Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

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Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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Veränderungen im Darmmikrobiom und erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Berührung, Klang und Licht, die viele Menschen erleben, wenn sie die Grippe haben, oder sich von einer schweren Verletzung erholen.

      Es ist die CDR, die diese bekannten Zeichen und Symptome produziert. Auf zellulärer Ebene kann die Reaktion auf die Zellgefahr erst ausgeschaltet werden, wenn die Zelle das endgültige „alles in Ordnung“ Signal empfängt. Bis dahin bleibt die CDR in einer sich wiederholenden Schleife stecken, die weitere Heilung blockiert, um die wahrgenommene Gefahr auszumerzen. Dies kann zu Langzeitleiden, Behinderungen und chronischen Krankheiten führen. Nur wenn eine Zelle Sicherheit wahrnimmt, kann sie vollständig heilen.“ [Ü.d.A.] [Quellenverweise im Original] 3.4/1 Naviaux

      Abb. 3.4/1 Schutz und Schadfaktoren

      3.4.1 Cocktail-Effekte

Kombinationseffekte sind real. Sie relativieren jegliche Aussagen über „unbedenkliche“ Grenzwerte.

      Fukushima: Systemische Effekte

      Im März 2011 wurde Japan von einem Erdbeben mit darauffolgendem Tsunami getroffen. Die Kühlung im Atomkraftwerk fiel aus und es kam zum Super-GAU. Das Risiko eines Erdbebens war berechnet worden, ebenso das Risiko eines Tsunami. Das Auftreten beider Faktoren gleichzeitig und die systemischen Folgen – dafür waren die Vorsorgemaßnahmen nicht ausgerichtet.

Der Fukushima-Effekt im ImmunsystemDerzeit werden Grenzwerte z. B. von Schadsubstanzen linear berechnet, d.h. es wird erforscht, welche Folgen eine Substanz im Organismus erzeugt. Systemische, kumulative, synergistische Effekte werden ausgeblendet.

      Wirkformen von Substanzen, Gasen, Strahlung

      Synergistische Wirkung:

      Die Wirkung der Noxen ist unterschiedlich, sie wirken interaktiv und verstärken einander: Die potenzielle Schädigung „im Team“ ist stärker.

      Antagonistische Wirkung:

      Noxen wirken gegenläufig, sie schwächen einander: Die potenzielle Schädigung ist geringer.

      Additive, kumulative Wirkung:

      Die Wirkung der Noxen ist identisch und summiert sich.

      Unabhängige Wirkung:

      Die Wirkung der Noxen ist unterschiedlich, aber es kommt nicht zu Wechselwirkungen.

      Pestizid-Cocktail

      Eine der wenigen Studien, die die sogenannten „Cocktail-Wirkungen“ von Chemikalien erforschten, wurde von einem französischen Autorenteam 2018 veröffentlicht. Dabei wurden zehn trächtige Ratten einer Mischung aus acht Pestiziden ausgesetzt, denen Menschen in der Bretagne üblicherweise ausgesetzt sind. Die Metabolomik-Analyse zeigte mehrere Unterschiede zwischen den Muttertieren der Versuchsgruppe gegenüber der unbelasteten Vergleichsgruppe, insbesondere im Plasma, in der Leber und im Gehirn. Die modifizierten Metaboliten waren am TCA-Zyklus, an der Energieproduktion und -speicherung, am Lipid- und Kohlenhydratstoffwechsel sowie am Aminosäuren-Stoffwechsel beteiligt. Die Autoren vermuten, dass die Pestizidmischung oxidativen Stress induzieren kann, der mit mitochondrialen Funktionsstörungen und der Beeinträchtigung des Glukose- und Lipidstoffwechsels einhergeht – auch wenn keine einzelne Chemikalie in Konzentrationen vorhanden war, die als „toxisch“ definiert ist. 3.4.1/1 Bonvallot et al.

      Cocktail Studie

      Eine weitere „Cocktail-Studie“, die im August 2020 als Preprint veröffentlicht wurde, untersuchte die Auswirkungen einer Mischung von sechs Pestizidwirkstoffen, die jeweils in der gesetzlich zulässigen Tagesdosis an Ratten verabreicht wurden. Offensichtliche Veränderungen wie z. B. beim Körpergewicht konnten nicht festgestellt werden. Veränderungen zeigten sich aber in der Zusammensetzung des Mikrobioms sowie bei der Expression von 257 Genen. Bei der Methylierung von Genen zeigte sich ein Unterschied zu unbehandelten Ratten von 10 %. 3.4.1/2 Mesnage et al.

      Joghurtbecher und Co.

      2019 wurde in der Zeitschrift Environmental Science & Technology eine Laborstudie der Forschungsgruppe PlastX unter der Leitung des Instituts für sozial-ökologische Forschung veröffentlicht. Die Untersuchung von 34 Alltagsprodukten aus acht verschiedenen Kunststofftypen wie Joghurtbecher, Trink- und Shampoo-Flaschen ergab, dass drei Viertel der Produkte schädliche Chemikalien enthielten. Je nach Typ und Anwendung werden dem Basismaterial auf Erdölbasis Zusatzstoffe wie Weichmacher, Stabilisatoren oder Farbstoffe zugesetzt, während des Produktionsprozesses entstehen zudem zahlreiche Neben- oder Abbauprodukte.

      „In dem komplexen Herstellungsprozess von Kunststoffen entsteht ein regelrechter Cocktail an Substanzen, von denen wir einen Großteil überhaupt nicht kennen“,

      sagte die Leiterin der Forschungsgruppe PlastX, Carolin Völker.

Von 1.400 Substanzen konnten im Labor nur 260 identifiziert werden. Die Autorengruppe konnte, außer für Bisphenol A, dessen schädliche Wirkung belegt ist, keine Aussagen über potenzielle Gesundheitsrisiken für Verwender der Kunststoffprodukte machen.

      „Etwas mehr als 80 Prozent aller nachgewiesenen Substanzen konnten wir mithilfe chemischer Analysen nicht identifizieren“, sagt Zimmermann. „Das heißt, wir wissen zum Großteil nicht, womit wir es in den Kunststoffprodukten zu tun haben. Und wenn wir die Chemikalien nicht kennen, können wir auch nicht bestimmen, ob sie sicher für Mensch und Umwelt sind“. 3.4.1/3 Zimmermann et al.

      Arzneimittel-Rückstände im Wasser

Laut der OECD-Studie Pharmaceutical Residues in Freshwater von 2019 wurden über 150 pharmazeutische Spurenstoffe in Wasser nachgewiesen. Deutschland nimmt dabei neben den USA, Frankreich, Spanien und Großbritannien einen Spitzenplatz ein.

      Jährlich gelangen Hunderte Tonnen von Medikamenten in die Umwelt. Es gibt mehr als 4.000 arzneiliche Wirkstoffe, bei den meisten (bei Humanarzneimitteln: 88 %) sind die Auswirkungen auf die Umwelt nicht erforscht. Stoffgemische aus Arzneimittelrückständen und anderen Mikroverunreinigungen haben komplexe Wirkungsweisen. Unser Trinkwasser gilt für Menschen als sicher – aber schon sehr geringe Konzentrationen dieser Substanzen (im Nanogrammbereich) können fatale Folgen für Wasserlebewesen haben. Informationen über Herbizid-Rückstände im Grundwasser finden Sie auf den Webseiten des Umweltbundesamtes.

      Siebzehn Stressoren

      Multisystemischen Komplex-Erkrankungen basieren stets auf einem biochemischen Ungleichgewicht, das von Prof. Martin L. Pall als „Nitrosativer Stresszyklus“ beschrieben wurde. } Siehe Kapitel 5.5 Prof. Pall weist darauf hin, dass 17 Stressoren bekannt sind, die synergistisch eine Schlüsselrolle bei der Krankheitsentstehung spielen:

      „Es sind insgesamt 17 unterscheidbare kurzfristig auftretende Stressoren bekannt, die Fälle einer oder mehrerer der besprochenen Krankheiten [ME/CFS, MCS, FMS und PTBS, die Autorin] einleiten. Es ist auch bekannt, dass alle 17 Zykluselemente stimulieren können, was bekanntermaßen oder vermutlich zu einem Anstieg von Stickoxid und Peroxynitrit führt. Sie können also den Zyklus über diese Mechanismen einleiten.“ 3.4.1/4 Pall

      Synergistische Wirkungen

      Dr. rer. nat. Heike Sommer erforschte 2006 im Rahmen ihrer Dissertationsarbeit synergistische Kombinationswirkungen durch Gemische aus 2–8 Komponenten unspezifisch wirksamer Chemikalien in untoxischen Konzentrationen der Einzelsubstanzen an menschlichen Fibroblasten.

      „Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigten, dass alle Kombinationen auch unterhalb der Toxizitätsschwellen (NOEC-Werte) der sie enthaltenden Komponenten eine toxische Gesamtwirkung verursachten. [...] Gemische aus 2 Komponenten verstärkten die Toxizität der Einzelsubstanzen, und es zeigte sich, dass die Gemische deutlich toxischer waren als die jeweilige Substanz allein. [...] Je mehr Komponenten das Gemisch enthielt, umso geringer waren die erforderlichen Konzentrationen der einzelnen Komponenten, um einen bestimmten Effekt zu erzielen.“ 3.4.1/5 Sommer

      Umweltrisiken durch Pestizid-Cocktails werden unterschätzt

      lautete


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