Sie. Henry Rider Haggard

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Sie - Henry Rider Haggard


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übernehmen?«

       »Dazu müßte ich erst wissen, worin sie besteht«, erwiderte ich.

       »Du sollst den Jungen zu dir nehmen, bis er fünfundzwanzig Jahre alt ist, und ihn keinesfalls auf eine Schule schicken. An seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag endet deine Vormundschaft. Dann wirst du mit diesen Schlüsseln, die ich dir hiermit übergebe« – er legte sie auf den Tisch –, »den eisernen Kasten öffnen und ihn den Inhalt lesen lassen. Er soll dann entscheiden, ob er die Reise unternehmen will oder nicht. Wohlgemerkt, er ist in keiner Weise dazu verpflichtet. Und nun zu den Bedingungen. Mein gegenwärtiges Einkommen beträgt zweitausendzweihundert Pfund im Jahr. Die Hälfte davon habe ich dir – vorausgesetzt, du übernimmst die Vormundschaft – auf Lebenszeit vermacht. Das heißt, tausend Pfund davon sind für dich selbst als Entschädigung für deine Bemühungen bestimmt und hundert Pfund jährlich für den Unterhalt des Jungen. Der Rest soll liegenbleiben und sich verzinsen, damit Leo, wenn er sich mit fünfundzwanzig Jahren entschließen sollte, die Reise zu unternehmen, das dafür nötige Geld zur Verfügung steht.«

       »Und wenn ich früher sterben sollte?« fragte ich. »Dann muß das Vormundschaftsgericht sich seiner annehmen. Du darfst nur nicht vergessen, ihm den Kasten testamentarisch zu vermachen. Ich bitte dich nochmals, Holly – schlage es mir nicht ab. Glaube mir, es wird nicht zu deinem Schaden sein. Du bist dieser Welt nicht gewachsen, mein Lieber. In ein paar Wochen wirst du dein Fellowship-Examen machen, und das Einkommen, das du dann erhalten wirst, wird es dir, zusammen mit dem Geld, das ich dir vermache, ermöglichen, ganz der Wissenschaft zu leben und dich deinem geliebten Sport zu widmen.«

       Er hielt inne und sah mich erwartungsvoll an, doch ich zögerte noch immer. Sein Ersuchen schien mir doch gar zu seltsam. »Tu's mir zuliebe, Holly. Wir sind doch gute Freunde, und ich habe keine Zeit mehr, andere Vorkehrungen zu treffen.«

       »Also schön«, sagte ich. »Ich bin einverstanden – vorausgesetzt, daß in diesem Brief nichts steht, was mich umstimmen könnte.«

       »Ich danke dir von ganzem Herzen, Holly. Mache dir deshalb keine Sorgen. Schwöre mir bei Gott, daß du dem Jungen ein guter Vater sein und die darin niedergelegten Anweisungen befolgen wirst.«

       »Ich schwöre es«, sagte ich feierlich.

       »Gut. Aber denke daran, daß ich eines Tages vielleicht Rechenschaft von dir fordern werde, denn wenn ich auch tot und vergessen sein werde, so werde ich dennoch leben. Glaube mir, Holly, es gibt keinen Tod, nur eine Wandlung, und ich bin überzeugt, daß sich auch hier auf Erden diese Wandlung unter gewissen Umständen unendlich weit hinausschieben läßt.« Und wieder bekam er einen furchtbaren Hustenanfall.

       »Ich muß jetzt gehen«, sagte er. »Den Kasten habe ich dir ausgehändigt, und das Testament, demzufolge man dir den Jungen übergeben wird, befindet sich unter meinen Papieren. Du wirst reich entschädigt, Holly, und ich weiß, du bist ein Ehrenmann – solltest du jedoch deinen Eid brechen, bei Gott, so wird mein Geist dich heimsuchen.«

       Ich schwieg, denn ich war zu bestürzt, um ein Wort hervorzubringen.

       Er nahm die Kerze, hob sie hoch und betrachtete sich im Spiegel. Sein Gesicht war einst schön gewesen, doch die Krankheit hatte es entstellt. »Futter für die Würmer«, sagte er. »Ein merkwürdiger Gedanke, daß ich in wenigen Stunden steif und kalt sein werde. Ach, Holly, das Leben ist all die Mühsal nicht wert, es sei denn, man liebt – das meine wenigstens war es nicht. Vielleicht wird mein Sohn Leo, wenn er genügend Glauben und Mut hat, das Glück finden. Leb wohl, mein Freund!« Und in einem plötzlichen Anfall von Zärtlichkeit umarmte er mich und küßte mich auf die Stirn, bevor er zur Tür ging.

       »Nun warte doch, Vincey«, rief ich. »Wenn du wirklich so krank bist, wie du glaubst, solltest du mich doch lieber einen Arzt holen lassen.«

       »Nein, nein«, sagte er ernst. »Versprich mir, daß du das nicht tun wirst. Ich werde sterben, und wie eine vergiftete Ratte will ich allein sterben.«

       »Was für ein Unsinn«, erwiderte ich. Er sagte lächelnd: »Vergiß nichts«, und ging hinaus. Ich setzte mich, rieb mir die Augen und fragte mich, ob ich dies alles nur geträumt habe. Doch da diese Annahme absurd war, verwarf ich sie und erwog, ob Vincey vielleicht betrunken gewesen war. Ich wußte, er war sehr krank; dennoch schien es mir ausgeschlossen, daß sein Befinden so schlecht war, daß er mit solcher Bestimmtheit annehmen konnte, er werde die Nacht nicht überleben. Wenn er dem Tode so nahe war, dann hätte er wohl kaum so herumgehen und den schweren Eisenkasten tragen können. Und auch seine Geschichte schien mir, als ich darüber nachdachte, gänzlich unglaublich, denn ich war damals noch nicht alt genug, um zu wissen, daß auf dieser Welt viele Dinge geschehen, die der Mensch mit seinem begrenzten Verstand nicht fassen kann und deshalb für unmöglich hält. Zu dieser Einsicht bin ich erst vor kurzem gelangt. War es möglich, daß ein Mann einen fünfjährigen Sohn besaß, den er seit seiner frühesten Kindheit nicht gesehen hatte? Nein. War es möglich, daß er seinen eigenen Tod mit solcher Bestimmtheit vorhersehen konnte? Nein. War es möglich, daß er seinen Stammbaum bis auf mehr als drei Jahrhunderte vor Christus zurückverfolgen konnte, daß er einem Studienkollegen plötzlich die unumschränkte Vormundschaft über sein Kind anvertraute und ihm sein halbes Vermögen vermachte? Ganz gewiß nicht. Doch wenn dem so war, was hatte dann das Ganze zu bedeuten? Und was befand sich in dem versiegelten eisernen Kasten?

       Die ganze Sache verwirrte und beunruhigte mich dermaßen, daß ich es schließlich nicht länger aushielt und beschloß, eine Nacht darüber zu schlafen. Ich sprang also auf, verwahrte die von Vincey mir übergebenen Schlüssel und den Brief in meiner Dokumentenmappe, sperrte den eisernen Kasten in einen Reisekoffer, ging zu Bett und schlief rasch ein.

       Mir schien, als hätte ich erst wenige Minuten geschlafen, als mich jemand weckte, indem er meinen Namen rief. Ich fuhr auf und rieb mir die Augen – es war heller Tag, acht Uhr schon.

       »Was ist denn mit dir los, John?« fragte ich den Collegediener, der für Vincey und mich die Aufwartung besorgte. »Du blickst ja drein, als hättest du ein Gespenst gesehen!«

       »Ja, Sir, das habe ich«, erwiderte er, »... noch viel schlimmer, ich habe einen Toten gesehen. Soeben wollte ich Mr. Vincey wie immer wecken, und er liegt kalt und tot in seinem Bett!«

       2 Die Jahre vergehen

      Der Tod des armen Vincey rief auf dem College natürlich große Aufregung hervor; doch da man wußte, daß er sehr krank gewesen war, und der Arzt ohne Bedenken den Totenschein ausstellte, leitete man keine weitere Untersuchung ein. Man war damals in dieser Hinsicht nicht so genau wie heute; ja man empfand allgemein eine gewisse Abneigung dagegen, da sie meistens einen Skandal hervorrief. Unter diesen Umständen und vor allem, da niemand Fragen an mich stellte, fühlte ich mich nicht verpflichtet, über die Unterredung in der Nacht vor Vinceys Tod nähere Angaben zu machen, und sagte lediglich, er habe mich – wie so oft – nur kurz besucht. Am Tage der Beerdigung erschien ein Anwalt aus London, folgte den sterblichen Überresten meines Freundes zum Grab und reiste dann mit seinen sämtlichen Papieren und Habseligkeiten wieder ab – ausgenommen natürlich den Eisenkasten, den Vincey mir übergeben hatte. Eine Woche lang hörte ich nichts von der Sache, was mir ganz recht war, denn ich stand ja vor meinem Examen, ein Umstand, der mich auch daran gehindert hatte, am Begräbnis teilzunehmen oder mit dem Anwalt zu sprechen. Endlich war das Examen überstanden, und ich ging nach Hause und sank mit dem befriedigenden Gefühl, recht gut abgeschnitten zu haben, in einen Sessel.

       Doch bald schon wandten sich meine Gedanken, befreit von dem Druck der letzten Tage, den Geschehnissen in der Nacht vor Vinceys Tod zu, und wieder fragte ich mich, was das alles wohl zu bedeuten hatte, ob ich wohl noch irgend etwas von dieser Angelegenheit hören würde, und wenn nicht, was ich dann mit diesem merkwürdigen Eisenkasten anfangen sollte. So saß ich da und sinnierte und grübelte, bis mir von alldem ganz wirr im Kopf wurde: der geheimnisvolle mitternächtliche Besuch, die so schnell bewahrheitete Todesprophezeiung, der feierliche Eid, den ich geleistet hatte, und Vinceys Andeutung, er werde in einer anderen Welt Rechenschaft von mir verlangen. Hatte er womöglich Selbstmord begangen? Es sah fast so aus. Und von welcher Reise hatte er gesprochen? Das Ganze war so unheimlich, daß ich, ansonsten keineswegs nervös oder allzu leicht durch Dinge, welche


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