Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens

Читать онлайн книгу.

Skizzen aus dem Londoner Alltag - Charles Dickens


Скачать книгу
Lieber!«

      Der junge Mann lächelte matt, aber einen Augenblick nachher nahmen seine Züge denselben kalten und feierlichen Ausdruck wieder an.

      »William, lieber William! Fasse dich! Sieh mich nicht so an, mein Herz! – thu es nicht! O mein Gott! was soll ich thun?« rief die Wittwe, die Hände verzweifelnd zusammenschlagend. »Mein liebes Kind! es stirbt!«

      William machte eine gewaltsame Anstrengung, sich aufzurichten, und faltete die Hände:

      »Mutter! liebe Mutter!« hauchte er. »Laß mich in dem freien Felde begraben – überall, nur nicht in diesen schrecklichen Straßen. Ich möchte wohl sein, wo du mein Grab sehen könntest, aber nicht in diesem Straßengedränge; es hat mich getödtet. Küsse mich noch einmal, Mutter; schlinge den Arm um meinen Hals – –«

      Er sank zurück, und ein seltsamer Ausdruck stahl sich über seine Züge – nicht der des Schmerzes oder des Leidens, sondern ein unbeschreibliches Starrwerden jeder Linie und jeder Muskel.

      William war todt.

      Scenen - Erstes Kapitel

      Der Morgen in den Straßen.

      An einem Sommermorgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, bieten die Straßen von London selbst den Wenigen, die der unglücklichen Jagd nach Genuß oder der beinahe ebenso unglücklichen Jagd nach Erwerb eine genaue Bekanntschaft mit den vorkommenden Auftritten verdanken, einen höchst ergreifenden Anblick dar. In den geräuschlosen Straßen, welche zu anderen Zeiten von einer geschäftigen, munteren Menschenmenge wimmeln, und auf den stillen, festverschlossenen Gebäuden, die den Tag über von Leben und Lärmen strotzen, liegt das Trauergepräge der Verlassenheit und des Todes.

      Der letzte Trunkenbold, der noch vor Tagesanbruch seinen Heimweg finden will, ist soeben schwerfällig vorübergetaumelt, den Refrain des Trinkliedes, das in der vergangenen Nacht gesungen wurde, zu Ende brüllend: der letzte heimathlose Landstreicher, den der Mangel und die Polizei ohne Obdach gelassen, hat in einer gepflasterten Straßenecke, wo er von Speise und Wärme geträumt, seine frostigen Glieder aufgerafft. Trunkenbold, Wollüstling und Vagabund sind verschwunden, und der mäßigere und geordnetere Theil der Bevölkerung ist noch nicht zu den Mühen des Tages erwacht. Die Stille des Grabes schwebt über den Straßen; sie scheinen die natürliche Farbe derselben angenommen zu haben – so kalt und leblos liegen sie im grauen Zwielichte der Morgendämmerung da. Die Kutschenstände in den größeren Durchfahrten sind verlassen: die Nachthäuser sind geschlossen; und die Lieblingsspaziergänge des muthlosen Elends sind leer.

      Hie und da sieht man an den Straßenecken einen vereinzelten Polizeidiener, der den öden Schauplatz mehr mit dem Gehör als mit dem Gesicht beobachtet; und dann und wann stiehlt sich ein verstört aussehender Kater eilig über die Straße und läßt sich von seinem Tummelplatze mit einer Vorsicht und Schlauheit herunter – zuerst auf den Wasserstein, dann auf das Kerichtfäßchen und endlich auf die Pflastersteine springend – als wäre er sich bewußt, daß sein Ruf davon abhänge, seine nächtlichen Liebesabenteuer dem Auge der Oeffentlichkeit zu entziehen. Hin und wieder bemerkt man ein halboffenes Fenster an einem Schlafzimmer, das ebensowohl von der Wärme der Luft, als von dem unruhigen Schlafe seines Bewohners zeigt, und der matte Schimmer des Nachtlichtes, der durch den Vorhang dringt, bezeichnet das Gemach der Schlaflosigkeit oder Krankheit. Mit diesen wenigen Ausnahmen verrathen die Straßen kein Lebenszeichen und die Häuser scheinen ausgestorben.

      Eine Stunde geht vorüber; die Spitzen der Kirchen und die Giebel der Hauptgebäude sind vom Lichte der aufgehenden Sonne schwach beleuchtet, und die Straßen nehmen in beinahe unmerklicher Stufenfolge allmälig ihr gewöhnliches Leben und Treiben wieder an. Marktkarren rollen langsam dahin, indeß der schläfrige Kärrner die ermüdeten Rosse ungeduldig antreibt oder vergebliche Versuche macht, den Jungen zu erwecken, der, auf den Deckeln der Obstkörbe hingestreckt, in schwelgerischer Ruhe die lang genährte Begierde nach dem Anblicke der Wunder von London in selige Vergessenheit begräbt.

      Rohe, schläfrig aussehende Geschöpfe von seltsamem Aeußeren, welche zwischen Schenkwirthen und HauderernA1 die Mitte zu halten scheinen, lassen die Läden der Frühkneipen nieder; und kleinere tannene Tische, worauf man die gewöhnlichen Vorbereitungen zu einem Straßenfrühstück sieht, werden an ihren gewohnten Plätzen sichtbar. Eine Menge Männer und Weiber (hauptsächlich die letzteren), mit schweren Obstkörben auf dem Kopfe, plagen sich auf ihrem Wege nach Covent-Garden die Parkseite von Piccadilly hinab und bilden in reißender Aufeinanderfolge eine lange wogende Linie von dort bis zur Wendung der Straße bei der Ritterbrücke.

      Hie und da eilt ein Maurergeselle, das Mittagessen in einem Taschentuche tragend, an sein Tagewerk, und dann und wann klappert eine kleine Bande von drei oder vier Schuljungen munter über das Pflaster nach einer verstohlenen Badeexpedition, und ihre lärmende Fröhlichkeit sticht gegen das Benehmen des jungen Schornsteinfegers gewaltig ab, der sich Anfangs den Arm müde gepocht und geschellt hat und nun, seitdem ihm von der erbarmungslosen Gesetzgebung die Gefährdung seiner Lungen durch Schreien niedergelegt worden, geduldig auf der Thürschwelle sitzt, bis die Hausmagd die Güte haben wird, zu erwachen.

      Der Markt im Covent-Garden sammt seinen Zugängen ist mit Karren von allen Arten, Größen und Formen, vom schwerfällig dahinrollenden Wagen mit seinen vier starken Pferden bis zum schleichenden Obstkarren mit seinem schwindsüchtigen Esel, vollgepfropft. Das Pflaster ist bereits mit abgehauenen Krautblättern, zerrissenen Grasbändern und dem ganzen namenlosen Geschnipfel eines Gemüsemarkts übersäet, und Männer schreien, Karren ächzen, Pferde wiehern, Knaben balgen, Obstweiber schnattern, Pastetenbäcker preisen die Vortrefflichkeit ihrer Pasteten an und Esel schreien. Diese und hundert andere Töne bilden ein Gemisch, das einem Londoner Ohre wehe genug thut, aber dem Bewohner der Provinz, der zum erstenmale auf dem HummumsA2 schläft, wahrhaft entsetzlich ist.

      Eine zweite Stunde geht vorüber, und der Tag beginnt nun in vollem Ernste. Die Dienstmagd, welche unter der Maske eines sehr festen Schlafes ganz vergessen hat, daß die Frau schon eine halbe Stunde läutet, hört vom Herrn (den die Frau zu diesem Zwecke in seinem Negligé die Treppe hinaufgeschickt hat), daß es bereits halb sieben Uhr sei, worauf sie, mit wohlberechnetem Schrecken, plötzlich aufsteht und verdrießlich die Treppe hinuntergeht, während des Lichtschlagens den Wunsch ausdrückend, das Prinzip der Selbstentzündung möchte sich auch auf Kohlen und Feuerherd ausdehnen. Nachdem das Feuer angemacht ist, öffnet sie die Hausthüre, um die Milch herein zu nehmen, als sie bemerkt, daß die Nachbarmagd vermöge des sonderbarsten Zusammentreffens von der Welt ebenfalls gerade die Milch herein nimmt und daß im gegenüberstehenden Hause Herrn Todd's Knecht, durch einen ebenso außerordentlichen Zufall, seines Herrn Läden niederläßt. Die unvermeidliche Folge davon ist, daß sie mit dem Milchkruge in der Hand gerade in einer solchen Entfernung stehen bleibt, um Betsy Clark einen »guten Morgen« zu wünschen, und daß Herrn Todd's Knecht über die Straße herüberkommt, um beiden einen »guten Morgen« zu wünschen; und da vorbesagter Knecht des Herrn Todd beinahe so hübsch und so bezaubernd ist, wie der Bäcker selbst, so wird die Unterhaltung bald sehr anziehend und würde wahrscheinlich noch anziehender geworden sein, hätte nicht Betsy's Frau, welche sie immer beobachtet, zornig an das Fenster ihres Schlafzimmers gepocht, worauf Herrn Todd's Knecht gleichgültig zu pfeifen sucht, während er weit schneller in seinen Laden zurückkehrt, als er aus demselben hervorgetreten ist, und die beiden Mädchen in ihre betreffende Häuser eilen und in aller Stille die Thüre verschließen, aber eine Minute später ihre Köpfe im Vorderzimmer zum Fenster hinausstrecken, dem Anscheine nach, um die Miethkutsche zu betrachten, welche eben vorüberfährt, der That nach aber, um noch einen Blick von Herrn Todd's Knecht aufzufangen, welcher, ein großer Freund von den Postkutschen, aber ein noch größerer von den Frauenzimmern, einen kurzen Blick auf die Postkutsche und einen langen auf die Mädchen wirft, womit sämmtliche Betheiligte ganz zufrieden sind.

      Die Postkutsche selbst fährt in ihrem vorgeschriebenen Trab nach der Post, und die Passagiere, welche mit dem Frühwagen abreisen, starren erstaunt die Passagiere an, welche mit dem Frühwagen ankommen, trüb und verdrießlich aussehen und augenscheinlich unter dem Einflusse jenes seltsamen, durch das Reisen hervorgerufenen Gefühls stehen, welches die Vorfälle des vorhergehenden Tages


Скачать книгу