Der Weg nach Afrika. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.bemühte sich erneut mit feuchten Kompressen den Sand von den Schlingen und dem Netz zu bekommen, was bei den Schlingen nun weitgehend gelang, am Netz dagegen erfolglos blieb. Bei der dritten Inspektion, die keine neuen Erkenntnisse brachte, wurde die Bauchhöhle mit Kochsalzlösung gespült, die Flüssigkeit nach mehrmaligem Hin-und- her-schieben des gesamten Dünndarms abgesaugt und der Bauchraum mit einer Kompresse getrocknet. Beim Bauchdeckenverschluss stellte das vom Horn eingetriebene Loch ein örtliches Problem dar, das flachbogig ausgeschnitten wurde, sodass die drei Schichten aus äusserem Bauchfellblatt, innerem und äusserem Muskelblatt und Haut durch eine spezielle Nahttechnik sicher verschlossen wurden. Beim Aufkleben des Wundverbandes dankte Dr. Ferdinand allen für die gute Zusammenarbeit, was die Schwestern und Dr. Nestor freundlich erwiderten. Es herrschte eben ein guter Geist im Op bei allem Ungeist draussen ausserhalb des Hospitals. Das stimmte Dr. Ferdinand zufrieden, er empfand Dankbarkeit für die menschliche Atmosphäre, in der hier gearbeitet worden war, die allen zugute kam und den Patienten am besten half. Er hatte sich umgezogen und wartete im Teeraum auf Dr. Nestor, der durchschwitzt, aber nicht weniger zufrieden war und beim Umkleiden gute Worte für die Art der Zusammenarbeit fand, die er leider als eine Ausnahme bezeichnete, weil die jungen Kollegen in Uniform es zu oft am nötigen Respekt vor den Menschen der schwarzen Haufarbe fehlen liessen. Die Schwestern hätten oft über deren Arroganz und Unhöflichkeit bei ihm geklagt. Sie waren sich darin einig, dass der Weggang des Dr. Hutman, der den Namen 'der Leutnant des Teufels' von Dr. Ferdinand verliehen bekam, eine atmosphärische Verbesserung brachte, weil der sich durch sein ungezogenes Benehmen bei allen Schwestern unbeliebt gemacht hatte. "Der Arzt in Uniform, das geht eben nicht zusammen, weil es Misstrauen bei den Menschen schürt", meinte Dr. Nestor. Das verstand Dr. Ferdinand gut, weil er bei solchen 'Ärzten' an Dr. Mengele und Konsorten in ihren geschniegelten SS-Uniformen dachte, die den Teufel mit seinen sadistisch unmenschlichen Grausamkeiten an Hunderttausenden hilfloser Männer und Frauen, Greisen und Kinder praktizierten.
Vom 'theatre', wo die beiden Doktoren die Gedanken zur Zeit offen austauschten, das Wort `Faschismus' von Dr. Ferdinand in das Ostermontaggespräch mit der ergänzenden Bemerkung eingebracht wurde, dass er so ein aufgesetztes, rücksichtsloses und menschenverachtendes System das zweite Mal, nun in der burischen Version erlebe, waren sich beide darin einig, dass sich in der Geschichte der Menschheit ein Unrechtssystem noch nie auf Dauer hätte halten können, weil es im Kern verrottet und als schmarotzender Parasit von innen heraus verfault sei. Ein Zeitplan, wann die Fäulnis total sei, und so ein Gewächs im eigenen Moder erstickt, liess sich allerdings nur schätzen, denn immer neue Ableger der parasitären Absicht überzogen den blutig verwüsteten Boden, wenn auch mit schwindender Kraft, weil es zum Ranken immer weniger, aber zum Kriechen noch reichte. Sie wünschten sich einen ruhigen Tag, und Dr. Ferdinand trug dem Kollegen die Ostergrüsse an seine Familie auf. Er ging noch einmal zum Entbindungssaal, um sicher zu sein, dass die jungen Frauen auf natürlichem Wege ihre Kinder zur Welt zu bringen. Dann machte er seine Runde zum 'Outpatient department', das aufgeräumt war, wo zur Zeit keine Patienten sassen, denen eine Wunde vernäht oder ein gebrochener Knochen gerichtet und eingegipst werden musste. Es war Mittagszeit, und Dr. Ferdinand liess sich in der Kantine vom freundlichen Wärter im fast blütenweissen Küchendress das Essen an der Durchreiche auf den Teller geben. Es gab einen gekochten Hühnerschenkel mit Reis, der mit der scharfen Chilisosseüberzogen war, und die obligaten, grünschaligen Pumpkinhälften mit dem löffelweich gekochten, gelben Fruchtfleisch. Er sass allein im Essraum und hatte sich daran gewöhnt, dass die meisten Kollegen an Sonn- und Feiertagen das Mittagessen mit ihren Frauen in ihren privaten Quartieren einnahmen, wo es, weil gemeinsam, dann auch besser schmeckte.
Der Küchenmann brachte noch eine volle Kanne frisch gebrühten Tee, aus dem die acht Teebeutelanhänger mit den kleinen Kärtchen am Ende heraushingen, auf denen die Teemarke 'Rooibos' (Rotbusch) zu lesen war, einem Tee aus Borboniablättern, der in Südafrika hergestellt und wegen seines herben Buschgeschmacks auch hier von den Menschen gern getrunken wurde. Als der freundliche Herr in der Teeküche die Töpfe, Schüsseln und Teller in den Küchenwagen zurückstellte und dabei mit den grossen Schöpflöffeln und den kleinen Essbestecken klapperte, wurde das Ende der Mittagszeit hörbar, dass Dr. Ferdinand mit einem Gruss die Kantine verliess und sich auf den Rückweg machte, den er durch die OPD nahm, um sich zu vergewissern, dass sich dort keine Patienten eingefunden hatten, die einer chirurgischen Versorgung bedurften.
So war es, es sassen lediglich zwei Mütter dort, die ihre Kinder mit Fieber und Husten auf ihren Schössen hielten, um vom diensthabenden Kollegen der Kinderheilkunde gesehen zu werden, der die eine Mutter bereits eine Stunde und die andere zehn Minuten weniger warten liess. Die lange Wartezeit verwunderte Dr. Ferdinand, weil er wusste, dass der schwarze Kollege den Dienst am Kinde hatte, der ein fertiger Kinderarzt nach der Spezialausbildung in Südafrika war. Es war ein Spazierengang, den er sich für den Rückweg vorgenommen hatte, ohne deshalb einen Umweg zu machen, weil er mit einem Anruf aus dem Hospital rechnen musste. So ging Dr. Ferdinand den kürzeren Weg zwischen dem ausgerollten Stacheldraht und zerfledderten Lattenzaun an den ramponierten Bäumen mit den abgeschlagenen Ästen links vom Weg und den hochgestelzten Blockhäusern der Kollegen in Uniform rechts vom Weg vorbei, wo aus den Türritzen des vierten Blockhauses, das einst Dr. Hutman für sich in Beschlag genommen hatte, der würzige Duft eines leckeren Bratens herab bis auf den von Aststümpfen verquerten Weg drang, und Dr. Ferdinand sich in die Physiologie des bedingten Reflexes (nach dem Petersburger Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow) vertiefte, als ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Die Wachhabenden an der Sperre zum Dorfeingang nahmen das vorgehaltene 'Permit' gelassen zur Kenntnis, als stünden sie mit offenen Augen bereits im Mittagsschlaf. Er setzte den Weg in Gedanken fort und trat dabei einige Male in tiefe Schlaglöcher, dass er sich einmal den rechten und zweimal den linken Fuss verknickte. Die Sandalen streifte er, wie üblich, in der Veranda ab, setzte sich in den ausgesessenen Sessel und legte die Beine auf den niedrigen Tisch, auf dem die nicht ausgetrunkene Tasse mit dem kalten Kaffee und die Untertasse mit den zwei ausgedrückten Zigaretten noch standen.
Er war noch in Gedanken, wenn er auch nicht wusste, wo er mit ihnen richtig war, und liess sie gewähren, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete die hochgelegten Füsse, fuhr mit beiden Händen über die Innen- und Aussenknöchel beider Fussgelenke, die ihm nach dem Verknicken der Füsse schmerzten. Er drückte auf die Knöchel und schloss eine Fraktur aus und eine Kapselzerrung ein, dass er sich über eine Blauverfärbung und Schwellung über den oberen Sprunggelenken nicht wundern sollte. Er hielt es sich vor, dass so etwas passiert, wenn man nicht alle Gedanken beisammen hat, und warf sich vor, dass das ja nicht das erste Mal war. Als würde sich im Computer etwas ‘verknoten’, was trotz der hochentwickelten Halbleitertechnik mit den zusammengesetzten Denkchips nicht zu lösen war, weil es an der rechten, elektronischen Steuerung fehlte, den Denkprozess in die richtige Richtung zu lenken und mit den Denksteinen das Gebäude am richtigen Platz zu errichten. Er legte sich der Füsse wegen ins Bett, weil ihm die Fussgelenke zunehmend schmerzten, und er eine leichte Schwellung über dem linken Fussgelenk mit der beginnenden Verfärbung der Haut über dem Aussenknöchel zu sehen glaubte. Da er sich vor den Mücken nicht sicher fühlte, zog er die Decke bis unters Kinn, auch wenn in diesem Augenblick keine vor seiner Nase herumtanzte oder hörbar im Raum herumschwirrte.
Dr. Ferdinand war eingeschlafen, als gegen fünf das Telefon läutete, er aus dem Bett sprang und beim Abnehmen des Hörers zunächst an einen Kaiserschnitt, dann an irgend etwas Chirurgisches, aber nicht an Dr. Lizette dachte, die ihn zum Abendessen in ihr Haus einlud. Ihre Stimme war weich, doch nicht ohne Bestimmtheit, und beides gefiel ihm an ihr. Er sagte ihr zu mit der Bemerkung, dass er auf Dienst sei, worauf sie den Optimismus herauskehrte und sagte, dass es im Hospital ruhig bleiben wird, und sie sich einen schönen Abend verspricht, weil auch ihr Mann sich freute und ihn kennenlernen wolle. Er bedankte sich für die Einladung, liess sich Strasse und Haus beschreiben und legte gedanklich geordnet den Hörer auf. Das war ein freundlicher Anstoss aus einer persönlichen Richtung, und Dr. Ferdinand freute sich darüber, weil es ihn aus dem ewigen Alleinsein riss, das ihm kräftig auf die Nerven ging. Er stieg unter die Brause und fühlte sich beim Abtrocknen so frisch und motiviert, dass er sich für ein kleines Gedicht stark genug fühlte, in dem er sagen wollte, dass es sich lohnt zu leben, weil es im Leben auch schöne Dinge gibt, die einen Menschen überraschen, der an vieles denkt, aber nicht an alles, der viel gewohnt ist, was längst noch nicht alles ist.
Er