Sie. Henry Rider Haggard
Читать онлайн книгу.Äußeres bedachten Studienkollegen, so stolz sie auf meine körperliche Kraft und Gewandtheit und meine sportlichen Leistungen waren, sich nur ungern mit mir zusammen sehen ließen. War es ein Wunder, daß ich menschenscheu und schwermütig wurde, daß ich mich zurückzog, am liebsten allein arbeitete und keine Freunde hatte – oder zumindest nur einen? Die Natur hatte mich dazu bestimmt, einsam zu leben und nur an ihrer Brust Trost suchen zu dürfen. Frauen stieß mein Anblick ab. Erst eine Woche zuvor hatte mich eine, als sie glaubte, ich könne es nicht hören, ein Scheusal genannt und geäußert, ich hätte sie davon überzeugt, daß der Mensch vom Affen abstamme. Nur einmal hatte eine Frau Neigung zu mir geheuchelt, und ich hatte sie mit meiner ganzen aufgestauten Zärtlichkeit überschüttet. Doch dann erhielt ein anderer eine kleine Erbschaft, auf die ich gerechnet hatte, und sie wandte sich von mir ab. Ich flehte sie an wie nie zuvor oder danach einen anderen Menschen, mich nicht zu verlassen, denn ich war vernarrt in ihr süßes Gesicht und liebte sie von ganzem Herzen; und zur Antwort führte sie mich schließlich vor einen Spiegel, stellte sich neben mich und schaute hinein.
»Nun«, sagte sie, »wenn ich schön bin, was sind dann wohl Sie?«
Und damals war ich erst zwanzig Jahre alt.
So stand ich also da und starrte mich an, und eine irgendwie grimmige Genugtuung über meine Einsamkeit erfüllte mich, hatte ich doch weder Vater noch Mutter, noch Geschwister; und plötzlich klopfte es an der Tür.
Ich lauschte einen Augenblick, bevor ich öffnete, denn es war fast schon Mitternacht, und ich hatte keine Lust, noch jemanden zu empfangen. Ich hatte nur einen einzigen Freund auf dem College, ja auf der ganzen Welt – vielleicht war er es.
Da hörte ich den Betreffenden vor der Tür husten, und weil ich diesen Husten kannte, öffnete ich sogleich.
Ein großer schlanker Mann von etwa dreißig Jahren, dessen Gesicht die Spuren einstiger großer Schönheit trug, stürzte herein, keuchend unter der Last eines eisernen Kastens, den er an einem Griff in der rechten Hand trug. Er stellte den Kasten auf den Tisch und bekam einen so schrecklichen Hustenanfall, daß er ganz purpurrot im Gesicht wurde. Schließlich sank er auf einen Sessel und begann Blut zu speien. Ich schenkte etwas Whisky in ein Glas und reichte es ihm. Er trank und schien sich ein wenig zu erholen.
»Wie kannst du mich nur so lange draußen in der Kälte stehen lassen?« sagte er vorwurfsvoll. »Du weißt doch, Zugluft kann der Tod für mich sein.«
»Ich hatte doch keine Ahnung, daß du es bist«, erwiderte ich. »Du kommst sehr spät.«
»Ja, und es wird wohl mein letzter Besuch sein«, sagte er mit einem unheimlichen Lächeln. »Mit mir geht's zu Ende, Holly. Den morgigen Tag werde ich nicht mehr erleben.«
»Unsinn!« sagte ich. »Ich werde gleich einen Arzt holen.«
Er winkte ungehalten ab. »Es ist kein Unsinn; doch ich will keinen Arzt. Ich habe Medizin studiert und weiß, wie es mit mir steht. Mir kann kein Arzt mehr helfen. Meine letzte Stunde ist gekommen! Seit einem Jahr schon lebe ich nur noch durch ein Wunder. Jetzt höre mir einmal zu – so aufmerksam, wie du noch nie jemandem zugehört hast, denn ich werde meine Worte nicht wiederholen können. Wir sind seit zwei Jahren Freunde; sage mir, was du von mir weißt.«
»Ich weiß, daß du reich bist und daß du aus einer Laune heraus dein Studium in einem Alter begonnen hast, in dem die meisten anderen damit fertig sind. Ich weiß, daß du verheiratet warst und deine Frau gestorben ist und daß du mein bester, ja mein einziger Freund bist.«
»Weißt du, daß ich einen Sohn habe?«
»Nein.«
»Er ist fünf Jahre alt. Meine Frau ist bei seiner Geburt gestorben, und deshalb habe ich seinen Anblick nie ertragen können. Holly, wenn du zustimmst, möchte ich dich zu seinem Vormund machen.«
Ich sprang vor Überraschung fast von meinem Stuhl auf. »Mich?« rief ich.
»Ja, dich. Ich habe dich nicht zwei Jahre lang vergeblich studiert. Seit ich weiß, daß ich nicht mehr lange leben werde, habe ich jemanden gesucht, dem ich den Jungen und dies hier« – er klopfte auf den eisernen Kasten – »anvertrauen kann. Du bist genau der Richtige, Holly; denn du bist wie ein starker Baum – im Innern kräftig und kerngesund. Hör zu: Der Junge ist der letzte Sproß einer der ältesten Familien der Welt. Vielleicht kommt dir das unglaubwürdig vor, doch eines Tages wirst du den über jeden Zweifel erhabenen Beweis dafür in Händen haben, daß mein fünfundsechzigster oder sechsundsechzigster direkter Vorfahre, ein gebürtiger Grieche namens Kallikrates* , ein ägyptischer Isispriester war. Sein Vater war einer der von Hak-Hor, einem mendesischen Pharao der neunundzwanzigsten Dynastie, angeworbenen griechischen Söldner; sein Großvater oder Urgroßvater der von Herodot erwähnte Kallikrates**. Um das Jahr 339 v. Chr., als das Pharaonenreich unterging, brach dieser Kallikrates sein Priestergelübde und floh mit einer Prinzessin königlichen Blutes, die ihn liebte, aus Ägypten. Ihr Schiff strandete an der afrikanischen Küste, in der Gegend der heutigen Delagoa-Bucht oder etwas nördlich davon. Die ganze Besatzung kam ums Leben; nur er und seine Frau wurden gerettet. Sie erlitten viel Ungemach, wurden aber schließlich von der mächtigen Königin eines wilden Volkes aufgenommen, einer weißen Frau von ungewöhnlicher Schönheit, die unter Umständen, auf die ich jetzt nicht näher eingehen kann, über welche dich jedoch eines Tages der Inhalt dieses Kastens in Kenntnis setzen wird, schließlich meinen Vorfahren Kallikrates ermordete. Seine Frau konnte jedoch – wie, weiß ich nicht – nach Athen entkommen, und sie gebar bald darauf ein Kind, dem sie den Namen Tisisthenes gab, das heißt ›der mächtige Rächer‹. Aus unbekannten Gründen übersiedelte die Familie fünfhundert oder mehr Jahre später nach Rom, wo die meisten ihrer Mitglieder, wahrscheinlich um den im Namen Tisisthenes ausgedrückten Rachegedanken zu erhalten, den Beinamen Vindex, ›der Rächer‹, annahmen. Dort blieben sie weitere fünfhundert Jahre bis um das Jahr 770, in dem Karl der Große in die Lombardei einfiel, wo sie damals ansässig waren. Das Oberhaupt der Familie scheint sich dem großen Kaiser angeschlossen zu haben; es folgte ihm über die Alpen und ließ sich schließlich in der Bretagne nieder. Acht Generationen später kam sein direkter Nachkomme unter der Regentschaft Edwards des Bekenners nach England und brachte es dort unter Wilhelm dem Eroberer zu Macht und Ansehen. Von damals bis zum heutigen Tage kann ich meine Herkunft lückenlos zurückverfolgen. Die Vinceys – dazu wurde der Name verstümmelt, nachdem die Familie sich in England niedergelassen hatten – haben sich übrigens in keiner Weise besonders ausgezeichnet oder hervorgetan. Teils waren sie Soldaten, teils Kaufleute – im großen und ganzen angesehene, doch durchaus unbedeutende Bürger. Von der Zeit Karls II. bis zum Beginn dieses Jahrhunderts waren sie Kaufleute. Um 1790 setzte sich mein Großvater, der eine Brauerei besaß und damit ein ansehnliches Vermögen erwarb, zur Ruhe. Er starb 1821, und mein Vater, der ihm folgte, brachte den größten Teil des Geldes durch. Als er vor zehn Jahren starb, hinterließ er mir eine jährliche Rente von etwa zweitausend Pfund. Ich unternahm damals in Zusammenhang damit« – er deutete auf den eisernen Kasten – »eine Expedition, die leider erfolglos blieb. Auf dem Rückweg bereiste ich Südeuropa und kam auch nach Athen. Dort lernte ich meine geliebte Frau kennen, die wohl, genau wie mein alter griechischer Vorfahre, den Beinamen ›die Schöne‹ verdient hätte. Ich heiratete sie, und ein Jahr später, bei der Geburt meines Sohnes, ist sie gestorben.«
Er schwieg eine Weile, den Kopf in die Hand gestützt. Dann fuhr er fort:
»Meine Heirat hatte mich von einem Plan abgelenkt, auf den ich jetzt nicht näher eingehen kann. Ich habe keine Zeit, Holly – keine Zeit! Wenn du die Vormundschaft übernimmst, wirst du eines Tages alles darüber erfahren. Nach dem Tod meiner Frau beschäftigte ich mich wieder mit diesem Plan. Doch zuerst schien es mir notwendig, mir eine genaue Kenntnis der orientalischen Sprachen anzueignen, vor allem des Arabischen. Zu diesem Zweck kam ich hierher, doch bald bin ich erkrankt, und nun ist es aus mit mir.« Und als wollte er diese Worte bekräftigen, verfiel er in einen neuen schrecklichen Hustenanfall.
Ich gab ihm noch einen Schluck Whisky, und nachdem er sich ein wenig erholt hatte, fuhr er fort:
»Ich habe meinen Sohn Leo nicht gesehen, seit er ein ganz kleines Kind war. Ich konnte seinen Anblick nicht ertragen. Er soll ein hübscher, aufgeweckter Junge sein. In diesem Brief« – er zog ein an mich adressiertes Kuvert aus der Tasche – »habe ich