Der Weg nach Afrika - Teil4. Helmut Lauschke

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Der Weg nach Afrika - Teil4 - Helmut Lauschke


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Was dann jenseits war, das blieb dem Auge ganz und nicht viel weniger dem Verstand verborgen, je höher er den Horizont setzte, wo dann die Vernunft kommen musste, um dem Nachgrübeln über die unsichtbaren Dinge ein Ende zu machen. Er hörte das sonntägliche Bimmeln des Glöckchens vom Türmchen der weiss gestrichenen Burenkirche, wenig später die noch verbliebene Burengemeinde mit ihrem Gesang der tonalen Entgleisungen. Dem Gesang fehlte die Fülle der Herzen. Die verbliebenen Stimmen waren unsicher und schüttern, fragend und zweifelnd. Da musste ein Machtwort gesprochen werden ganz ohne Zweifel, um die Restgemeinde auf die Füsse zu stellen. So war es denn auch still, wo der Dominee zum rechten Wort gefordert war, die Reparaturarbeit an den Seelen vorzunehmen, sich mit aller Kraft für den inneren Wiederaufbau einzusetzen und mit der Wortfestigkeit des Reformators die Füsse auf den Boden der Gemeinde zurückzubringen.

      Dr. Ferdinand nahm den Telefonhörer ab, doch am andern Ende blieb es totenstill. Er stellte sich unter die Brause und wusch das Klebrige der Nacht mit der aufgesetzten Schicht des vergangenen Tages von der Haut. Er wollte frisch sein, um sich der Herausforderung des Sonntags zu stellen, der ihm, wie die meisten Sonntage, die Last des Alleinseins aufdrückte. Er zog sich frische Sachen an, stopfte das verschwitzte Alte in die halbautomatische Waschmaschine und stellte sie an. Er machte sich einen stärkeren Kaffee, um stärker wach zu sein. So tat er statt zwei drei Teelöffel Instantkaffee mit der Chicoreeverstärkung in die Tasse, goss kochendes Wasser darüber bis zum obersten Rand und verkleckerte einen Teil beim Einrühren des Zuckers von zwei gehäuften Teelöffeln. Er genoss den Morgenkaffee zusammen mit der Zigarette und versuchte über etwas nachzudenken, was mit dem Hospital nichts zu tun hatte. Da fiel ihm aber kaum was ein, nein, es fiel ihm überhaupt nichts ein. So nahm er sich das Blatt der vergangenen Nacht vom Verandatisch und versuchte beim Überfliegen des Geschriebenen sich an irgend etwas festzuhalten. Man kann einfach nicht aus dieser Welt entfliehen, das stiess ihm beim ersten Überfliegen auf. So überflog er das Blatt einige Male von oben nach unten, von unten nach oben, von der Mitte nach oben und unten und hielt das Blatt hoch gegen das Licht, ob er dahinter noch etwas finden konnte. Natürlich konnte er dahinter nichts finden, und so stellte er betroffen fest, dass er beim kreuz und queren Überfliegen und Dahinterschauen des Geschriebenen eben alles andere, aber kein Überflieger war. Er hätte eher ein Taucher sein können, der sich in den Wasserbäuchen der Kinder festgetaucht hatte, weshalb es für ihn schwer war, von dieser Art des Tauchens loszukommen und wie ein Bergsteiger Höhen zu erklettern, oder auf halber Höhe zumindest ein Gelände zu erreichen, wo es kein Wasser in den Bäuchen gab. Er konnte eben nicht wertfrei denken, ein Manko, das ihm den Denkweg zu den Gipfeln der Philosophie versperrte und ihm selbst den Zugang zu den höheren Etagen der Philosophieschulen verwehren würde.

      So dachte er wasserbäuchig, bezugsorientiert nach, ob er dem Herrn, dem er in der vergangenen Nacht einen Brief geschrieben hatte, nachdem ihn Martin Buber durch seinen achten Psalm dazu ermuntert, ja aufgeregt hatte, einen Vorwurf machen sollte, dass er nicht mehr so mächtig aus den Mündern der Kinder spricht, wie er es einst getan hatte, weil es eben die Kinder mit den Wasserbäuchen gibt, die hilflos dastanden, mit grossen Augen nach oben blickten und vergebens hofften. Auch wenn sie es nicht sagen konnten, sie hofften auf ihn. Warum dann vergebens? Der andere Punkt war die ewige Folterei, als könnten die Menschen ohne die Folter nicht leben, als seien sie folterabhängig und foltersüchtig, wie Menschen von Nikotin, Alkohol und anderen Drogen abhängig, ja süchtig danach sind. Nur ist die Folterabhängigkeit und die Sucht des Folterns die grässlichste Art der Abhängigkeiten und Suchten, weil das Verspannen des Menschen in der Folter nicht nur fürchterlich weh tut, sondern dem Opfer da der Stolz gebrochen und dem Folterer da die Würde genommen wird, und beides auf Lebenszeit, weil die menschenwiderwärtige Schändung beide betrifft, den Geschändeten und die Vergewaltigte mit dem Zusammenbruch des Stolzes, den Schänder und Vergewaltiger durch den Verlust der Würde. Da fragte Dr. Ferdinand den Herrn, ob er die Krone der Ehre dem Schänder wie dem Geschändeten gleichermassen aufgesetzt habe und weiter aufsetzt. Er fragte ihn am Schluss seines Briefes, wo denn sein grosser Name geblieben, wo sein Heiligtum hingeraten sei, wenn Menschen das Verwerflichste mit seinem Namen tun.

      Die Frage, ob es nötig ist, dass es Kinder mit Wasserbäuchen und dünnen, faltigen Hälsen gibt, die mit grossen Augen blicken und dennoch vergebens hoffen, und die Tatsache der anhaltenden Folterei, diese beiden Punkte wollte er in die Vorlage einbringen, aus der er dem Herrn den Vorwurf des Schweigens machen will. Deshalb den Schweigevorwurf, weil er den Herrn für mächtiger als die Menschen hält und sich nicht vorstellen wollte, dass der Herr diesem Wahnsinn zustimmt, wie es die Menschen tun, die da schweigen, und die so etwas Abscheuliches und Untierisches zur totalen Erniedrigung des Menschen erfunden haben, oder sich dieses schmerzlich traurige Schauspiel der Wesen mit der aufgesetzten Krone der Ehre ansehen, ohne ein Wort dazu zu sagen, anstatt mit seinem Schwert da einmal mächtig reinzuschlagen und mit den Untieren ein und für alle Mal aufzuräumen. Er sass mit der zweiten Tasse Kaffee und der zweiten Zigarette da und dachte über seinen Nachtbrief an den Herrn nach, ob er in dem Brief unhöflich oder gar ungezogen gewesen war. Das wollte er nicht, denn dafür war ihm der Herr zu gross und teuer. Es waren die nackten Tatsachen, denen er zur Verdeutlichung kein falsches Kostüm überhängen wollte, um da nichts zu vertuschen, weil erst die Tatsachen in ihrer Nacktheit die Wahrheit voll ans Licht bringen und das Unvorstellbare der Schändung zeigen, wo nackt nichts zu vertuschen ist. Er bat um Verständnis, dass sein Brief den Tatsachen entsprach und nicht übertrieben war, dass er ihn in seiner Muttersprache verfasste, weil er es anders nicht konnte, und dass das Geschriebene so wahr war, wie das Nacktsein nackt sein konnte. Er bat den Herrn, dem täglich sicherlich unzählige Notrufe und -briefe zugingen, den Brief zu lesen (und nicht den Notrufbeanworter laufen zu lassen). Der Absender stellte sich auf eine Wartezeit ein, da sich der Herr noch nie zu einer niedrigen Eile herabgelassen hatte und sich die nackten Tatsachen gründlich durch den Kopf gehen lassen sollte. Der Breifschreiber hoffte, dass sein Brief nicht unterwegs verlorenging, was hier auf dem Postwege kleiner Entfernungen häufig der Fall war. Der Brief an den Herrn hatte einen weiten Weg zurückzulegen. Er hätte den Brief aus Sicherheitsgründen per e-mail an: [email protected] schicken können, was auch schneller gegangen wäre, was er aber nicht tat, weil der Brief handgeschrieben sein sollte mit seiner persönlichen Unterschrift, dem er dann noch zwei Zeichnungen hinzugefügt hatte, eine von einem dreijährigen Jungen mit einem extrem ausladenden Wasserbauch auf ganz dünnen Stöckchenbeinen und die andere von einer Folterszene, wo drei Männer mit Peitschen auf eine junge Frau mit entblösstem Körper einschlugen, sie dann alle drei vergewaltigten und schliesslich erschlugen, weil sie nicht reden wollte, um ihren Mann bei der Feldarbeit nicht zu gefährden.

      Den Brief mit den beiden Zeichnungen per Luftpost und eingeschrieben zu schicken, da machte das Postamt nicht mit, weil der Absender die Postfachnummer nicht auf dem Briefumschlag angegeben hatte und der Umschlag viel zu klein war, um die erforderlichen Briefmarken aufzukleben. Selbst mit einem grösseren Umschlag und Angabe der Postfachnummer hätte es die Post nicht getan, die sich für diese Art der Fernzustellung für nicht zuständig erklärte, weil sie Luftpostbriefe soweit hoch nicht beförderte, die über die Ionosphäre hinausgingen, auch wenn sie eingeschrieben waren. Da war die Technik eben noch weit zurück, dachte Dr. Ferdinand, der da eine Marktlücke sah, wo die Post bei der Grosszahl der Briefe an den Herrn allein durch den Verkauf der Briefmarken (mit den jeweiligen, ernst dreinblickenden Präsidentenköpfen) ein gutes Geschäft machen könnte.

      Dr. Ferdinand machte einen kurzen Rundgang durchs Dorf, ging an den bewohnten Häusern mit den gepflegten Vorgärten und den leerstehenden Häusern mit den verkommenen Vorgärten vorbei, sah Männer in den Einfahrten ihre Autos polieren, andere unter geöffneten Motorhauben vornüber gebeugt stehen, die da mit Schlüsseln hantierten und mit Lappen wischten, sah Hunde vor den Autos und vor Hauseingängen liegen, hörte laute und leise Stimmen aus den Häusern kommen und roch den scharf gewürzten Dunst sonntäglicher Braten. So waren die Strassen, wie an jedem Sonntag, so gut wie menschenleer, auf die die Sonne brannte. Auch in den Militärcamps war es still, wo sich ausser den Wachhabenden an den Einfahrten nichts zu bewegen schien. So beendete Dr. Ferdinand seinen Rundgang, der keine Stunde dauerte, streifte die Sandalen in der Veranda ab und machte sich in der Küche eine Tasse Kaffee, zu der er zwei Scheiben Brot mit Orangenmarmelade ass. Dann prüfte er das Telefon aufs Lebenszeichen, das es noch nicht tat, und zündete sich eine Zigarette an, um die Ruhe zu geniessen, ohne an die


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