes Schutzkonzept, Risikogruppen oder -zonen sind bekannt und Strategien für deren Rettung vorbereitet. Bei neuartigen Gefahren kann weder das individuelle noch das kollektive Gedächtnis auf Erfahrungen zurückgreifen. Die Corona-Pandemie und die Hochwasser der kleinen Flüsse legen


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