Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens

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Skizzen aus dem Londoner Alltag - Charles Dickens


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die mit den Freunden und Verwandten, von denen wir vor vierzehn Tagen Abschied genommen, seit unserem letzten Zusammentreffen vorgegangen sind. Der Posthof ist ganz lebendig und die Kutschen, welche eben abgehen wollen, sind wie immer von einer Menge Juden und Judengenossen umgeben, die, der Himmel weiß warum, die Ansicht zu haben scheinen, als wäre es ganz unmöglich, daß irgend Jemand eine Kutsche besteigen könne, ohne wenigstens für sechs Pfennige Pomeranzen, ein Federmesser, eine Brieftasche, einen Almanach vom vergangenen Jahr, ein Bleistiftfutteral, ein Stück Schwamm oder ein paar Heftchen Carrikaturen mit sich zu nehmen.

      Noch eine halbe Stunde, und die Sonne wirft ihre hellen Strahlen lustig in die noch immer halbleeren Straßen und hat eine hinreichende Kraft, um die verdrießliche Schläfrigkeit des Lehrburschen zu verscheuchen, welcher seine Versuche, den Laden auszukehren und die Steinplatten vor dem Eingange desselben mit Wasser zu besprengen, alle zwei Minuten unterbricht, um einem andern auf dieselbe Weise beschäftigten Lehrlinge zu sagen, wie heiß es heute werden würde, oder um, mit der rechten Hand seine Augen überschattend und mit der linken sich auf den Besen stützend, dem »Wunder« oder dem »Tally-Ho« oder dem »Nimrod« oder irgend einem anderen Schnellwagen nachzugaffen, bis er ihm aus den Augen kommt, worauf er in den Laden zurückkehrt, um die Passagiere auf der Außenseite der Schnellwagen zu beneiden und an das alte backsteinerne Haus im »Unterlande« zu denken, wo er in die Schule ging: sein Elend bei Milch und Wasser, grobem Brod und altbackenen Brocken schwindet in Nichts zusammen vor der süßen Erinnerung an das grüne Feld, auf dem die Knaben spielten, an den grünen Teich, der ihm einmal Schläge eingetragen, weil er sich herausgenommen hatte, hineinzufallen, und an manche andere Scenen aus seiner Knabenzeit.

      Kabriolete, mit Koffern und Schachteln zwischen den Beinen des Kutschers und auf dem Spritzleder, rasseln auf ihrem Wege nach den Posthöfen oder den Kajen der Dampfpacketboote eiligst auf und nieder; und die Kabrioletinhaber und Miethkutschenbesitzer, welche sich auf ihrem Stande befinden, putzen die Verzierungen ihrer schmutzigen Gefährte – wobei die ersteren sich verwundern, wie es sich Jemand einfallen lassen könne, die »Menageriekästen von Omnibus einem regulären Kabriolet mit einem schnellen Renner« vorzuziehen, und die letzteren erstaunen, »wie es Jemand wagen könne, seinen Hals einem gebrechlichen Kabriolet anzuvertrauen, wenn er eine respektable Miethkutsche mit ein paar Pferden haben könne, welche mit Niemanden davonrenne« – ein Trost, welcher sich zweifelsohne auf die Thatsache gründet, daß man überhaupt noch niemals eine Miethkutsche rennen sah, »ausgenommen,« wie der schmucke Kabrioletinhaber an der Spitze der Reihe bemerkt, »ausgenommen eine, und diese rannte rückwärts.«

      Die Läden sind jetzt ganz geöffnet, und Lehrbursche und Ladenbesitzer sind eifrig beschäftigt, die Fenster für den Tag zu reinigen und zu verzieren. Die Bäckerläden in der Stadt sind mit Mägden und Kindern angefüllt, welche auf den ersten Schuß Wecken warten. – In der Vorstadt ist dieser Auftritt wegen der Frühschreiberbevölkerung von Somers und Camden Towns, Islington und Pentonville, die eiligst in die City rennen, oder ihre Schritte nach der Kanzleistraße und dem Gerichtsviertel lenken, bereits seit einer vollen Stunde vorüber. Männer von mittlerem Alter, deren Gehalt keineswegs im Verhältniß mit ihrer Familie gewachsen ist, eilen schnell die Straße entlang, offenbar nichts Anderes vor sich sehend als die Schreibstube: sie kennen beinahe Jeden von Gesicht, dem sie begegnen oder den sie überholen, denn sie haben ihn während der letzten zwanzig Jahre (Sonntags ausgenommen) beinahe jeden Morgen gesehen; aber sie sprechen mit Keinem, und wenn sie an einem persönlichen Bekannten vorüberkommen, so tauschen sie nur geschwind einen Gruß aus, und gehen entweder neben ihm her oder vor ihm voraus, wie es seine Gewohnheit mit sich bringt. Stehen zu bleiben um ihm die Hand zu schütteln oder des Freundes Arm zu ergreifen, dazu fühlen sie sich nicht befugt, weil es nicht in ihre Dienstpflicht miteingeschlossen ist. Kleine Schreiberlehrlinge in großen Hüten, welche Männer geworden, ehe sie Knaben waren, eilen mit ihrem ersten Rock, der sorgfältig gebürstet ist, und ihren weißen Hosen vom letzten Sonntag, welche mit Koth und Tinte überschmiert sind, paarweise vorüber. Es erfordert offenbar einen schweren inneren Kampf, der Versuchung zu widerstehen, einen Theil ihres täglichen Speisegeldes auf den Ankauf altgebackener Torten zu verwenden, welche so lockend auf staubigen Zinnplatten an der Thüre des Zuckerbäckers ausgestellt sind; aber das Bewußtsein ihrer Wichtigkeit und ihrer wöchentlichen Einnahme von sieben Shillingen mit der Aussicht einer baldigen Erhöhung auf acht, kommt ihnen zu Hilfe. Sie setzen ihre Hüte kühner auf's Ohr und sehen allen Lehrmädchen der Putzmacherinnen und Modehändlerinnen, denen sie begegnen, unter die Hauben: – arme Mädchen! – die geplagteste, am schlechtesten bezahlte und auch oft am schlechtesten behandelte Klasse der menschlichen Gesellschaft.

      Eilf Uhr, und eine neue Klasse von Leuten erfüllt die Straße. Die Waaren sind einladend hinter den Ladenfenstern aufgestellt; die Ladenbesitzer mit ihren weißen Taschentüchern und ihren zierlichen Röcken sehen aus, als wäre es ihnen unmöglich ein Fenster abzureiben, und wenn ihr Leben daran hinge; die Karren sind aus dem Covent-Garden verschwunden, die Kärrner heimgefahren und die Obsthändler nach ihren gewohnten »Schlägen« in der Vorstadt gegangen; die Schreiber sind auf ihren Schreibstuben, und Gigs, Kabriolete, Omnibusse und Reitpferde tragen ihre Herrn an denselben Bestimmungsort. Die Straßen sind mit einer ungeheuren Menge Menschen, aufgeputzten und schäbigen, reichen und armen, faulen und fleißigen vollgepfropft; und wir kommen nun zu der Hitze und dem lärmenden Treiben des Mittags.

      1 Hauderern: Droschkenkutschern

      2 auf dem Hummums: im türkischen Bad

      Zweites Kapitel

      Der Abend in den Straßen.

      Aber die Straßen von London müssen, um sie in ihrem eigentlichen Glanzpunkte zu sehen, an einem dunklen, trüben, düstern Winterabende besucht werden, wenn sich gerade genug Duft auf den Boden senkt, um das Pflaster schlüpfrig zu machen, ohne es von irgend einer seiner Unreinigkeiten zu säubern, und wenn der schwere, träge Nebel, der auf jedem Gegenstand liegt, das Licht der Gaslampen und die brillante Beleuchtung der Kaufläden durch den Contrast gegen die ringsum herrschende Dunkelheit stärker hervorhebt.

      Wer an einem solchen Abende zu Hause ist, scheint geneigt, es sich so bequem und behaglich als möglich zu machen, und diejenigen, welche auf der Straße sind, haben triftige Gründe, die Glücklichen zu beneiden, welche vor ihrem Kamine sitzen.

      In den breiteren und besseren Straßen sind die Fenster der Speisezimmer dicht verhängt, das Feuer in der Küche lodert hell empor, und schmackhafte Dünste warmer Speisen kitzeln die Nasenlöcher des Hungrigen, der draußen steht und müde sich an das Geländer der Haustreppe lehnt. In den Vorstädten schellt der Semmeljunge die kleine Straße hinab, indem er weit langsamer geht, als er sonst gewohnt ist; denn Frau Macklin in Nummer 4 hat nicht sobald ihre Hausthüre geöffnet und mit aller Macht »Semmeln!« gerufen, als Frau Walker in Nummer 5 ihren Kopf aus dem Fenster ihres Wohnzimmers steckt und ebenfalls »Semmeln« ruft; und Frau Walker hat kaum das Wort über ihre Lippen springen lassen, als Frau Peplow auf der andern Seite der Straße Master Peplow losläßt, welcher mit einer Eile, zu der nur die Aussicht auf Buttersemmeln begeistern kann, die Straße herabschießt und den Jungen gewaltsam mit sich fortreißt, worauf Frau Macklin und Frau Walker, um dem Jungen eine Mühe zu ersparen und zugleich mit Frau Peplow einige freundnachbarliche Worte zu wechseln, über die Straße rennen und ihre Semmeln an Frau Peplows Hausthüre kaufen, wobei es sich aus der freiwilligen Aeußerung der Frau Walker ergibt, daß gerade ihr Kessel siedet und Tassen und Teller bereit sind, und daß sie sich, weil es draußen so unangenehm sei, entschlossen habe, ihren Nachbarinnen mit einem Täßchen comfortablen Thee's aufzuwarten – ein Schluß, zu welchem, vermöge des sonderbarsten Zusammentreffens der Umstände, zugleich auch die beiden andern Damen gekommen waren.

      Nach einer kurzen Unterhaltung über die Schlechtigkeit des Wetters und die Verdienste des Thee's mit einer vergleichenden Abschweifung auf die Ungeschliffenheit der Knaben als Regel, und die Liebenswürdigkeit Master Peplows als Ausnahme, sieht Frau Walker ihren Gemahl die Straße herabkommen, und da der arme Mann nach seinem schmutzigen Weg von der Werfte gleichfalls seinen Thee nöthig hat, so eilt sie augenblicklich, mit ihren Semmeln in der Hand, davon, und Frau Macklin thut dasselbe, und nach wenigen Worten an Frau Walker, schlüpfen alle in ihre kleinen Wohnungen und schließen ihre


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