Die Mensch-Erklärungsformel (Teil 3). K. Ostler
Читать онлайн книгу.der Mensch eine starke innere Kraft und ist energiegeladen, da die triebhafte Suche nach Identität (= der das tägliche Leben bestimmende Faktor), nicht aktiv ist und somit keine Energie in Ersatz- und Kompensationshandlungen gebunden und verbraucht wird. Energie wird freigesetzt und ist damit für andere Aufgaben vorhanden.
Zusammenfassend: Eine intakte, gesunde Identität ist die (nahezu) völlige Übereinstimmung mit den sich durch den menschlichen Bauplan ergebenden wesensbedingten Vorgaben. Der Mensch ist bzw. fühlt sich in diesen Momenten mit sich und seiner Ursächlichkeit identisch und ist angstfrei.
Instabile Identität – eine auf Ersatzhandlungen und Kompensationen aufgebaute Pseudo-Identität
Definition und Abgrenzung Ersatzhandlung und Kompensation Vorab müssen die Begriffe Ersatzhandlung und Kompensation, die sehr häufig im Buch verwendet werden und eine zentrale Bedeutung sowohl innerhalb der identitätsgemäßen Problematik wie im tagtäglichen Leben der Menschheit einnehmen, beleuchtet werden. Ersatzhandlung wird im Kontext mit der Psyche allgemein als eine Handlung angesehen, die an die Stelle der eigentlich gewollten bzw. laut menschlichen Bauplan vorgesehenen respektive benötigten tritt, wenn diese durch Verdrängung oder äußere Umstände nicht ausgeführt werden kann. Der Impuls und Antrieb für die originär gewollte Handlung wechselt zu einem anderen, häufig dem ursprünglichen Ziele nicht verwandten Ersatzziel, das entsprechende Ersatzbefriedigung bringen soll. Kompensation wird als Ausgleich oder Ersatz eines Defizits und Mangels (real existierend oder nur vermeintlich) in einen anderen Lebens- oder Verhaltensbereich (Ausweichen) oder durch andere Fähigkeiten definiert. Alternativ, und im identitätsgemäßen Kontext sehr passend, kann Kompensation überdies als Trostpflaster, Entschädigung, Gegengewicht, Wiedergutmachung, Neutralisierung (eines Mangels) und Genugtuung bezeichnet werden.
Im Zusammenhang mit der identitätsgemäßen Problematik müssen die Begriffe erweitert werden, da sie als Reaktion auf Frustrationen zu sehen sind, die durch eine Verletzung der lebensbestätigenden Erfüllungsmuster im Kindesalter entstehen. Diese Erfüllungsmuster müssen in einem laut menschlichen Bauplan vorgegebenen Regelprozess ablaufen.
Ist derlei nicht der Fall, dann bauen sich eine diesbezügliche lebenslange Sehnsucht (bildlich: je nach Ausmaß der Frustration ein mehr oder minder großes Hungergefühl) und der Versuch auf, alternativ gestillt zu werden. Jene nicht aus freien Stücken initiierte und in der Regel unbewusste Suche nach Gleichartig- und Wertigkeit des ursprünglichen Grundbedürfnisses führt zur Ersatzhandlung und Kompensation.
Ersatz- und Kompensationshandlungen sind demnach Zwangshandlungen.
Weil Ersatzhandlungen und Kompensationen ein Hilfsinstrument des metaphysischen Prinzips sind und ursächlich die Aufgabe haben, die sich aus der Nichtbefriedigung der Grundbedürfnisse entwickelten Disparitäten, Probleme und Widersprüche zu reduzieren und bestmöglich zu substituieren, um so die generelle Funktionsfähigkeit des Menschen zu erhalten, dienen sie bis zu einem gewissen Grad dem Überlebenstrieb (Elemente des Überlebenstriebes).
Psychisch motivierte Ersatzhandlungen und Kompensationen können zwar jeden Lebensbereich betreffen, ob privater, zwischenmenschlicher, partnerschaftlicher, freizeitgemäßer, sexueller, beruflicher, wirtschaftlicher, politischer, kultureller, karikativer, philanthropischer, altruistischer, zwischenstaatlicher oder religiöser Natur, lassen sich aber alle im Kern auf mangelnde Grundbedürfniserfüllungen und/oder traumatische Erlebnisse in der Kindheit zurückführen.
Da eine Ersatzhandlung und Kompensation die ursprünglich zugrunde liegende, in der Kindheit entstandene Problematik niemals gleichwertig ersetzen und damit beheben kann, bleibt das psychische Defizit weiterhin virulent.
Infolge des gelegten Impetus baut sich im Menschen eine Parallelität der Lebenswirklichkeiten auf (siehe dazu ursächliche und tatsächliche Lebenswirklichkeit), die viel Energie verbraucht, auf Dauer das Leben belastet und zur mehr oder minder starken Beeinträchtigung der Lebensqualität führt. Der Mensch lebt – unbewusst – in einer Parallelwelt.
Ein befriedigendes und von innerer Ruhe geprägtes Leben ist so nicht möglich.
Gerade bei traumatischen Erlebnissen oder sehr intensiven Verletzungen der psychischen Grundbedürfnisse kann sinnbildlich von den Geistern aus der Kinderstube bzw. Kindheit gesprochen werden, die den Betroffenen ein Leben lang immer wieder heimsuchen, ob in Form von Albträumen, vielgestaltigsten Angstzuständen, Auto- und Fremdaggressionen und sonstiger psychischer Reaktionsformen. Die Geister entsprechen dem nach wie vor existierenden Stimulus des ursächlichen, nicht befriedigten Grundbedürfnisses.
Die spezielle Ersatz-/Kompensationshandlungsstruktur eines Menschen kann als individuelle Überlebensstrategie bezeichnet werden.
Ersatzhandlungen und Kompensationen können, wie erwähnt, in jedem Lebensbereich vorkommen, unterscheiden sich aber in ihrem Intensitätsgrad bzw. in ihrer Wertigkeit.
Je stärker ausgeprägt die der Ersatzhandlung zugrunde liegende psychische Störung, ergo je größer das vorhandene psychische Defizit, desto tief verwurzelter der Stimulus, desto dringlicher die Triebkraft, desto höher der Energieeinsatz, desto massiver muss der Ersatzbefriedigungsgehalt sein (um eine Wirkung erzielen zu können) und desto beträchtlicher ist in Folge das Ausmaß bzw. die Dimension der Ersatzhandlung und Kompensation.
Eine Nebenbemerkung: Realistische Zielsetzung einer psychotherapeutischen Behandlung im Falle einer tiefgründigen Persönlichkeitsproblematik, die zwangsläufig jeweilige psychische Reaktionsformen mit korrespondierenden Ersatz- und Kompensationshandlungen hervorruft, ist die Ablösung von die Person und ebenfalls das Umfeld belastenden Verhaltensweisen in gemilderte und moderate, um somit den Alltag für den Leidtragenden wie ihre soziale Umgebung annehmbarer und positiver werden lassen.
Die Systematik ist ähnlich wie bei einer physischen Krankheit, die zwar nicht gänzlich heilbar ist, aber deren Symptome sich eindämmen und erträglicher gestalten lassen.
Zum Beispiel: In Folge einer Behandlung nimmt der bestehende latente Schmerz ab und deshalb kann das bisherige, hoch dosierte und stark schmerzstillende Medikament mit vielen und erheblichen Nebenwirkungen durch eines ersetzt werden, welches sowohl niedriger dosiert wie besser verträglich ist.
Ersatzhandlungen und Kompensationen sind zur sogenannten allgegenwärtigen Normalität geworden und dadurch werden mehrere Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung eine erhebliche Relevanz in der Beurteilung des vorhandenen Zustandes des einzelnen Menschen wie der Gesellschaft im Ganzen hat.
>Wann muss von einer Ersatzhandlung und wann von einer natürlichen Handlung gesprochen werden? >Wie ist dies zu erkennen? >Macht es denn überhaupt einen Unterschied, ob es um eine natürliche oder eine ersatzgemäße Handlung geht, vor allem, wenn das – offensichtliche - Ergebnis praktisch identisch ist? >Wenn ja, worin ist dieser Unterschied zu sehen und welche Bedeutung hat dies für den Betroffenen und für die Gesellschaft? Vorab muss die natürliche Handlung respektive das natürliche Verhalten definiert und damit abgegrenzt werden. Die natürlich initiierte Handlung basiert weitgehend auf der freien Entscheidung, etwas Bestimmtes tun zu wollen und nicht, wenn auch unbewusst, tun zu müssen. Der Mensch hat also die Möglichkeit der freien Wahl, die Handlung dient dem Selbst- und nicht irgendeinem (determinativen) Fremdzweck. Da die Entscheidung nicht auf einem zu kompensierenden psychischen Defizit und dem korrelierenden psychischen Druck basiert, ist die Person von der Aufrechterhaltung und dem Ergebnis der Handlung (Befriedigung) nicht grundsätzlich abhängig und dadurch nicht in ihrer identitätsgemäßen Stabilität und generellen Funktionsfähigkeit gefährdet. Der Mensch kann aus der natürlichen Handlung im Vergleich zur Ersatzhandlung nachhaltig Befriedigung ziehen, nach Beendigung wirklich mit der Handlung abschließen und sich Neuem zuwenden, ohne im Teufelskreis der laufend notwendigen Wiederholungen der Ersatzhandlungen mit ihrem geringen Befriedigungspotenzial gefangen zu werden.
Aus welchen Quellen sich der Impetus für entsprechendes Verhalten und Handeln speist, hat demnach große Auswirkung auf die Ausprägung einer Handlung oder eines Verhaltens, auf die innere Verfassung des Menschen und damit auch auf deren gesellschaftliche Ausstrahlung.
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