Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens

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Skizzen aus dem Londoner Alltag - Charles Dickens


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herab in die Halle, wo ich ganz spät in der Nacht in aller Bequemlichkeit saß, und sagte, während er mir eine halbe Krone in die Hand drückte, zu mir: ›Hier, mein Freund, lauft und besorgt mir eine Kutsche – wollt Ihr?‹ Ich glaubte, es sei ein abgemachter Handel, um mich aus dem Hause zu schaffen, und war gerade im Begriffe, es ihm frei heraus zu sagen, als der Hausherr (der an Alles dachte) schnell voll Angst die Treppe herabkam. ›Bung,‹ rief er, sich anstellend, als ob er sehr aufgebracht wäre. – ›Sir,‹ erwiederte ich. – ›Was zum Teufel seht Ihr nicht nach dem Silberzeuge?‹ – ›Ich wollte ihn so eben nach einer Kutsche fortschicken,‹ sagte der andere Herr. – ›Und ich wollte so eben sagen . . .‹ fing ich an; – aber der Hausherr unterbrach mich – ›Schicken Sie jeden Andern, lieber Freund,‹ sagte er und schob mich nach der Hausflur, um mich aus dem Wege zu bringen; ›allein diesem Manne habe ich die Aufsicht über mein Silbergeschirr und alle Sachen von Werth anvertraut, und ich kann durchaus nicht zugeben, daß er das Haus verlasse. Bung, Gott verd . . . . Euch, wenn Ihr nicht augenblicklich geht und die Gabeln im Frühstückzimmer zählt.‹ Sie können sich einbilden, daß ich mich lachend davon schlich und Alles in der Ordnung fand. – Das Geld wurde am andern Tage bezahlt und für mich etwas dazu gelegt, und dieß war das beste Geschäft, das ich (und ich vermuthe auch der alte Fixem) je gemacht hatte.

      »Doch dieß war die Lichtseite des Gemäldes, Sir,« fuhr Mr. Bung fort, indem er den listigen Blick und das strahlende Angesicht, mit dem er die vorstehende Anekdote erzählte, ablegte, »und es schmerzt mich, sagen zu müssen, daß es die Seite ist, die man im Vergleich mit der Schattenseite leider nur zu selten zu sehen bekommt. Die Höflichkeit, die man sich durch Geld kaufen kann, trifft man selten bei Denen, die keines haben. Selbst darin liegt ein Trost, eine Verlegenheit dadurch zu heben, daß man sich eine andere für die Zukunft bereitet; doch auch dieser Trost bleibt ganz armen Leuten fremd. – Ich wurde einst in ein Haus in George's-Yard unten – jener kleinen schmutzigen Sackgasse hinter der Gasbeleuchtungs-Anstalt – gesendet; ach du mein Himmel, ich werde nie das Elend jener Leute vergessen. Es war eine Pfändung wegen einer Halbjahrsmiethe von zwei Pfund und zehn Schillingen, glaube ich. Es waren blos zwei Zimmer im Hause, und da es keine Hausflur hatte, so mußten die Bewohner des obern Zimmers beim Ein- und Ausgehen – was während meines Auftrags ungefähr viermal in jeder Viertelstunde vorkam – immer durch das untere Wohnzimmer gehen, und so oft sie durchkamen, jammerten sie fürchterlich, denn auch ihnen war Alles mit Beschlag belegt und zum Verkaufe bestimmt. Das Wenige, was vorhanden war, befand sich aber im elendesten Zustande. An der Vorderseite des Hauses war ein kleines Stückchen Garten, aber im Zustande völliger Vernachlässigung, mit einem Kohlenschlackenweg, der zur Hausthüre führte, und auf der andern Seite stand ein unbedecktes Regenwasserfaß. Ein aus Lumpen zusammengeflickter Vorhang hing vor dem Fenster an einem schlaffen Bindfaden, und ein kleines dreieckigtes, zerbrochenes Spiegelglas war an der Wand angebracht. Ich glaube aber nicht, daß die Leute je so viel Muth hatten, hineinzublicken, denn sie sahen so erbärmlich aus, daß sie es schwerlich ein zweites Mal gewagt haben würden, wenn sie je den Schrecken überlebt hätten, es einmal gethan zu haben. Da waren ferner zwei oder drei Stühle, die in ihren besten Tagen acht Pence oder einen Schilling das Stück werth gewesen sein mochten, ein kleiner tannener Tisch, ein alter Brodschrank mit Nichts darin, und eine jener Bettstellen, die nur halb aufgeschlagen sind, wo die Bodenbrettchen so weit heraussehen, daß man sich daran den Kopf zerstoßen oder den Hut aufhängen kann. Von Betten und Weißzeug war keine Rede. Endlich war noch ein alter Sack vorhanden, der die Stelle einer Bettdecke vertrat und vor dem Kamin lag; vier oder fünf Kinder krabbelten darauf und auf dem Sande des Bodens herum. Die Execution war blos eingelegt worden, um die Leute aus dem Hause zu bringen, denn es war nicht einmal so viel zu nehmen, um die Kosten zu bezahlen. Und in diesem Hause mußte ich drei Tage lang bleiben, obgleich auch dieß eine leere Form war, da ich natürlich so gut als Jedermann wußte, daß sie das Geld nie auftreiben konnten. Auf einem der Stühle, an der Stelle, wo das Feuer eigentlich hätte sein sollen, saß eine alte Frau – die häßlichste und schmutzigste, die ich je sah – die sich während des Sitzens immerfort rückwärts und vorwärts und vorwärts und rückwärts bewegte, ohne nur einmal stille zu halten, als etwa hie und da einen Augenblick, um die verwelkten Hände zusammenzuschlagen, welche sie, diese Ausnahmen abgerechnet, beständig gebrauchte, um ihre Kniee zu kratzen, und sie krampfhaft zusammenzupressen. Ihr gegenüber saß die Mutter mit einem Kinde auf den Armen, das so lange fortschrie, bis es sich in den Schlaf geschrien hatte und, wenn es erwachte, wieder schrie, bis es sich abermals überschrien hatte. Von der alten Frau hörte ich nie einen Laut. Das Elend schien sie verrückt oder vollständig stumpfsinnig gemacht zu haben. Was die Mutter anbelangt, so wäre es wohl besser gewesen, wenn sie sich auch in diesem Zustande befunden hätte, denn Noth und Elend hatte sie in einen Teufel verwandelt. Wenn Sie gehört hätten, wie sie die kleinen nackten Kinder, die sich in dem Sande herumwälzten, verfluchte, und wenn Sie gesehen hätten, wie grausam sie das Kind auf ihrem Arme schlug, wenn es vor Hunger schrie – es würde Sie geschaudert haben wie mich. So blieb es die ganze Zeit über. Die Kinder bekamen ein- oder zweimal einige Brodbrocken, und ich gab ihnen den größten Theil von dem Essen, das mir gebracht wurde; aber die Mutter aß keinen Bissen, sie legte sich auch nicht nieder, und eben so wenig wurde die ganze Zeit über, die ich dort zubrachte, das Zimmer gereinigt. Die Nachbarn waren alle selbst zu arm, um helfen zu können, und wie ich von der Frau in dem obern Stocke zu erfahren Gelegenheit hatte, so schien der Familienvater einige Wochen vorher deportirt worden zu sein. – Als die Zeit um war, machten der Hausbesitzer und der alte Fixem, denen selbst vor der Familie bange zu werden schien, Anzeige von ihrem Zustande, und brachten es dahin, daß sie in das Arbeitshaus aufgenommen wurden. Der alten Frau schickte man den Krankenwagen, und Simmons holte die Kinder bei Nacht. Erstere kam in das Hospital und starb bald hernach. Die Kinder befinden sich bis zu diesem Tage im Arbeitshause, und sind im Vergleiche mit ihrem vorigen Zustands sehr gut aufgehoben; was aber die Mutter betrifft, so war sie durchaus nicht zu bändigen. Ich glaube, daß sie vorher ein ruhiges, arbeitsames Weib war, aber ihr Elend hatte sie vollständig toll gemacht; denn nachdem sie ein halbes dutzendmal wegen Drohungen gegen die Aufseher, Lästerungen gegen die Kirchenvorsteher und Schimpfens auf Jedermann, der ihr nahe kam, in die Corrections-Anstalt gebracht worden war, sprang ihr eines Morgens ein Blutgefäß, woran sie starb, und dieß war eine glückliche Erlösung, nicht sowohl für sie, als für die alten Armen männlichen und weiblichen Geschlechts, die sie bei allen Gelegenheiten so herumzukugeln pflegte, als ob sie eben so viele Kegel und sie die Kugel gewesen wäre.«

      »Nun, dieß war schlimm genug,« bemerkte Bung, indem er einen halben Schritt gegen die Thüre zu machte, als ob er damit anzeigen wollte, daß er nahe am Ende sei; »dieß war schlimm genug, ich traf aber auch eine Art heimlichen Elends – Sie werden mich wohl verstehen, was ich damit meine, Sir – das war noch weit herzbrechender. Wir hatten unter Anderem einst eine Auspfändung bei einer Dame, und noch schaudert mir das Herz, wenn ich daran denke. Ich will es so kurz als möglich machen; der Name thut nichts zur Sache. Möchte ich doch lieber gar nichts davon sagen dürfen! Es betraf den Rückstand einer Jahresmiethe. Ich ging wie gewöhnlich mit Fixem hin; ein sehr kleines Dienstmädchen öffnete uns die Thüre, und drei oder vier allerliebste Kinder spielten in dem Vorderzimmer, in das wir gewiesen wurden. Das Zimmer war sehr sauber, aber eben so spärlich ausgestattet, gerade wie die Kinder selbst. ›Bung,‹ sagte Fixem leise zu mir, als man uns ein Paar Minuten allein ließ; ›ich kenne diese Familie einigermaßen, und nach meiner Meinung wird es hier nicht gut gehen.‹ – ›Glauben Sie, sie werde nicht zahlen können?‹ erwiederte ich ganz ängstlich, denn die Kinder hatten mir gefallen. Fixem schüttelte den Kopf und war gerade daran, mir zu antworten, als eine Dame hereintrat, so weiß wie ich Tag meines Lebens nie eine gesehen, blos mit Ausnahme ihrer Augen, die vom Weinen geröthet waren. Sie trat so festen Schrittes einher, als ich es gethan haben könnte, schloß die Thüre sorgfältig, und setzte sich mit einem so ruhigen Gesicht, als wäre es von Stein gewesen, nieder. ›Was steht zu Ihren Befehlen, meine Herren?‹ fragte sie mit ruhiger aber eine gewisse Ueberraschung ausdrückender Stimme. ›Ist es wohl eine Auspfändung?‹ Fixem bejahte verlegen. Die Dame sah ihn starr an und schien ihn nicht verstanden zu haben. Fixem bejahte nochmals, sagte dann: ›Hier ist meine Vollmacht zur Pfändung‹ – und überreichte sie ihr eben so höflich, als ob es ein Zeitungsblatt gewesen wäre, das sich irgend ein Herr von ihm erbeten hätte.«

      »Die Lippen der Dame bebten, als sie ihm das


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