Sie. Henry Rider Haggard

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Sie - Henry Rider Haggard


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Sie sich vielleicht erinnern, wurden mein Mündel Leo Vincey und ich Ihnen vor einigen Jahren in Cambridge auf der Straße vorgestellt. Doch ich will mich kurz fassen und sogleich mein Anliegen vorbringen. Ich las vor kurzem mit großem Interesse ein Buch, in dem Sie ein Abenteuer im Inneren Afrikas schildern. Wie ich wohl annehmen darf, ist dieses Buch aus Dichtung und Wahrheit gemischt. Wie dem auch sei – es hat mich auf eine Idee gebracht. Aus dem beiliegenden Manuskript (welches ich Ihnen zusammen mit dem Skarabäus ›Königlicher Sohn der Sonne‹ und der Tonscherbe übersende) werden Sie ersehen, daß mein Mündel oder, besser gesagt, mein Adoptivsohn Leo Vincey und ich ebenfalls ein Abenteuer in Afrika erlebt haben, welches so viel wunderbarer als das von Ihnen erzählte ist, daß ich mich – offen gestanden – aus Furcht, Sie könnten mir nicht glauben, fast scheue, Sie damit vertraut zu machen. Wie Sie in dem Manuskript lesen werden, hatten wir eigentlich beschlossen, diese Geschichte nicht der Öffentlichkeit zu übergeben, solange wir noch am Leben sind. Ganz sicher wären wir diesem Entschluß auch treu geblieben, hätte sich nicht ein besonderer Umstand ergeben. Aus Gründen, die Sie nach Lektüre des Manuskriptes erraten werden, werden wir uns wieder auf eine Reise begeben, diesmal nach Zentralasien, wo, wenn überhaupt auf dieser Welt, wahre Weisheit zu finden ist, und wir nehmen an, daß unser Aufenthalt dort von sehr langer Dauer sein wird. Möglicherweise werden wir überhaupt nicht mehr zurückkehren. Unter diesen veränderten Umständen erhebt sich die Frage, ob wir berechtigt sind, einfach aus der Befürchtung heraus, wir könnten uns lächerlich machen oder auf Unglauben stoßen, der Menschheit einen Bericht über ein rätselhaftes Phänomen vorzuenthalten, welches nach unserer Überzeugung von unvergleichlicher Bedeutung ist. Leo und ich sind in dieser Beziehung verschiedener Ansicht, doch nach langen Diskussionen sind wir übereingekommen, Ihnen die Geschichte zu übersenden und die Entscheidung, ob sie veröffentlicht werden soll oder nicht, Ihnen zu überlassen, wobei nur ein einziger Vorbehalt gemacht sei: daß Sie unsere wirklichen Namen verschweigen und von unserer Identität nur so viel mitteilen, als die Glaubwürdigkeit der Erzählung erfordert.

       Was ist dem noch hinzuzufügen? Ich glaube, lediglich die nochmalige Versicherung, daß in beiliegendem Manuskript alles so geschildert ist, wie es sich tatsächlich zugetragen hat. Auch was ›Sie‹ betrifft, habe ich nichts weiter zu sagen. Von Tag zu Tag bedauern wir mehr, daß wir die Gelegenheit, unser Wissen durch diese wunderbare Frau bereichern zu lassen, nicht besser genützt haben. Wer mag sie gewesen sein? Wie kam sie wohl in die Höhlen von Kôr, und was war ihre wirkliche Religion? Wir haben keine Antwort darauf gefunden, und leider werden wir wohl auch keine mehr finden; zumindest nicht so bald. Diese und viele andere Fragen lassen mir keine Ruhe, doch was nützt es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen?

       Wollen Sie also diese Aufgabe übernehmen? Wir lassen Ihnen völlige Freiheit, und Ihr Lohn wird das Verdienst sein, der Menschheit die phantastischste – und dennoch wahre – Geschichte dargeboten zu haben, die sich auf Erden je zugetragen hat. Lesen Sie das Manuskript (von dem ich eine gute Abschrift für Sie angefertigt habe) und geben Sie mir bald Nachricht.

       Hochachtungsvoll Ihr sehr ergebener

       L. Horace Holly

      P.S. Sollten Sie sich zur Veröffentlichung entschließen und der Verkauf des Buches Gewinn abwerfen, so verfügen Sie nach Belieben; falls Ihnen jedoch ein Verlust entsteht, so sind meine Anwälte, die Herren Geoffrey und Jordan, angewiesen, Ihnen diesen zu ersetzen. Wir vertrauen die Scherbe, den Skarabäus und die Pergamente Ihrer Obhut an und werden sie vielleicht einmal zurückverlangen.

       L. H. H.«

      Dieser Brief setzte mich, wie man sich wohl denken kann, in nicht geringes Erstaunen, doch noch erstaunter war ich, als ich nach vierzehn Tagen, in denen andere dringende Arbeiten mich daran hinderten, das Manuskript endlich las. Ich beschloß sofort, mich der Sache anzunehmen, und teilte dies Mr. Holly mit, erhielt jedoch eine Woche später meinen Brief mit einem Begleitschreiben seiner Anwälte zurück, in dem mir diese mitteilten, daß ihr Klient und Mr. Leo Vincey bereits nach Tibet abgereist seien und keine Adresse hinterlassen hätten.

       Dies ist alles, was ich zu sagen habe. Über die Geschichte mag der Leser sich selbst ein Urteil bilden. Ich übergebe sie ihm, wie ich sie erhalten habe – abgesehen von einigen wenigen Änderungen, die ich vornahm, um die Identität der Akteure der Öffentlichkeit zu verbergen. Jeglichen persönlichen Kommentars will ich mich enthalten. Anfangs neigte ich zu der Ansicht, diese Geschichte einer in die Majestät ihrer ungezählten Jahre gehüllten Frau, auf welcher der Schatten der Ewigkeit ruht wie der dunkle Fittich der Nacht, sei eine gewaltige Allegorie, deren Sinn ich nicht zu enträtseln vermöge. Dann wieder glaubte ich, es sei vielleicht ein kühner Versuch, die Folgen faktischer Unsterblichkeit an einem sterblichen Wesen zu demonstrieren, das seine Kraft aus der Erde zieht, in dessen Brust jedoch Leidenschaften auflodern und erlöschen, wie sich in der unvergänglichen Welt, die es umgibt, die Winde und Fluten unaufhörlich erheben und senken. Doch später ließ ich auch diesen Gedanken fallen. Mir scheint diese Geschichte den Stempel der Wahrheit zu tragen. Ich muß es anderen überlassen, sie zu enträtseln, und so übergebe ich denn nach dieser kurzen, durch die Umstände gebotenen Einleitung der Welt den Bericht über Ayesha und die Höhlen von Kôr.

       Der Herausgeber

      P.S. Bei nochmaligem Durchlesen der Geschichte ist mir ein, wie ich glaube, sehr wesentlicher Punkt aufgefallen, auf den ich die Aufmerksamkeit des Lesers lenken möchte. Er wird bemerken, daß nichts an Leo Vinceys Charakter, soweit wir ihn kennenlernen, dazu angetan scheint, einen so mächtigen Geist wie den Ayeshas zu fesseln. Er ist nicht einmal – jedenfalls in meinen Augen – besonders interessant. Man sollte sogar meinen, daß es Mr. Holly unschwer hätte gelingen müssen, ihn auszustechen. Könnte es sein, daß auch in diesem Fall die Gegensätze sich anzogen, daß gerade die Fülle und der Reichtum ihres Geistes eine seltsame physische Reaktion auslösten, die sie der rein äußerlichen Schönheit eines Mannes verfallen ließ? Oder ist die wahre Erklärung die, daß Ayesha, die weiter und tiefer zu blicken vermochte als wir, den in der Seele ihres Geliebten verborgenen Keim und Funken der Größe entdeckte und erkannte, daß er, genährt durch ihre Lebenskraft, befruchtet durch ihr Wissen und bestrahlt von der Sonne ihres Wesens, aufblühen würde wie eine Blume und aufstrahlen wie ein Stern, um die Welt mit Duft und Licht zu erfüllen? Auch hierauf weiß ich keine Antwort, sondern muß es dem Leser überlassen, sich anhand der von Mr. Holly nachstehend geschilderten Tatsachen sein eigenes Urteil zu bilden.

       1 Ein Besucher

      Es gibt Ereignisse, die sich in allen Einzelheiten so tief dem Gedächtnis einprägen, daß man sie nie vergißt. Mir ergeht es 59 mit dem folgenden, das mir so klar vor Augen steht, als hätte es sich erst gestern zugetragen.

       Es ist in diesem Monat etwas über zwanzig Jahre her, daß ich, Ludwig Horace Holly, eines Abends in meinem Zimmer in Cambridge saß und mir über eine mathematische Aufgabe den Kopf zerbrach. Ich wollte in einer Woche mein Fellowship-Examen ablegen, und mein Tutor und meine Kollegen waren überzeugt, daß ich es glänzend bestehen würde. Müde und erschöpft schob ich schließlich mein Buch beiseite, ging zum Kamin und stopfte mir eine Pfeife. Auf dem Kaminsims stand eine brennende Kerze, hinter der ein langer schmaler Spiegel hing, und als ich mir die Pfeife anzünden wollte, fiel mein Blick auf mein Bild darin. Ich hielt inne und betrachtete es nachdenklich. Das Streichholz brannte weiter, bis es mir die Finger versengte und ich es wegwerfen mußte; doch ich blieb stehen und starrte, tief in Gedanken versunken, auf mein Spiegelbild.

       »Hoffentlich«, sagte ich schließlich laut, »werde ich es einmal mit dem, was in meinem Kopf drin ist, zu etwas bringen, denn mit seinem Äußeren wird wohl kaum viel auszurichten sein.«

       Diese Bemerkung dürfte dem Leser ziemlich unverständlich sein, und deshalb möchte ich hinzufügen, daß ich damit auf meine körperlichen Mängel anspielte. Die meisten Männer im Alter von zweiundzwanzig Jahren besitzen wenigstens in mehr oder weniger starkem Grad die Anmut der Jugend, doch mir war selbst diese versagt. Klein und untersetzt, mit einer unförmig breiten Brust, langen mageren Armen, plumpen Gesichtszügen, tiefliegenden grauen Augen, einer niedrigen, halb von dichtem schwarzen Haar überwucherten Stirn – so sah ich vor einem Vierteljahrhundert aus, und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Ich war gebrandmarkt wie Kain – von


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