Ein moderner Lederstrumpf. Robert Kraft
Читать онлайн книгу.am Kopfe haben.
»Frisch mittendurch, die Stiere thun uns nichts, sie weichen aus; folgen Sie dem Hunde!« rief es hinter ihr. Vor ihr trabte der gelbe Hund, und wirklich, achtungsvoll traten die intelligenten Ochsen zurück.
Als sie die vermeintliche Gefahr hinter sich hatte und der Hund wieder verschwunden war, überkam Ellen etwas wie Scham, die sie jedoch schnell in Aerger über sich selbst zu verwandeln wusste. Ochsen sollten sie nicht wieder bange machen.
Sie erreichte Newark, fuhr die Hauptstrasse immer geradeaus, bis sie an das leicht erkennbare Postgebäude kam. Hier wollte sie an den Champion-Club ein Telegramm absenden. Nun konnte sie dem Begleiter auch gleich beweisen, wie überflüssig er war. Auch Starke war abgestiegen, und anstatt ihr Rad unter seiner Aufsicht zu lassen, hing sie es sich über die Schulter, erklomm mit der Last die Steintreppe, trug es immer weiter, bis sie es in dem Telegraphenbureau an die Wand lehnte. Sie schrieb die Depesche, warf noch einen Blick nach der Maschine, trat an den von ziemlich viel Menschen umstandenen Schalter. Sie kam in's Gedränge, kam wieder heraus — weg war das Rad.
Noch einen erschrockenen Blick durch das Zimmer, dann wusste sie nicht, wie sie die Treppe hinabgekommen war. Unten stand Starke, ihr Rad haltend.
»Ich nahm es dem Burschen ab. Arretiren habe ich ihn nicht lassen, gab ihm ein Paar hinter die Ohren. Der verliebt sich sobald nicht wieder in ein fremdes Rad.«
Nur um ihre Schamröthe nicht merken zu lassen, schwang sich Ellen schnell anf ihre Maschine und jagte davon.
Ich hätte mir einfach eine andere gekauft, beruhigte sie sich wieder.
»Sie fahren ja zurück, Miss Howard,« erklang es da abermals.
Ach, was kann einem Culturmenschen, der den Instinct des Wilden verloren hat, doch nicht Alles passiren!
»Ich weiss es,« sagte sie trotzig, lenkte langsam um, fuhr einem Gentleman in den Rücken, ohne die Balance zu verlieren, und radelte nun erst recht mit fieberhafter Eile vorwärts. Die Hauptstrasse spaltete sich, sie fuhr geradeaus.
»Zurück und links ab, dort geht es direct nach dem Nordpol,« ertönte eine Stimme hinter ihr.
Was sollte sie thun? Nach dem Nordpol wollte sie nicht, sie müsste wohl oder übel umkehren, und sie beugte ihr schamgeröthetes Gesicht nur noch tiefer über die Lenkstange. Ueber ihre Empfindungen vergass sie auch ganz, dass sie irgendwo etwas hatte trinken wollen, und erst, als sie die Stadt schon weit hinter sich hatte und sie einen hübschen Ornamentbrunnen erblickte, der den Eingang eines Villenparkes schmückte, erinnerte sie sich des quälenden Durstes.
Sie stieg ab, zog den Gummibecher aus der Jackentasche, drückte den Knopf, spülte in dem Strahle der Wasserleitung den Becher aus und leerte ihn mehrere Male. Dann beschäftigte sie sich mit der Maschine, untersuchte die Kette, welche etwas zu knacken begann, und beobachtete dabei Starke. Dieser nahm den breitkrempigen Hut, ebenfalls von Leder, vom Kopf, wischte den Schweiss etwas mit dem Ellenbogen aus, liess ihn voll laufen und trank.
Das sah solche einem Bummler so recht ähnlich! Hätte er den schweissigen, staubigen Hut nicht wenigstens erst ausspülen können? Hierauf liess er den Hund aus dem Hute saufen und — wahrhaftig, er trank nochmals von demselben Wasser, in welches schon das Thier seine Nase gesteckt hatte!
Die prüde Engländerin schüttelte sich vor Grauen. Was wollte er nun wieder von ihr? Er trat auf sie zu, hielt etwas in der Hand, was ihr so bekannt vorkam; wortlos überreichte er es ihr ........
Auch das noch! Sie hatte ihre Brieftasche, Checkbuch und alles Papiergeld enthaltend, verloren gehabt!
Nur ein gemurmeltes »Danke«, dann weiter, immer weiter!
Schliesslich beruhigte sie sich. Es will eben Alles in der Welt gelernt sein, selbst eine Brieftasche einstecken. Der be- und erfahrene Radler, wenn er die Ausrüstung zur langtägigen Tour zusammenstellt, wird sich vielleicht lächelnd erinnern, wie unpraktisch er doch war, als er seine erste Landparthie antrat. Er hat sich seine Erfahrung wirklich erfahren. —
Obwohl die Gegend hin und wieder schon hier, wo es Ellen noch gar nicht vermuthet hätte, im cultivirtesten Theile dieses Erdtheils, recht an Prairie erinnerte, gute, chaussirte Wege führten doch immer durch. Solche meilenweite Prairiestrecken findet man aber auch noch in England genug, in der dichtesten Nähe von London. Nicht etwa Wiese, keine Weiden, sondern noch völlig jungfräuliches Land, noch von keinem Spaten berührt. Das hängt mit der ausgebreiteten Schafzucht zusammen.
Es war Mittag geworden. Sonnendurchbrannt machte Ellen in einem Städtchen mit nur einer Strasse Halt vor einem Gasthause, dessen reizendes Gärtchen mit seinen Weinlauben zur Rast einlud. Schon diese Weinlauben verriethen den deutschen Wirth.
Sie verwahrte das Rad, wusch sich und liess sich in einer Laube nieder. Starke that desgleichen in einer anderen. Sie verlangte Mittagsessen, oder richtiger ihren »Lunch«. »Beefsteak mit irgend welchem Gemüse,« bestellte sie, nichts weiter. Sie hattet vorhin geglaubt, Hunger zu haben, aber die Nähe dieses Menschen verbitterte ihr selbst das Essen.
Unterdessen studirte Ellen die Karte des Staates New-York. 23 Meilen war sie schon von der Küste entfernt, und wenn sie jetzt zur Zeit der Sonnengluth bis um 4 Uhr ruhte, konnte sie heute noch 20 bis 30 Meilen machen. Von morgen an begann das Tagewerk immer noch vor Sonnenaufgang.
Hier dürfte ein Sachverständiger kopfschüttelnd fragen, wie es möglich ist, dass Jemand, der ein Vierteljahr lang auf keinem Radsattel mehr gesessen hat, am ersten Tage 12 deutsche Meilen machen kann und am nächsten Tage noch vor Sonnenaufgang weiter will.
Ellen hatte die letzten Stunden ihres Aufenthalts in England auszunützen verstanden. Am 1. September früh um 9 Uhr musste sie in Liverpool an Bord sein. Kurz vorher traf dort der Londoner Schnellzug ein. Am Abend zuvor schickte sie ihr weniges Gepäck, von dem das schnell gefertigte Herrenkostüm die Hauptsache bildete, nach Liverpool, nahm Abschied vom Champion-Club, nur eine Freundin, eine enragirte Radlerin, begleitete sie. Sie benutzten den Personenzug; in Stote verliessen sie ihn Nachts um 3 Uhr, etwa 12 deutsche Meilen noch von Liverpool entfernt; es war schön und windstill, und nun stellte sich Ellen die Aufgabe, bis um 8 Uhr per Rad dort zu sein. Die Freundin diente als Schrittmacherin. Hielt sie nicht aus, so musste sie nur eine Hauptstation erreichen, um den Morgenschnellzug benutzen zu können. Aber es gelang, noch vor 8 Uhr war sie am Quai von Liverpool, freilich in welcher Verfassung! Sie fiel vom Rad, sie kroch über die Landungstreppe; drei Tage lang konnte sie weder gehen noch stehen, an Sitzen gar nicht zu denken, beim Liegen hatte sie die wenigsten Schmerzen; so machte sie auch die Seekrankheit durch, dann erholte sie sich — und nun war sie wieder sattelfest.
Das Essen kam. Zunächst erschrak Ellen vor dem ungeheuren Beefsteak, dann Kartoffeln, Cabbage, Blumenkohl und Spargel, dazu zweierlei Compots und Salate; zum Schluss, aber gleich mit auf den Tisch gestellt, verschiedenes Obst und einen appetitlichen Pudding. Ja, essen thut man in Nordamerika nicht schlecht.
Es ist zwar in Amerika Sitte, das Getränk gleich beim Empfang zu bezahlen, doch nicht das Essen. Der biedere Wirth musste wohl schon zechprellende Radler kennen gelernt haben, dass er gleich die Rechnung beglichen haben wollte. Ellen glaubte nicht recht gehört zu haben. Das sind 2 Mark, aber in Amerika bedeuten sie doch nur 50 Pfennige.
Und dennoch war dieser deutsche Wirth gar nicht so billig. Um die Lebenspreise richtig kennen zu lernen, orientirt man sich am besten unter kleinen Verhältnissen mit dem grössten Consum. In einem Boardinghouse, d. i. eine Arbeiterherberge im Centrum New-Yorks gelegen, kostet die volle Pension pro Tag einen Dollar, und dafür erhält man zum Frühstück Kaffee, Thee, frisch gebratenes Beefsteak, Eier, Schinken, Brot, Butter und verschiedenen Kuchen, Alles, so viel man mag; zum Mittag drei bis vier Gänge, darunter Fisch und Geflügel, alle Gemüse der Saison, Spargel und Artischocken, Früchte, Käse, mehrere süsse Speisen, und nicht etwa zur Auswahl, Alles steht auf dem Tische, immer frische Schüsseln kommen; am Abend noch einmal dasselbe, aber frisch, andere Sachen; wer Nachmittags Zeit hat, erhält Thee oder Kaffee mit Kuchen. Nur das Schlafen ist elend, kasernenähnlich.
Solch eine Mittagsmahlzeit nennt man table d'hôte und sie kostet in einer Restauration Deutschlands 4 – 5 Mark. Ein amerikanischer