Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens

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Skizzen aus dem Londoner Alltag - Charles Dickens


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und enthusiastischen Weise einfiel – zum großen Verdruß der Nachbarn, und insbesondere zur nicht geringen Störung eines andern ledigen Herrn, welcher gerade über ihnen wohnte.

      Das war allerdings schlimm genug, da es im Durchschnitt mindestens dreimal in der Woche vorkam – aber es war noch nicht Alles. Denn wenn sich die Gesellschaft entfernte, so unterhielt sie sich, statt, wie andere ehrliche Leute thun würden, ruhig ihrer Straße zu ziehen, damit, daß sie einen schrecklichen Lärm machte und den Angstruf von Wehen befallener Frauen nachahmten. Und eines Nachts pochte sogar ein Gentleman mit rothem Gesicht und einem weißen Hute auf die empörendste Weise an die Thüre des alten puderköpfigen Herrn in Nummer 3. Der puderköpfige alte Gentleman meinte, einer seiner verheiratheten Töchter möchte zu früh etwas zugestoßen sein, weßhalb er die Treppen hinuntertappte und nach vielem Riegel- und Schlüsselgetöse die Thüre öffnete, vor der er aber Niemand anders als den Mann mit dem rothen Gesichte und dem weißen Hute traf, welcher ihn um Entschuldigung bat, daß er ihm so viele Mühe mache, aber er würde ihm sehr verbunden sein, wenn er die Güte haben wollte, ihm ein Glas frisches Brunnenwasser zu geben und einen Shilling zu leihen, damit er sich in einem Cabriolet nach Hause fahren lassen könne. Der alte Herr schlug ihm die Thüre vor der Nase zu, ging wieder die Treppe hinauf und goß stracks den Inhalt seines Wasserkrugs aus dem Fenster herunter, wobei übrigens zu bedauern war, daß er den Unrechten traf, was denn abermals die ganze Straße in Alarm brachte.

      Ein Scherz ist ein Scherz; und selbst handgreifliche Späße mögen in ihrer Art gar nicht übel sein, wenn man nicht unter diejenigen gehört, auf deren Kosten er geübt wird. Aber die Bevölkerung unserer Straße fürchtete so sehr für ihre eigene Haut, daß ihr das Drollige dieser Scene durchaus nicht einleuchten wollte; und die Folge davon war, daß unser Nachbar sich genöthigt sah, dem ledigen Herrn zu erklären, er möge sich, wenn er seine nächtlichen Gelage nicht aufgeben wolle, nach einem anderen Quartier umsehen. Der ledige Herr nahm diesen Verweis in der besten Laune von der Welt hin und versprach, künftig seine Abende in einem Kaffeehaus zuzubringen, – ein Entschluß, der allgemeine Zufriedenheit veranlaßte.

      Die nächste Nacht verlief ruhig, und männiglich freute sich dieses Wechsels; aber in der darauf folgenden war der Lärmen größer als je. Da die Freunde des ledigen Herrn ihn nicht mehr alle andere Nacht in seinem eigenen Hause besuchen konnten, so entschlossen sie sich, ihn fortan jede Nacht nach Hause zu begleiten; und das geräuschvolle Abschiednehmen der Freunde, und die Art, wie der ledige Herr die Treppe hinauf polterte, und die Mühe, welche es kostete, bis er die Stiefel von den Beinen gestreift hatte – mit einem Worte, es war nicht mehr auszuhalten. Unser Nachbar kündigte dem ledigen Herrn, der in jeder andern Beziehung ein sehr guter Miethsmann war, das Quartier auf; und der ledige Herr zog aus, um seine Freunde in einer andern Wohnung zu unterhalten.

      Der nächste Bewerber um den vacanten ersten Stock war ein ganz anderer Mann, als der ledige Störenfried, welcher denselben eben verlassen hatte. Er war ein hoher, schmaler, junger Gentleman, mit einer Fülle braunen Haares, röthlichtem Backenbart und nicht sehr entwickelten Schnurrbart. Er trug einen Uniformrock mit eingefaßten Knopflöchern, hellgraue Beinkleider, waschlederne Handschuhe und hatte überhaupt ein ziemlich militärisches Aeußere. Also ein ganz anderer Mann, als der polternde ledige Herr. So gewinnend in seinen Manieren, so angenehm im Umgang, und noch obendrein so gesetzt in seinem Wesen! Als er die Wohnung einsah, erkundigte er sich zuvörderst, ob er sich auch darauf verlassen könne, einen Sitz in der Kirche zu bekommen; und als der Miethvertrag abgeschlossen war, wünschte er auch, eine Liste der verschiedenen Lokalwohlthätigkeits-Anstalten zu erhalten, da er dem verdienstlichsten davon beizutreten gedächte.

      Wer war glücklicher als unser Nachbar? Er hatte endlich einen Miethsmann gefunden, der ganz seine Gesinnung theilte – einen gesetzten, ernsten Herrn, der kein Freund von lauten Belustigungen war und die Einsamkeit liebte. Er nahm den Zettel mit einem leichten Herzen vom Fenster weg und träumte sich schon eine lange Reihe von ruhigen Sonntagen, an denen er sich mit seinem Miethsmanne unterhalten und in seiner Gesellschaft die Sonntagsblätter lesen konnte.

      Der gesetzte Herr langte an, und sein Gepäcke sollte des andern Morgens durch die Landfuhre nachkommen. Er borgte von unserem Nachbar ein reines Hemd und ein Gebetbuch und begab sich zeitig zur Ruhe, nachdem er zuvor gebeten hatte, man möchte ihn des andern Morgens Punkt zehn Uhr wecken – nicht früher, da er sehr ermüdet sei.

      Das Letztere geschah, aber es erfolgte keine Antwort; man pochte wieder, aber alles blieb stille. Unser Nachbar wurde unruhig, und ließ die Thüre aufbrechen. Der gesetzte Mann hatte das Haus ganz geheimnißvoll verlassen und das Hemd, das Gebetbuch, einen Theelöffel und die Bettleinwand mitgenommen.

      Ob dieser Vorfall in Vereinigung mit den Unregelmäßigkeiten seines früheren Miethsmannes unserem Nachbar einen Widerwillen gegen ledige Herrn einflößte, wissen wir nicht; wir können nur so viel sagen, daß der nächste Zettel in dem Fenster des Parterrezimmers nur im Allgemeinen andeutete, daß ein paar möblirte Gelasse in dem ersten Stock zu vergeben seien. Die Anzeige verschwand bald wieder, und die neuen Insassen erregten zuerst unsere Neugierde, später aber unsere Theilnahme.

      Sie bestanden aus einem jungen Menschen von achtzehn oder neunzehn Jahren und seiner Mutter, die etwa fünfzig, vielleicht auch etwas weniger zählen mochte. Mutter und Sohn waren tief in Trauer gekleidet. Sie waren arm – sehr arm; denn ihr ganzer Unterhalt beschränkte sich auf den kümmerlichen Verdienst des jungen Mannes, den er sich durch Abschreiben und Uebersetzen für Buchhändler erwarb.

      Sie hatten früher auf dem Lande gelebt und sich nach London übersiedelt, zum Theil, weil es dem jungen Mann bessere Aussichten zu Beschäftigung bot, zum Theil vielleicht auch, weil sie einen Ort zu verlassen wünschten, wo sie bessere Tage gesehen hatten und wo man ihre Verarmung kannte. Sie waren für ihre Verhältnisse stolz und mochten keinen Fremden ihren Mangel wissen lassen. Welche bittere Entbehrungen sie zu erleiden hatten und wie angestrengt der junge Mann arbeiten mußte, um der größten Nothdurft abzuhelfen, war Niemand als ihnen selbst bekannt. Man konnte alle Nacht bis zwei, drei, ja vier Uhr hin und wieder das spärliche Feuer nachschüren hören oder den hohlen, halberstickten Husten vernehmen, welcher verkündigte, daß der junge Mann noch bei der Arbeit war; und mit jedem Tage sah man deutlicher, daß die Natur jenes unirdische Licht über seine Jammermiene gegossen hatte, welches das Kennzeichen ihrer verheerendsten Krankheit ist.

      Wir leiteten, wie wir hoffen, von einem höheren Gefühle als dem der bloßen Neugierde veranlaßt, eine Bekanntschaft mit den armen Fremden ein, welche bald in die innigste Vertrautheit überging. Unsere schlimmsten Befürchtungen waren verwirklicht; der junge Mensch schwand rasch dahin. Er setzte seine Arbeiten den Winter über, durch das Frühjahr und bis in den Sommer hinein fort, und die Mutter versuchte es, durch die Arbeit ihrer Nadel Brod zu erwerben.

      Aber Alles, was sie verdienen konnte, bestand nur hin und wieder in einigen Shillingen. Der junge Mensch arbeitete ohne Unterlaß und starb mit jeder Minute mehr dahin; aber kein Murren, keine Klage kam über seinen Mund.

      An einem schönen Herbstabende machten wir unsern gewöhnlichen Besuch bei dem Kranken. Die wenigen Kräfteüberreste hatten in den letzten zwei oder drei Tagen schrecklich abgenommen, und er lag, in den Anblick der untergehenden Sonne vertieft, an dem offenen Fenster auf dem Sopha. Seine Mutter hatte ihm aus der Bibel vorgelesen und schloß bei unserem Eintreten das Buch, um uns zu begrüßen.

      »Ich habe William gesagt,« sprach sie, »wir müßten Sorge tragen, ihn irgendwo aufs Land zu bringen, damit er sich erholen könne. Er ist nicht krank, wie Sie wissen, aber sehr geschwächt, denn er hat sich in der letzten Zeit zu sehr angestrengt.«

      Arme Frau! die Thränen, die unter ihren Fingern niederfielen, während sie sich zur Seite wandte, als wolle sie sich ihre Haube zurecht setzen, zeigten zu deutlich, wie vergeblich der Versuch war, sich zu täuschen.

      Wir setzten uns oben an das Sopha, ohne etwas zu sprechen, denn wir sahen den Athem des Lebens, zwar sanft, aber schnell aus der Gestalt des jungen Mannes entweichen. Mit jedem Athemzug schlug sein Herz langsamer.

      William legte eine Hand in die unsrige, umfaßte mit der andern seine Mutter, zog sie an sich, und küßte sie glühend auf die Wange. Es erfolgte eine Pause. Dann sank er auf sein Kissen zurück, und sah lange


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