Der Weg nach Afrika - Teil4. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.ins Auge ‘stach’. Er dachte an das zehnjährige Mädchen, dem er wegen einer bösartigen Knochengeschwulst den rechten Arm abschnitt, um ihr das Leben zu retten oder zumindest zu verlängern. Er dachte an die vielen Kinder, die von einer Mine angerissen wurden, denen er Teile beider Arme, oder Arm und Bein, oder beide Beine vom Körper abtrennte, weil es auch da nicht anders zu machen war. Betroffene Stille lag über den Köpfen, nicht nur, weil es die Klimaanlage nicht tat, die endlich ihr schlagendes Rattern liess, sondern weil da am Freitag der vorangegangenen Woche Fürchterliches passierte, was mit dem Verstand nicht zu fassen war. Da sassen die Teilnehmer aufrecht auf den harten und den gepolsterten Stühlen, keiner lehnte sich bequem zurück, auch nicht der amtierende Superintendent, dem die Hochnäsigkeit vergangen war und der nun noch kürzer auf dem Drehsessel hinter dem Schreibtisch sass. Allen hatte es die Gesichter getroffen, keiner wagte ein vorlautes Wort. Er eröffnete die Besprechung und fand gemässigte Worte für die tiefe Trauer der Menschen und Kinder, die durch die Explosion, die die ganze Bank in die Luft sprengte, Menschen verloren hatten, die durch ihre Arbeit die Brotgeber der Familien waren. Er konnte vielleicht tiefer gefühlte Worte zur entsetzlichen Tragik finden, etwas menschlicher sprechen, aber viel konnte er nicht sagen, denn die Tatsache mit den vielen Toten und Verletzten war nicht umkehrbar.
Die Hintergründe des abscheulichen Attentats waren nicht erkennbar. Zwar hatte jeder seinen Verdacht, doch den behielt jeder für sich, weil es in der Phase der letzten Entscheidungsschlacht gefährlich sein konnte, den Verdacht auszusprechen. Es hatte sich herumgesprochen, dass Männer der schwarzen Haut eine Kiste in der Bank abgestellt hätten, was im Menschengedränge nicht beachtet wurde, doch daraus auf die Swapo zu schliessen, wie es einige Weisse im Sinn hatten, war einäugig, weil das zweite Auge sah, dass es schwarze Männer auch bei der Koevoet und beim südafrikanischen Militär gab. (Später, als das Anlegemanöver abgeschlossen war, und die schwarze Besatzung die Hebel der Macht fest in ihren Händen hielt, da wurde noch einmal in die Banksprengung und die Trümmer der Barclay's Bank hineingeleuchtet. Da ergab sich ein anderes Bild, wo die Spektralfarben beim Lichteinfall aufs Trümmerfeld, das über die Jahre so geblieben war, wie es der schwarze Freitag hinterlassen hatte, sehr nah an das neue, politische Spektrum heranreichten. Bei unvoreingenommener Lupenbetrachtung war auch da eine gewisse Einäugigkeit nicht abzusprechen. Das neue Licht war nicht flackerfrei, hatte zuwenig Weiss im Spektrum. Auch sah das eine, andere Auge ohne Lupe mehr, als zwei Augen zusammen durch die Vergrösserungsbrille sahen.) Jedenfalls hatte das Ereignis einen tiefen Krater ins letzte Wegstück zur Unabhängigkeit Namibias gerissen. Die Menschen trauten einander nicht über den Weg. Es gehörte zur südafrikanischen Strategie, Männer, der Koevoet (Brecheisen) in Swapo-PLAN-fighter Uniformen zu stecken, um die Bevölkerung auszuhorchen, an Informationen zu kommen, an die sie in den andern Uniformen nicht herankamen, weder im guten noch durch Folter. Die Strategie der vertauschten Kleider hatte die Menschen im höchsten Masse verunsichert, das Misstrauen geschürt, die Ratlosigkeit zur Verzweiflung gebracht und das Chaos komplett gemacht. Die Telefonleitungen waren unterbrochen, der amtierende Superintendent konnte nicht sagen, wann die Reparaturarbeiten am Hauptkabel abgeschlossen sein würden. Der operative Bereich des Hospitals war lahmgelegt. Die Besprechung beschränkte sich auf den schwarzen Freitag und seine Folgen, ein Themenkomplex, der schwer war und am Ende ungelöst blieb. Die Op-Liste, die an der verstochenen Korktafel im 'theatre' mit einer Reisszwecke angeheftet war, blieb für den nächsten Tag hängen. Dr. Ferdinand und der philippinische Kollege machten eine ausführliche Saalrunde. Sie gingen von Bett zu Bett, inspizierten die Wunden, entfernten Fäden, wenn es an der Zeit war, lösten Verbände und legten neue an, trugen ihre Befunde in die Krankenblätter ein.
Die Schwestern trauerten um Menschen, die bei der Explosion ums Leben gekommen waren, zeigten Mitleid mit den Hinterbliebenen, unter denen es viele Kinder gab. Sie bedauerten die Verletzten, die durch die Explosion verstümmelt wurden. Sie zeigten Stärke in der Arbeit, ohne ihre Gefühle den Patienten anmerken zu lassen, die es dennoch spürten. Den Verletzten ging es besser, das Leben drohte bei ihnen nicht mehr zu kippen. Sie taten sich schwer zu begreifen, dass ihnen das in der Bank passieren konnte. Da sagten die andern Patienten nichts und nahmen die Stümpfe klaglos hin, denn es hätte auch ihnen schlimmer kommen können. Im Kindersaal war es der zweijährige Junge, der seine linke Hand Dr. Ferdinand entgegenhielt, an der die zusammengewachsenen Finger vor einer Woche getrennt wurden. Der Engel der Schwestern löste in Engelsgeduld die Verbände von den Fingern. Der Junge sah glücklich in seine Hand, als er die Finger einzeln bewegte. Da dachte Dr. Ferdinand an das kleine Mädchen, das ihn anstrahlte, als es nach der Operation die Finger der rechten Hand bewegte. Im Bett, in dem vor drei Monaten das zehnjährige Mädchen lag, dem er wegen der bösartigen Knochengeschwulst den rechten Arm abtrennen musste, lag nun ein neunjähriges, dem er wegen eines Klumpfusses die Achillessehne verlängert hatte. Der Unterschenkel war noch im Gipsverband, der den Fuss in der notwendigen Stellung hielt. Das Mädchen war zufrieden und steckte sich mit den rechten Fingern den Mahangupapp in den Mund. Die Geschicklichkeit, mit der es den Papp zwischen die Finger nahm, verriet die tägliche Übung. Dr. Ferdinand hatte das zehnjährige Mädchen mit dem traurigen Blick vor Augen, das sich beim Pappessen bekleckerte, weil es das Greifen mit den linken Fingern noch lernen musste. Sarah lag auf der Intensivstation im ersten Raum mit verquollenem Gesicht. Sie konnte die Augen noch nicht öffnen. Der verbundene Oberkörper lag hoch, um der Gesichtsabschwellung nachzuhelfen. Der Oberschenkelstumpf lag unter einem 'Bahnhof', damit er vor jeglicher Fremdberührung verschont wurde. Sie lag an der Blutkonserve und klagte über Schmerzen, gegen die sie die Spritze in regelmässigen Abständen bekam. Die Körpertemperatur war erhöht aufgrund der verbrannten Haut. Die Antibiotika wurden ihr mit der Infusion gegeben. Sie sog den kalten Tee aus der Tasse durch einen Plastikhalm in den Mund, den sie zum Essen nicht öffnen konnte. Dr. Ferdinand wusste durch die Schwestern, wer Sarah war, aber wiedererkennen konnte er sie nicht.
Eine Teepause gab es, doch keinen Tee, da es kein kochendes Wasser gab. Sie setzten sich in den verdunkelten Teeraum, in den das Tageslicht durch die kleine Durchreiche und die offene Tür aus dem Unkleideraum kam. Die beiden Narkoseärztinnen sassen schon da und schwiegen in das Halbdunkel des Raumes. So tat es der philippinische Kollege auch. Alle sassen da wie bestellt und nicht abgeholt, und jeder ging seinen eigenen Gedanken nach. Da heulten die Sirenen über dem Dorfe auf. Sie heulten in drei Wellen. Dr. Lizette sagte das "ag nee!" (ach nein!) schon in einer routinierten Weise. Wenig später böllerten die Haubitzen, und die dumpfen Einschläge der Granaten irgendwo im Felde waren zu hören, die wenige Sekunden nach jedem Abschuss folgten. Im Teeraum entschärfte Dr. Christine die Situation treffsicher mit der Bemerkung, dass es an diesem Morgen weder Kaffee noch Tee gäbe. Dann ging doch eine Granate nicht soweit vom Hospital nieder, deren Einschlag die Wände erzittern liess. Dr. Lizette wiederholte ihr "ag nee!" lauter und mit ernstem Gesicht. Dr. Ferdinand dachte an den schwarzen Freitag und seine Folgen und sagte, dass alles seine Folgen hat. "Wenn jetzt Verletzte kommen, können wir nichts machen", sagte Dr. Lizette, und der philippinische Kollege schaute ihr sprachlos ins Gesicht, weil er da offenbar auch an seine Familie dachte. Da der Einschlag in der Nähe sich von den Haubitzeneinschlägen im Felde.durch die längere Detonationsdauer unterschied, war es für Dr. Ferdinand nicht klar, ob da nicht die Swapo im Gefecht stand und ihren Gürtel schnallte.
Der Weg in das Namibia von morgen wurde mit Granaten freigeschossen, den beide Seiten mit riesigen Löchern vertrichterten und unpassierbar machten, dass es schwer war sich vorzustellen, welchen Weg die neue Mannschaft antreten würde, wenn die alte erstmal verschwunden war. Es gab so gut wie keinen Zweifel mehr, dass da ein Weg gefunden wird, der von Norden aus über die angolanische Grenze führt. Die südafrikanische Armee zog ihre schweren Waffen aus dem Süden Angolas zurück. Dr. Jonas Savimbi füllte diese Lücke mit seinen Truppen (UNITA - União Nacional da Independencia Total de Angola), die amerikanisch und südafrikanisch ausgerüstet waren, denen von Norden die Truppen des Präsidenten Eduardos dos Santas (MPLA - Movimento Popular de Libertação de Angola) und die Kampfeinheiten der Swapo (South-West Africa People’s Organisation) entgegentraten, die mit sowjetischen Waffen und ostdeutschem Gerät ausgerüstet waren und von MIG's mit kubanischen Piloten aus der Luft unterstützt wurden.
Dr. Ferdinand und sein philippinischer Kollege hatten ihre Stühle im Untersuchungsraum 4 eingenommen und begannen mit der Durchsicht der Patienten, die aus den umliegenden Kliniken geschickt und aus den weiter entfernten Hospitälern mit Fahrzeugen gebracht