Sie. Henry Rider Haggard

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Sie - Henry Rider Haggard


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er seinen akademischen Titel – einen recht respektablen, wenn auch nicht sehr hohen. Damals erzählte ich ihm zum erstenmal von seiner Geschichte und dem auf ihn harrenden Geheimnis. Er war natürlich sehr neugierig, doch ich erklärte ihm, seine Neugier noch nicht befriedigen zu können. Damit ihm die Zeit schneller verging, schlug ich ihm vor, die Rechte zu studieren. Er war damit einverstanden und hörte die Vorlesungen in Cambridge.

       Ich hatte seinetwegen nur eine Sorge: Fast jedes junge Mädchen, das ihm über den Weg lief, verliebte sich in ihn, und daraus entstanden allerlei Schwierigkeiten, auf die ich hier jedoch nicht näher eingehen möchte. Ich muß sagen, daß er sich im allgemeinen sehr korrekt benahm.

       So verging die Zeit, und schließlich erreichte er seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag, an dem diese seltsame und in mancher Hinsicht unheimliche Geschichte beginnt.

       3 Die Amenartasscherbe

      Am Tag vor Leos fünfundzwanzigstem Geburtstag fuhren wir nach London und holten von der Bank den vor zwanzig Jahren deponierten Kasten ab. Der gleiche Angestellte, dem ich ihn damals übergeben hatte, händigte ihn mir aus. Er erinnerte sich genau, wo er ihn untergestellt hatte. Hätte er das nicht mehr gewußt, so wäre es ihm schwergefallen, ihn zu finden, denn er war über und über mit Spinnweben bedeckt.

       Am Abend kehrten wir mit unserer kostbaren Last nach Cambridge zurück. Wir taten beide in dieser Nacht vor Aufregung kaum ein Auge zu, und schon in aller Frühe erschien Leo im Schlafrock in meinem Zimmer und bat mich, sofort ans Werk zu gehen. Ich fand diese Neugier unziemlich und sagte ihm, der Kasten habe zwanzig Jahre lang gewartet, und so könne er wohl jetzt auch noch bis nach dem Frühstück warten. Um Punkt neun Uhr setzten wir uns an den Frühstückstisch, und ich war so in Gedanken versunken, daß ich statt seines Zuckerwürfels ein Stück Schinken in Leos Tee warf. Auch Job wurde von der Erregung angesteckt und zerbrach den Henkel meiner wertvollen Teetasse aus Sevres-Porzellan, aus der Marat seinen Tee getrunken haben soll, bevor er im Bad erstochen wurde.

       Endlich war abgeräumt. Job holte auf meine Anweisung den Kasten, stellte ihn behutsam, als traue er der ganzen Sache nicht recht, auf den Tisch und wollte das Zimmer verlassen.

       »Warte, Job«, sagte ich. »Wenn Mr. Leo nichts dagegen hat, so hätte ich gern einen unparteiischen Zeugen dabei, der den Mund halten kann.«

       »Einverstanden, Onkel Horace«, erwiderte Leo, der mich seit seiner Kindheit ›Onkel‹ zu nennen pflegte.

       Job salutierte scherzhaft, indem er sich mit der Hand an die Schläfe tippte.

       »Verschließe die Tür, Job«, sagte ich, »und hole meine Dokumentenmappe.«

       Er brachte sie, und ich entnahm ihr die Schlüssel, die mir Vincey, Leos armer Vater, in der Nacht vor seinem Tode übergeben hatte. Es waren drei – der größte ein verhältnismäßig moderner Schlüssel, der zweite uralt und der dritte ein ganz merkwürdiges Ding, wie ich es nie zuvor gesehen hatte: er bestand aus massivem Silber, hatte eine als Griff dienende Querstange, in die mehrere Kerben eingeschnitten waren, und ähnelte so einem vorsintflutlichen Schraubenschlüssel.

       »Seid ihr bereit?« fragte ich, als wollte ich eine Mine sprengen. Da beide schwiegen, nahm ich den großen Schlüssel, strich etwas Salatöl auf den Bart, steckte ihn, nachdem meine zitternde Hand zweimal danebengetroffen hatte, ins Schloß und drehte ihn herum. Leo beugte sich vor, packte mit beiden Händen den Deckel und klappte ihn auf, was ihn einige Mühe kostete, da offenbar die Scharniere eingerostet waren. Ein zweiter, ebenfalls dick mit Staub bedeckter Kasten stand darin. Wir nahmen ihn ohne Schwierigkeiten heraus und säuberten ihn mit einer Kleiderbürste.

       Er schien aus Ebenholz oder einem anderen ähnlich festen schwarzen Holz zu bestehen und war auf allen Seiten von schmalen Eisenbändern umschlossen. Da das schwere Holz an manchen Stellen schon ganz morsch und bröcklig war, mußte er ungeheuer alt sein.

       »Nun diesen«, sagte ich und führte den zweiten Schlüssel ein.

       Job und Leo beugten sich in atemloser Spannung vor. Der Schlüssel drehte sich, ich hob den Deckel und stieß einen Schrei aus – kein Wunder, denn in dem Ebenholzkasten stand ein wunderbares Silberkästchen, etwa zwölf Zoll breit und acht Zoll hoch. Es schien eine ägyptische Arbeit zu sein, denn die vier Füße stellten Sphinxe dar, und auch der gewölbte Deckel trug eine Sphinx. Das Kästchen war natürlich infolge seines hohen Alters voller Flecken und Beulen, doch ansonsten recht gut erhalten.

       Ich hob es heraus, stellte es auf den Tisch, steckte unter tiefem Schweigen den merkwürdigen Silberschlüssel hinein und drehte ihn vorsichtig hin und her, bis das Schloß endlich nachgab und das Kästchen offen vor uns stand. Es war bis zum Rand mit Schnitzeln aus irgendeinem braunen Material gefüllt, das eher Pflanzenfasern als Papier glich. Als ich eine etwa drei Zoll dicke Schicht entfernte, stieß ich auf einen Brief in einem gewöhnlichen modernen Umschlag, auf dem in der Schrift meines Freundes Vincey stand:

      »An meinen Sohn Leo, falls er dieses Kästchen öffnet.«

      Ich gab den Brief Leo, der einen Blick auf den Umschlag warf, ihn auf den Tisch legte und mir bedeutete fortzufahren.

       Als nächstes kam ein sorgfältig zusammengerolltes Pergament zum Vorschein. Ich rollte es auf und sah, daß es ebenfalls von Vincey beschrieben war und die Überschrift trug: ›Übersetzung der griechischen Unzialschrift auf der Scherbe.‹ Nachdem ich es neben den Brief gelegt hatte, nahm ich eine zweite, stark vergilbte und zerknitterte Pergamentrolle heraus. Als ich sie aufrollte, stellte ich fest, daß es gleichfalls eine Übersetzung der griechischen Unzialschrift war, jedoch in Mönchslatein; Stil und Form der Lettern deuteten darauf hin, daß sie aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts stammten. Unter dieser Rolle lag auf einer zweiten Schicht des faserigen Materials ein harter, schwerer, in gelbe Leinwand gehüllter Gegenstand. Langsam und behutsam entfernten wir das Leinen und fanden darunter eine sehr große, ohne Zweifel überaus alte Scherbe von schmutziggelber Farbe. Sie schien von einer mittelgroßen Amphora zu stammen und war zehneinhalb Zoll lang, sieben Zoll breit, etwa einen viertel Zoll dick und auf der Außenseite dicht mit einer stellenweise verblichenen, doch größtenteils gut lesbaren griechischen Unzialschrift bedeckt, die mit größter Sorgfalt ausgeführt war, offenbar mittels einer Rohrfeder, deren sich die Alten häufig zu bedienen pflegten. Irgendwann vor langer Zeit war dieses wunderbare Fragment einmal in zwei Stücke zerbrochen und mit Zement und acht langen Nieten wieder zusammengefügt worden. Auch auf der Innenseite befanden sich zahlreiche Inschriften, die jedoch von der verschiedensten Art waren, also anscheinend von verschiedenen Händen und aus verschiedenen Zeiten stammten.

       »Ist noch mehr drin?« flüsterte Leo aufgeregt.

       Ich tastete herum und holte etwas Hartes hervor, das in einen kleinen Leinenbeutel eingenäht war. Darin befanden sich ein hübsches Miniaturbild aus Elfenbein und ein kleiner schokoladenbrauner Skarabäus, der diese Symbole trug:

      Wie wir später feststellten, bedeuteten sie ›Suten se Ra‹, daß heißt: ›Königlicher Sohn Ras oder der Sonne.‹ Das Miniaturbild stellte Leos Mutter dar – eine hübsche dunkeläugige Griechin. Auf der Rückseite stand in Vinceys Handschrift: »Mein geliebtes Weib.«

       »Das ist alles«, sagte ich.

       »Gut«, erwiderte Leo und legte das Bild, das er zärtlich betrachtet hatte, hin. »Nun laß uns den Brief lesen.« Ohne Zögern erbrach er das Siegel und las uns folgendes vor:

       »Mein Sohn Leo! Wenn Du diesen Brief öffnest, hast Du das Mannesalter erreicht, und ich bin schon so lange tot, daß fast alle, die mich kannten, mich vergessen haben werden. Bedenke jedoch, wenn Du dies liest, daß ich gewesen bin und – wer weiß? – vielleicht noch bin, daß ich Dir durch diesen Brief über den Abgrund des Todes die Hand reiche und aus der Stille des Grabes zu Dir spreche. Obwohl ich tot bin und Du Dich meiner nicht erinnerst, bin ich in der Stunde, da Du dieses liest, dennoch bei Dir. Seit Deiner Geburt bis zum heutigen Tage habe ich Dein Gesicht kaum gesehen. Vergib mir das, mein Sohn. Dein Leben kostete das Leben einer Frau, die ich von ganzem Herzen liebte, und der Schmerz darüber erfüllt mich heute noch. Wäre ich am Leben geblieben, so hätte ich dieses törichte Gefühl gewiß überwunden; doch es ist mir nicht


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