Die Mensch-Erklärungsformel (Teil 3). K. Ostler
Читать онлайн книгу.vollkommen gleich ist.
Ein Beispiel wäre die Berufswahl, die oftmals auf identitätsgemäßen Hintergründen beruht, weil über die mit dem Berufsbild verbundenen Attributen (Stichwort: gesellschaftliche Aufladung) besondere identitätsstützende (Ersatz) Befriedigungen generiert werden können.
Hier sei der Arzt genannt, der nicht nur Menschen helfen und ein gehobenes wirtschaftliches Niveau erreichen mag, sondern zudem gesellschaftliche Anerkennung, Prestige, Status (überspitzt Halbgott in Weiß) und eine gewisse Macht. Für den Patienten spielt es in der Regel keine Rolle, welche Motive der Arzt für seine Berufswahl hatte, Hauptsache, die Behandlung ist gut und erfolgreich. Erst wenn der Arzt über das Ziel der eigentlichen Behandlung hinausschießen und beispielsweise entgegen dem Arztethos aufgrund einer (unverantwortlichen) Profilierungssucht und eines damit verbundenen Überehrgeizes nicht zugelassene Behandlungsmethoden oder Arzneien anwenden würde, bekäme der identitätsgemäße Hintergrund der Berufswahl für den Patienten eine Relevanz.
Ein weiteres Beispiel wäre der Philanthrop, der sozial Benachteiligte und Bedürftige unterstützt und durch sein Tun bewusst oder unbewusst Bewunderung, Lob, Achtung, Ehrung und Ansehen erreichen will. Hier ist es dem Unterstützten und ebenfalls der Gesellschaft gleichgültig, welche Motive der Philanthrop für sein Handeln ursächlich hat, vielleicht ist nur die Art und Weise, wie er das verteilte Geld ursprünglich erworben hat, ein Thema.
Oder ein Sozialarbeiter, der Entwicklungshilfe in der sogenannten dritten Welt leistet und armen, entrechteten Menschen zur Seite steht. Ob diese Arbeit eigentlich einem identitätsgemäßen Kompensationsbedürfnis nach Anerkennung und Akzeptanz entsprungen ist, interessiert dem Hilfsbedürftigen nachvollziehbarerweise nicht.
Oder der Politiker, der sich nachdrücklich für die Bürger, deren Belange und die gesellschaftliche Gestaltung einsetzt. Ob dieses Engagement nur von der hehren Verantwortung der Gesellschaft gegenüber getragen wird (wie dies in der Regel vorgegeben wird) oder tiefgründig das Bedürfnis nach Macht, Einfluss, Anerkennung und auch Bekanntheit/Prominenz verfolgt wird, interessiert die Menschen erst, wenn es zu Machtmissbrauch und Korruption kommt.
Dies sind Beispiele für Fälle, bei denen der gegenwärtige identitätsgemäße Anlass für eine Ersatzhandlung für die Außenwelt weder eine negative Bedeutung hat noch einen belastenden Faktor darstellt, hingegen oftmals sogar gegenteilig wirkt, indem die Gesellschaft bzw. konkrete Gruppen von dem psychisch-defizitären Antrieb und den daraus resultierenden Handlungen profitieren.
Es darf aber nicht der Fehler der Verallgemeinerung gemacht werden, da sehr oft die Art und Ausprägung der Ersatzhandlung und Kompensation zulasten anderer Menschen, anderer Gruppierungen, der Gesamtgesellschaft und überdies des Betroffenen selbst gehen.
Ein Beispiel wäre gewalttätiges und/oder kriminelles Verhalten, das nahezu immer eine Ersatz- und Kompensationshandlung ist (siehe Kapitel „Entlarvung der Lebenswirklichkeit“, Ursache der Kriminalität). Deren leidtragende Empfänger haben die schädlichen Auswirkungen zu tragen und deshalb ist für sie die Ursache für das jeweilige Handeln zwangsläufig von großer Relevanz.
Auch ist es für die Bekämpfung und Präventivmaßnahmen wichtig, die tatsächliche Ursache und den Hintergrund für eine gesellschaftsschädigende Handlung zu kennen, um richtige Schritte bei der Aufarbeitung setzen zu können und sich nicht nur in symptomgemäßer Kosmetik zu verlieren.
Allgemein beschreibt die angesprochene Ausprägung bzw. Ausbildung einer Handlung, > wie weit, wie intensiv oder sogar exzessiv sie betrieben wird, > ob sie (zumindest in gewissem Ausmaß) von Vernunft und Verantwortungsbewusstsein getragen wird oder durch Unverantwortlichkeit, vordergründiger Gedankenlosigkeit und in der Konsequenz schädlichen Auswüchsen gekennzeichnet ist, > ob sie demnach mit wichtigen, weil nicht zu Problemen oder zerstörerischen Szenarien führenden, Hemmschwellen versehen ist oder sogar Handlungen deshalb von vornherein ausschließt (präventiver Schutzcharakter), weil diese der eigenen Person, der Gesellschaft und der Natur nicht zuzumuten wären oder > ob sie aufgrund des psychisch-defizitären Motives und der damit verbundenen zwangsläufigen Instrumentalisierung der Ratio keiner oder nur einer eingeschränkten Regulierung unterliegt. Das Verhalten von Menschen, die erheblich psychisch gestört sind, mutet oft wie fremdgesteuert an, wobei diese Fremdsteuerung nicht nur in der Instrumentalisierung der Ratio durch die Psyche begründet ist, sondern ebenfalls in der Instrumentalisierung des ursächlichen psychischen Profils vom starken Impetus für Ersatzhandlungen, der aus der psychischen Schädigung hervorgegangen ist. Der wirkliche Zugang zu diesen Menschen ist verwehrt.
Natürlich entsprungene Handlungen haben einen korrektiven, selbstregulativen, reflektierenden und sozialen Charakter, u.a. auch aufgrund der funktionierenden rationalen Kontrolle und eines nicht existenten, zwanghaften, unkontrollierbaren und nach ständiger Befriedigung verlangenden bzw. gierenden Antrieb, der in gewisser Weise ein Eigenleben führt (Parallelität der Lebenswirklichkeiten).
Bei großen, größeren, erheblichen bis extremen psychischen Defiziten und Problemen/Störungen wegen mangelnder Grundbedürfniserfüllungen in der Kindheit muss der Intensitätsgrad der korrelierenden Ersatzhandlung bezüglich der Häufigkeit (Frequenz) wie der Qualität hoch bis sehr hoch sein, um ein ausreichendes Ersatzbefriedigungsniveau erreichen und überdies erhalten zu können.
In jedem Fall steht das Ausmaß der Ersatzhandlung in direkten Kontext zum Ausmaß der psychischen Schädigung. Die Dosierung einer Ersatzhandlung ist demnach abhängig vom Grad der Nicht-Bedürfniserfüllung und der korrespondierenden Frustration. Ist die Entwertung des Menschen sehr hoch, dann ist folglich der Umfang der Ersatzhandlung/Kompensation sehr hoch und umgekehrt.
Und genau hier liegen sowohl die Gefahr und der wesentliche Unterschied einer Ersatz- im Vergleich zu einer natürlichen Handlung wie auch der Grund, weshalb der Ansatz nicht mehr greift, dass der Anlass für eine Ersatzhandlung unbedeutend ist.
Da einerseits mit einer Ersatzhandlung und Kompensation niemals die angestrebte und psychisch notwendige Gleichartigkeit mit den ursprünglichen Grundbedürfniserfüllungen erlangt werden kann (z. B. kann weder ein Partner noch starker Konsum die nicht erlebte Geborgenheit in der Kindheit ersetzen) und das Grundbedürfnis und folglich der diesbezügliche Stimulus noch – unauslöschlich – vorhanden sind, andererseits der Befriedigungsfaktor bzw. -wert einer Ersatzhandlung angesichts des Gewöhnungs-/Abnutzungseffektes automatisch an Wirkung verliert bzw. nachlässt, gerät der Betroffene in eine lebenslange mehrschichtige Abhängigkeit, die ständig viel Energie beansprucht.
Eine Kompensation ist in der Quintessenz ein Krafträuber (die eingesetzte Energie ist größer als das erzielte Ergebnis) und ein Zeichen für Getriebenheit, Druck, Unfreiheit, Instabilität, Labilität, Unselbstständigkeit und Determiniertheit, währenddessen eine natürliche Handlung eine Kraftquelle bildet, die für identitätsgemäßen Substanzaufbau oder Bestätigung, Freiheit, Sicherheit, Selbstständigkeit, Mündigkeit und Unabhängigkeit steht.
Es wird nicht nur für den Aufbau respektive die Strukturierung der Ersatzhandlung oder einer psychischen Reaktionsweise (z. B. Neurose, Psychose) Energie benötigt, hingegen genauso für die Aufrechterhaltung und Verteidigung des Zustandes, weil das bewerkstelligte Pseudogleichgewicht, auch wenn es sehr schwach sein sollte, erhalten werden soll (Stichwort: metaphysisches Prinzip).
Dies ist der Fall, da dieses trotz der Schwäche des Pseudogleichgewichts, auch aus der Gewohnheit heraus, eine gewisse Stabilität, Sicherheit und Berechenbarkeit vermittelt und deshalb die Angst vor dem Verlust besteht.
Die Folge dieses Faktums ist, dass für eine Veränderung der Situation die notwendige Energie fehlt und die psychische Störung weder gebessert noch überwunden werden kann.
Instabile bzw. Pseudo-Identität
Das Problem von Menschen mit instabiler, defizitärer Identität ist ihr im menschlichen System bedingtes Ausgeliefertsein und ihre damit verbundene Determinierung.
Diese Personen sind auf ständige, vielgestaltigste Zuwendungen anderer Menschen – direkt oder indirekt – oder/und auf andere Ersatzhandlungen respektive Kompensationen